«Demenz ist die Erkrankung des Loslassens» - demenzjournal.com

Mit Demenz leben

«Demenz ist die Erkrankung des Loslassens»

Schmerzvoll für alle Beteiligten: das Loslassen der gewohnten Persönlichkeit, von Fähigkeiten, Liebgewonnenem und ganz besonders von der Beziehung. Mara Truog

Es gibt kein Patentrezept zum Umgang mit Demenz. Hilfreicher ist, Betroffene, Angehörige und Fachpersonen direkt zu Wort kommen zu lassen. Der Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven» gibt fundiertes Wissen und Anregungen rund ums Thema.

«Demenz – Punkt. Es geht nicht um Richtig oder Falsch, es geht darum, dass wir uns nach dem Lesen dieses Buches für Gedanken öffnen, die uns bis anhin verborgen waren.» Die Geriaterin Dr. Irene Bopp-Kistler setzt sich für ein gutes Leben mit einer Demenz ein. Ihr Standardwerk «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven» ist nun in der dritten Auflage erschienen. Es ist ein Buch, das man sich auf den Nachttisch legen kann, um immer wieder darin zu stöbern. Wir haben einige Themen herausgepickt.

alzheimer.ch: Der von dir herausgegebene Sammelband deckt eine enorme Themenvielfalt ab. Was ist das Besondere daran?

Dr. Irene Bopp-Kistler: Es ist kein klassischer Ratgeber, sondern zeigt Erfahrungen. Ich wollte nicht über Angehörige und Betroffene schreiben, sondern mit ihnen. Deshalb finden sich in dem Buch neben Beiträgen von Fachpersonen auch Berichte von Angehörigen und Betroffenen.

Der Angehörige Christoph Harms beschreibt zum Beispiel, wie er eine neue Partnerschaft eingeht, obwohl er verheiratet ist. Er liebt seine Frau Heidi und ist für sie da, doch mit Regina kann er die Sehnsucht nach Partnerschaft stillen.

Das ist ein Tabuthema: Darf ich eine Beziehung eingehen, obwohl meine Partnerin mit Demenz noch lebt?

Christoph Harms hat sich für ein Sowohl-als-auch entschieden – und sein Umfeld ist gut damit klargekommen.

Ich weiss heute, dass ich zwei Frauen gleichzeitig lieben kann. Liebe ist keine absolute Grösse. Nicht wie ein Kuchen, von dem jeder ein Stück bekommt. Ich liebe Heidi nach wie vor. Und ich liebe Regina. Es gibt keine Verliererinnen. Nur Gewinnerinnen.

– Christoph Harms, demenz, S. 278

Hast du ein Lieblingskapitel?

Das Kapitel «Einmal nach Nirgendwo» und das Kapitel «Über das Loslassen». Demenz ist die Erkrankung des Loslassens. Das ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen am schmerzvollsten: das Loslassen der gewohnten Persönlichkeit, von Fähigkeiten, Liebgewonnenem und ganz besonders von der Beziehung. Pauline Boss nennt diesen Prozess «ambiguous loss», einen unbestimmten Verlust, der die Angehörigen begleitet.

Nach der Diagnose

Einmal nach nirgendwo

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Wie kann man damit umgehen?

Ich zitiere gern Pauline Boss und ihr Buch «Da und doch so fern», in dem es um das Zusammenleben mit demenzerkrankten Menschen geht. Man muss die uneindeutige Situation annehmen und Frieden mit der Situation schliessen. Dann kann man weitergehen.

Ein Buch, das man sich zum Schmökern auf den Nachttisch legen kann …rüffer & rub

Gestern kam ein Angehöriger in meine Sprechstunde. Er bedauerte, dass er mit seiner Frau nicht mehr reisen kann wie früher. Und dann sagte er: «Meine letzte Aufgabe in unserer Beziehung ist nun, dass ich meine Frau verstehe und auf einer anderen Ebene mit ihr kommuniziere. Diese Aufgabe erfüllt mich.»

Mich beeindruckt die Resilienz, die Angehörige entwickeln. Aber ich sage immer, sie dürfen auch schwach sein, sie dürfen verzweifeln. Oft kommen viele gegensätzliche Gefühle gleichzeitig auf: Wut, Trauer, Liebe, Hoffnung. «Eigentlich wäre ich froh, wenn mein Mann tot wäre, denn dann wäre ich frei. Aber ich liebe ihn so sehr und ich weiss nicht, was ich ohne ihn tun soll …» Wenn man diese Mechanismen versteht, kann man besser damit umgehen.

Wie kann man Angehörige am besten unterstützen?

Indem man zuhört und nachfragt: Was schmerzt am meisten? Was muss sich ändern, damit es besser geht? Einmal kam die Tochter eines Erkrankten zu mir. Sie empfand Scham bei dem Gedanken, dass ihre Mutter jeden Morgen den Vater duscht. Die Ehefrau hingegen erzählte mir: «Wir haben seit Jahren keine Sexualität mehr. Und wenn wir zusammen unter der Dusche stehen, massiert mich mein Mann und es ist wie früher. Das ist unsere Form von Zärtlichkeit».

Es geht nicht um die eigene Meinung, sondern darum herauszufinden, warum jemand leidet und was er sich wünscht.

Auch gut gemeinte Ratschläge helfen nicht immer …

Es geht ums Verstehen, und aus diesem Verstehen heraus kann man neue Wege finden. Manchmal heisst das auch, dass man sich trennt. Eine Demenzerkrankung kann eine Beziehung zerrütten oder eine zuvor nicht perfekte Beziehung aus der Bahn werfen. Ich hatte einen Fall, in der eine Jungbetroffene von ihrem Mann sehr verletzend behandelt wurde. Er klagte, wie viel er jetzt machen müsse und warf ihr jeden Fehltritt vor, zeigte keinerlei Verständnis und Mitgefühl. Ich schlug ihnen vor, getrennte Wege zu gehen, was sie dann auch taten.

Vom Schicksal zusammengeführt

Frontotemporale Demenz

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Du hast 25 Jahre lang Betroffene und Angehörige in der Memory Clinic im Stadtspital Zürich Waid begleitet. Was hast du mitgenommen von den Menschen, die zu dir in die Sprechstunde gekommen sind?

Dass manche die Diagnose nicht wahrhaben wollen. Sie hoffen, der Arzt würde sich irren. Ich habe aber auch Erstaunliches erlebt. Zum Beispiel dass Patienten bei der Diagnoseverkündung völlig unerwartet gesagt haben: «Das habe ich mir schon gedacht. Ich bin froh, dass ich es jetzt weiss.»

Viele können die Diagnose aber auch nicht einordnen, weil sie keine Krankheitseinsicht haben, was häufig Teil der Erkrankung ist.

Es hilft, wenn diese unheimlichen Symptome endlich einen Namen haben.

Dann muss man sich auch nicht mehr rechtfertigen und entschuldigen. Betroffene kommen ansonsten oft in eine Erklärungsnot. Was mich in meiner Arbeit auch immer wieder beeindruckt hat, ist die Demut, mit der Betroffene dieses Schicksal annehmen. Davon kann man viel lernen.

In «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven» melden sich viele an Demenz erkrankte Menschen zu Wort. Welche Geschichten sind dir unmittelbar in Erinnerung geblieben?

Sehr beeindruckt hat mich die Offenheit eines Juristen, der an Demenz erkrankte. Seine Psychiaterin, die ihn auf Depression behandelte, warnte mich, dass er sich im Falle einer Demenz suizidieren wolle. Ich sprach ihn darauf an, als ich ihm die Diagnose mitteilte. Er aber reagierte erleichtert: «Endlich weiss ich, warum alle über mich reden!» Er bat mich, ihn krankzuschreiben, und erklärte seinem Umfeld die Situation noch am selben Tag per Mail.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Offenheit kann sehr hilfreich sein und nimmt Druck weg. Ein anderes Kapitel stammt von Rainer Diederichs, der 2022 als Betroffener am Demenz Meet Zürich war: «Humor ist meine beste Medizin – Alzrainer berichtet».

Rainer ist ein gewitzter, geistreicher Mensch. Er hat die Zentralbibliothek Zürich weiterentwickelt, engagierte sich in Vereinen und Literaturgesellschaften, war Lehrbeauftragter an der Universität Zürich. Die Diagnose Alzheimer versucht er mit Humor zu meistern. Sorgen macht er sich nicht so sehr um sich selbst, sondern vor allem um seine Frau, die fürchtet, den Mann zu verlieren, den sie vor 50 Jahren kennengelernt hat.

Statt den Kopf hängen zu lassen, versuche ich humorvoll, meine liebe Frau aufzuheitern, so wenn ich ihr gestehe: «Ich bin noch nicht ganz blöd, weil ich dich doch liebe.» Auch die Umwandlung von Alzheimer zu Alzrainer hat sie erheitert. So merkt sie, ihr Mann ist ein sprachlicher Schelm geblieben, der es mit Erich Kästner hält: «Humor ist der Regenschirm des Weisen.»

– Rainer Diederichs, demenz, S. 85

Das Buch ist thematisch sehr breit. Deshalb möchte ich gern deine Assoziation zu drei ausgewählten Begriffen hören. Der erste Begriff ist: Angst.

Angst ist die ständige Begleiterin von Betroffenen und Angehörigen: Wie sieht die Zukunft aus? Einerseits die Zukunft der Beziehung, aber auch die finanzielle Zukunft, denn Demenz kann arm machen.

demenzwiki

Angst

Angst ist ein häufiges Symptom bei Demenz. Nähe, Wertschätzung, Validation, Aromatherapie und weitere Formen von Zuwendung können die Angst lindern. weiterlesen

Auch «ambiguous loss», der schwer einzuordnende Verlust von so vielem, macht Angst. Das muss im Gespräch thematisiert werden. Ich weise auch immer darauf hin, dass es normal ist, Angst zu haben.

Über die Angst zu sprechen, erleichtert.

Sinn.

«Hat mein Leben noch Sinn mit dieser Erkrankung?» Wenn die Sinnfrage auftaucht, frage ich zurück: «Was bedeutet für Sie Sinn im Leben?» Es geht darum, den Sinn individuell auszuloten und vielleicht auch mit neuer Bedeutung aufzuladen.

Brauche ich Reiseerlebnisse und Unabhängigkeit, um Sinn zu empfinden? Oder gibt es noch andere Möglichkeiten? Viele Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen sind uns da weit voraus. Sie finden Sinn in kleinen Momenten. Andere kommen zum Schluss, dass sie so nicht weiterleben wollen. Für sie wiegt der Verlust von Autonomie zu stark. Das muss man respektieren.

Alzheimermedikament.

Der Fokus auf die alleinige Bekämpfung von Amyloid-Plaques ist aus meiner Sicht nicht richtig. Jetzt wird Lecanemab von Biogen/Eisai als Durchbruch gefeiert. Der Wirkstoff verlangsamt die Krankheit statistisch leicht, doch wir müssen uns fragen: Wollen wir das Leiden verlängern ohne Verbesserung der Lebensqualität?

Ausserdem sind die möglichen Nebenwirkungen gravierend – unter anderem Hirnblutung – und der Preis nicht gerechtfertigt. Ich bin eher pessimistisch, was die Entwicklung eines Medikaments für eine Krankheit anbelangt, deren Ursache wir immer noch nicht kennen. Vermutlich braucht es einen multimodalen Ansatz.

Wenn du auf deine jahrzehntelange Erfahrung zurückblickst: Was war für dich die wichtigste Veränderung im Umgang mit Demenz und wo gibt es noch Potenzial?

Als ich anfing, war Demenz ein Tabuthema. Das hat sich geändert, das Verständnis ist viel grösser. Aber die Krankheit macht immer noch Angst. Die Jungbetroffene Rita Schwager hat das so schön gesagt:

«Wenn jemand Krebs hat, haben die Leute Mitleid. Hat jemand Alzheimer, bekommen sie Angst.»

Angst, dass man selbst erkranken und die Kontrolle verlieren könnte. Ich wünsche mir, dass diese Angst abnimmt. Es ist die Aufgabe unserer Gesellschaft, dass Demenzbetroffene mitten unter uns sein können.

Rita Schwager entschied sich für Exit

Demenz und Sterbehilfe

Wann ist es Zeit zu gehen?

Viele Demenzkranke wollen Sterbehilfe beanspruchen. Doch dafür müssen sie urteilsfähig sein. Eine Betroffene erzählt vom Ringen um Lebensqualität und Selbstbestimmung. weiterlesen

Daran arbeitest du ja durch viele Freiwilligenprojekte. Was beschäftigt dich gerade?

Ich engagiere mich in Qualitätszirkeln für Hausärzt:innen, die wichtige Anlaufstellen für Betroffene sind, und einem Komitee für demenzfreundliche Kirchgemeinden, das Demenz in die Seelsorge einbinden will.

Ausserdem startet im März startet das erste Alzheimer Gipfeltreffen in Zürich. Hier tauschen sich Menschen mit Demenz unter fachkundiger Leitung aus oder sind miteinander kreativ tätig. Und im Januar startet der Demenzchor («weisch no Chor»), wo Betroffene, Angehörige und Interessierte mitsingen können. Das führt zu mehr Teilhabe und tut auch der Gesellschaft gut. Wir müssen Brücken schlagen. Wir können von Demenzbetroffenen viel lernen, zum Beispiel Demut und Dankbarkeit.

> Hier können Sie das Buch «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven» bestellen.

Bopp-Kistler über den Umgang mit Demenz

Demenz verursacht Leid. Doch Betroffene haben auch lichte Momente und die Gesellschaft kann viel von ihnen lernen, betont Dr. Irene Bopp-Kistler im Gespräch mit Verlegerin Anne Rüffer.