Wie zwei pflegende Angehörige ihr Glück fanden

Frontotemporale Demenz

Wie zwei pflegende Angehörige ihr Glück fanden

Durch eine glückliche Fügung lernten sich Nathalie und Thomas kennen. privat

Darf man eine neue Partnerschaft eingehen, obwohl der Ehemann mit Demenz in einem Pflegeheim lebt? Nathalie De Febis hat genau das getan, nach einer schicksalshaften Begegnung mit einem Mann, der dasselbe erlebt wie sie.

Viele aus dem Verwandten- und Freundeskreis verstanden sie. Andere fragten: Wie kannst du nur? Wie kannst du einen anderen lieben, wenn dein kranker Ehemann in einem Heim lebt? Nathalie De Febis ist Anfang Vierzig, als sich bei ihrem Mann Gianluca erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz (FTD) zeigen.

Weder sie noch die Ärzte erkennen die Krankheit, ein Therapiemarathon beginnt. Als die Diagnose steht und die Situation daheim unerträglich wird, macht sich Nathalie auf die Suche nach einer Lösung, die die Familie entlastet. Sie findet ein Heim. Und einen pflegenden Angehörigen, dessen Ehefrau ebenfalls an FTD leidet. Die beiden verlieben sich. Doch sie hadern: Ist ihre Liebe ein Verrat am Ehepartner?

Ein anderer Mensch

Es beginnt schleichend. Der engagierte Familienvater Gianluca De Febis verhält sich immer sonderbarer. Wenn er von der Arbeit als Informatiker nach Hause kommt, nimmt er ein Bad und singt dabei alte Kinderlieder. Eineinhalb Stunden lang.

Es kommt zu Konflikten mit den Söhnen, beide im Teenageralter. Niemand weiss, warum sich Gianluca so komisch verhält, warum er sich aus dem Familienleben zurückzieht, distanziert und antriebslos wird. Er entwickelt einen unbändigen Appetit und Zwangsneurosen. «Er hat abends x mal überprüft, ob die Haustür zu ist, und alle Fenster verschlossen», erzählt Nathalie. «Ausserdem fing er an, am TV-Kontrollkästchen zu nagen. Es war absurd.» Fragt sie ihren Mann, warum er das tut, antwortet er: «Einfach so.»

Immer wieder gibt es Konflikte. Nathalie kann sich nicht erklären, was in Gianluca gefahren ist.

Gianluca anerkennt nicht, dass etwas nicht stimmt. Wenn es im Haus laut wird, schliessen sich die Söhne in ihren Zimmern ein; die Situation überfordert alle. «Dieser Mann, der in der Wanne Heidilieder sang, das war ein anderer Mensch.»

Ein toller Vater, ein grossartiger Mann

«Mein Mann war Italiener. Ein Familienmensch, ein Teamplayer.» Als Nathalie ihn kennenlernt, spielt Gianluca noch aktiv Fussball. Später wird er Trainer, mit ganzem Herzen setzt er sich für die Entwicklung seiner Schützlinge ein. 2010 gibt es über sein Damenteam sogar einen Dokumentarfilm – Pizza Bethlehem läuft landesweit in den Kinos. «Ein toller Vater, ein grossartiger Mann», schliesst Nathalie.

Seine Veränderung bleibt auch den anderen Trainern nicht verborgen. Gianluca wechselt Klub um Klub. Er macht Probleme, ist enthemmt. Dass er sich deshalb gegenüber den Fussballerinnen unsittlich verhält, kann Nathalie nur vermuten. Doch sie muss «die Wogen glätten»; der Trainervertrag wird nicht verlängert. Zuhause ist Nathalie mit den Nerven am Ende.

Anfang 2016 stellt sie Gianluca vor die Wahl: Entweder er lässt sich psychiatrisch abklären oder er packt seinen Koffer.

Als Gianluca einlenkt und mit Nathalie einen Psychiater aufsucht, diagnostiziert dieser eine Zwangs- und Angstdepression. Er empfiehlt Gianluca einen stationären Aufenthalt. Doch Gianluca will seine kürzlich angetretene Stelle nicht riskieren. Die drei vereinbaren Hausaufgaben und einen zweiten Termin.

Nathalie lernte ihren späteren Mann Gianluca als fürsorglichen Familienmenschen kennen.privat

Dazu kommt es nicht mehr. Kurz vor dem zweiten Termin erhält Gianluca die Kündigung. «Da wusste ich, jetzt ist Schluss», erinnert sich Nathalie. «Er muss in eine Klinik.» Widerwillig sagt Gianluca zu – für die Familie. Ihm selbst fehlt die Krankheitseinsicht, ein FTD-typisches Merkmal. Fünf Monate lang wird Gianluca in einer renommierten Privatklinik behandelt – auf Angst- und Zwangsdepression.

Obwohl die Therapien nicht anschlagen, kommt niemand auf die Idee, Gianluca neurologisch untersuchen zu lassen.

«Die glaubten, er hätte ein Burnout. Ende Oktober haben sie Gianluca dann einfach nach Hause geschickt. Er war in einem noch schlechteren Zustand.» Allein beim Gedanken daran, Gianluca so labil zu Hause zu haben, befällt Nathalie Panik. Sie wendet sich an eine Tagesklinik der Universitären Psychiatrischen Dienste (UPD). Erst dort äussert eine Psychiaterin den Verdacht, dass Gianluca nicht an einer atypischen Depression leidet. Nach der neurologischen Abklärung Mitte Dezember 2016 liegt die Diagnose vor: Gianluca, 44 Jahre alt, hat Frontotemporale Demenz.

Kaum bekannt und schwer zu diagnostizieren

Für Nathalie ist es «der schlimmste Tag» ihres Lebens. Die Hoffnung auf Besserung zerschlägt sich innerhalb weniger Minuten. Ganz besonders ärgert Nathalie die Empathielosigkeit des Arztes, der sie knapp über den Verlauf aufklärt und ihnen dann die Visitenkarte einer Psychologin in die Hand drückt.

«Du wirst nach Hause geschickt und hast keine Ahnung, was du jetzt machen sollst.»

Wie weiter? Wie wird ihr Leben künftig aussehen? Gianluca und Nathalie suchen die Psychologin auf. Die kann ihnen nicht mehr sagen, als sie ohnehin schon wissen. Einmal mehr zeigt sich: Frontotemporale Demenz ist eine Krankheit, die in der Öffentlichkeit und selbst in der Fachwelt wenig bekannt ist.

Die Diagnose ist schwierig. Die Verhaltensauffälligkeiten und Persönlichkeitsveränderungen der Betroffenen lenken den Verdacht zunächst auf andere Erkrankungen: Depression, Schizophrenie, Manie, Alkoholismus oder Alzheimer. Doch FTD unterscheidet sich stark von anderen Demenzformen. Sie kann ab einem Alter von 20 Jahren auftreten und verändert vor allem die Persönlichkeit und das soziale Verhalten des Betroffenen. Bei Gianluca dauerte der Diagnoseprozess anderthalb Jahre.

Was es bedeutet, wenn die Partnerin Frontotemporaler Demenz erkrankt

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Nathalie hat Gianluca bereits bei der Invalidenversicherung (IV) angemeldet. Durch Pro Infirmis erfährt sie, welche Leistungen ihnen zustehen und welche Kosten auf sie zukommen. Margrit Dobler von der Angehörigengruppe Alzheimer Zürich lädt sie zu einem Treffen ein, doch Nathalie hat keine Zeit. Inzwischen hat sie drei Jobs, um die Kosten zu stemmen. Sie hat Angstzustände und nimmt Tabletten gegen ihre Schlaflosigkeit.

Mit den italienischen Schwiegereltern kommt es zu Spannungen. Sie sind entsetzt, dass Nathalie Gianluca in ein Heim geben möchte.

Ausserdem werfen sie ihr vor, dass sie ihn verwahrlosen lasse. Tatsächlich kümmert sich Gianluca nicht mehr um seine Hygiene (auch das ein Merkmal von FTD), und Nathalie kann ihn kaum umstimmen, gar dazu zwingen.

Eine schicksalshafte Begegnung

Inmitten dieser Zerreissprobe geschieht dann etwas, das für Nathalie wie ein «Lotto-Sechser» ist. Im Oktober 2018 wendet sie sich ans Schweizer Fernsehen SRF und schildert, wie schwierig es sei, für jemanden mit FTD ein Heim zu finden. Die meist jung Erkrankten passen nicht auf Stationen, die auf betagte Alzheimer-Patient:innen ausgerichtet sind. Nathalie möchte mit dem SRF das Problem öffentlich machen.

Das SRF ist interessiert, hat aber keinen freien Block. Als Nathalie schon gar nicht mehr damit rechnet, meldet sich Monate später SRF Puls; ein entsprechender Beitrag soll im März 2019 ausgestrahlt werden. Nach diversen Abklärungen ruft der Kommunikationschef Nathalie an und gibt grünes Licht für die Dreharbeiten. «Und dann sagte er mir, er würde mich gern noch in einer privaten Angelegenheit konsultieren. Er habe einen Freund, dessen Frau an genau der gleichen Krankheit leide.»

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Der Freund meldet sich zwei Wochen später per Mail. Sie verabreden sich auf der Autobahnraststätte Grauholz. Dort tauschen sie sich bei einem Abendessen intensiv aus – über ihre kranken Partner, finanzielle Nöte, Entscheidungen … Dann beschliessen Nathalie und Thomas, in einem Restaurant in der Nähe noch etwas zu trinken. «Da haben wir das erste Mal über uns gesprochen. Es tat so gut, sich mit jemandem zu unterhalten, der das Gleiche durchmacht.»

In der darauffolgenden Woche lädt Thomas Nathalie anlässlich ihres Geburtstags zum Essen ein. Sie merken, dass sie mehr verbindet als die Krankheit ihrer Ehepartner. Gleiche Hobbies, gleiche Interessen und je zwei Kinder im Teenageralter. «Ab diesem Zeitpunkt wussten wir, dass wir diesen Weg gemeinsam gehen.» Die schicksalshafte Begegnung gibt beiden Halt. Noch heute beschreibt Nathalie ihr Glück im Unglück als «surreal». Doch nicht alle verstehen, wieso Nathalie und Thomas plötzlich neue Partner an ihrer Seite haben – wo doch beide verheiratet sind. Auch Nathalie und Thomas hadern mit dem schlechten Gewissen.

Ist ihre Nähe ein Betrug am Ehepartner, der todkrank im Heim lebt?

Gleichzeitig haben sich die Menschen, mit denen sie verheiratet sind, schon lange von ihnen entfernt. «Wir haben oft darüber gesprochen», sagt Nathalie. «Anfangs war es schwierig. Doch dann wurde uns klar, dass wir einander extrem viel geben können. Man funktioniert besser, wenn es einem gut geht, und kann dann auch besser für die Familie da sein.»

Beide verstehen, was der andere durchmacht, fühlen wieder Glück, Geborgenheit und Nähe. Ihre Beziehung gibt Nathalie und Thomas neuen Mut und Kraft für die täglichen Herausforderungen. Die Kinder sind zunächst zurückhaltend. Doch sie sehen auch, wie gut ihren Eltern die Beziehung tut.

Loslassen und neu anfangen

Tragisches erlebt auch Thomas mit seiner Frau Esther. 2017 zeigen sich bei ihr erste Anzeichen der Krankheit. Anders als Gianluca wird Esther aggressiv und beginnt ihre jüngere Tochter zu drangsalieren, die schwach in der Schule ist. Nachts schliesst Thomas die Kinderzimmer ab, damit Esther dort nicht eindringen kann. Als Esthers Bösartigkeit und Thomas’ Doppelbelastung durch den Beruf unerträglich werden, kümmert er sich um den Heimeintritt.

Anfangs waren Nathalies und Thomas’ Kinder den neuen Partnern gegenüber skeptisch. Jetzt verstehen sie sich bestens.privat

Für Nathalie wie für Thomas wird das Verhältnis zu den Schwiegereltern immer belastender. Es ist geprägt von Schuldzuweisungen, Misstrauen und Geldstreitigkeiten. In Nathalies Familie eskaliert die Situation mit Gianlucas Tod im Juli 2020. Gianlucas Eltern verübeln es Nathalie, dass sie mit ihren Kindern in den Ferien ist, als ihr Mann unerwartet rasch stirbt.

An der Beerdigung zeigt sich, wie zerrüttet das Verhältnis ist. Die Schwiegereltern beschimpfen Nathalie, lassen sie und ihre Söhne nicht allein in die Abdankungshalle und nehmen die Kondolenzbekundung nicht entgegen. Nach einem letzten Eklat per Telefon bricht Nathalie den Kontakt endgültig ab. Mit Thomas, dessen Frau Esther 2019 gestorben ist, baut sie sich ein neues Leben auf. Ihre zwei Söhne verstehen sich inzwischen blendend mit Thomas’ Töchtern. Sie laden sich gegenseitig zu Partys ein und machen gemeinsam Ferien. Thomas und Nathalie gehen Motorrad fahren, wandern, Ski fahren.

Der lange Prozess des Loslassens ist zu Ende.

Esther und Gianluca sind dennoch präsent. In Gesprächen oder Fotos, die auf Kommoden stehen. «Wir hatten beide ein Leben davor», erklärt Nathalie. «Wir sprechen über die verstorbenen Partner respektive Vater und Mutter. Da dürfen auch mal Tränen fliessen. Es ist wichtig, dass die Kinder sehen, dass Esther und Gianluca in unseren Herzen sind.»

Obwohl Nathalie und Thomas sich als Paar gefunden haben, hat bei beiden die Trauer um die verlorenen Ehepartner Raum.privat

Ihre ungewöhnliche Geschichte haben Nathalie und Thomas in einem Buch festgehalten. Es ist ein Ratgeber für Angehörige von Menschen mit FTD und soll zugleich Mut machen, sich Glück zuzugestehen. Den Ausschlag gab das Demenz Meet 2019, an dem Nathalie öffentlich über ihren gemeinsamen Weg gesprochen hat und mit stehendem Applaus belohnt wurde. «Es kamen so viele Leute auf mich zu», erinnert sich Nathalie. «Zwei Monate später schrieb mir ein Mann, dessen Frau an FTD litt. Er sagte, dass er sich dank mir habe öffnen können und dass er nun eine Partnerin an seiner Seite habe.»

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Der Ratgeber «Jung und dement», verfasst von Esther Hürlimann, erschien 2021 im Stämpfli Verlag und kann hier bezogen werden.