Den Schmerz hast du nicht vergessen - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (12)

Den Schmerz hast du nicht vergessen

Bernd Martens auf seinem Jollenkreuzer.

Fast 70 Jahre lang verdrängte Bernd Martens den Tod seiner Mutter. Bild privat

Bernd verlor mit sechs seine geliebte Mutter. Fast ein Leben lang wollte er nicht über diesen Verlust reden. Nun hat ihn Monsieur A. wieder zu den schmerzhaften Erinnerungen geführt.

16. Oktober 2022  

Dein Vater Johnny war ein harter Hund und hat dir Schmerzen zugefügt, die dich noch heute plagen. Doch es gibt einen noch viel größeren Schmerz in deinem Leben, von dem ich vor dem Ausbruch deiner Erkrankung nichts wusste. Bekannt war mir, dass deine Mutter gestorben ist, als du sechs Jahre alt warst. Woran, das konntest du mir nicht sagen. Du wusstest nur, dass sie nach einem Krankenhausaufenthalt schon auf dem Weg der Besserung war, dann zur Erholung in eine Klinik im Sachsenwald geschickt wurde und plötzlich starb.

Rippenfellentzündung – dieses Wort fiel, aber genau wusstest du es nicht. Offensichtlich interessierte es dich auch nicht. Ich habe immer mal wieder versucht, mit dir über diesen frühen Verlust zu sprechen, aber wenn ich sagte, das müsse doch furchtbar für dich als kleiner Junge gewesen sein, hast du nur abgewinkt. Natürlich sei das hart gewesen, aber wie Kinder nun mal seien: Die verstünden ja gar nicht so richtig, was der Tod bedeute. Das Leben sei weitergegangen und Johnny habe nach ein paar Jahren wieder geheiratet.

Deine Stiefmutter, die Grete, die sei ganz in Ordnung gewesen, wenn auch natürlich kein Ersatz. In Konfliktfällen habe sie sich rausgehalten, dann hieß es: Johnny, du musst dich um deinen Sohn kümmern. Und was kümmern bei Johnny bedeutete, das wisse ich ja: Befehle, Einschüchterung, Strafen.

So ging es all die Jahre. Wenn wir über deine Kindheit sprachen, ging es vor allem um Johnny und seine autoritären Erziehungsmethoden. Über deine Mutter erfuhr ich von dir kaum mehr, als dass sie Hannchen hieß und tot war. Und jetzt? Monsieur A. hat dich an der Hand genommen und dich zu deiner Mutter geführt.

Aus einem alten Album hast du die wenigen kleinen Schwarzweiß-Fotos von ihr abgelöst und sie in der Wohnung verteilt. Eine hübsche junge Frau mit gelocktem Haar ist darauf zu sehen, die auf mich ein wenig scheu wirkt.

Hier gehts zur ersten Folge von Birgit Rabischs Logbuch

Birgit Rabisch und Bernd Martens auf ihrem Jollenkreuzer.

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Fast immer blickt sie knapp an der Kamera vorbei. Nur auf einem Bild, einem großen Porträtfoto, das in einem Fotostudio aufgenommen wurde, lächelt sie verhalten und blickt dem Betrachter direkt in die Augen. Über viele Stunden bist du jetzt der Betrachter, du, ihr Sohn, der so viel älter geworden ist, als sie es werden durfte. Und plötzlich redest du über sie:

»Sie war so eine gute Mutter, so liebevoll, so freundlich. Sie hat mit mir in der Küche getanzt. Sie hat Johnny in die Schranken verwiesen. Sie hat mir Geschichten erzählt. Warum musste sie so früh sterben?«

Und immer wieder erzählst du jetzt von dem Tag, an dem du deine Mutter zum letzten Mal gesehen hast:

Johnny und ich haben sie besucht, damals im Sachsenwald, wo sie zur Erholung war. »Wir überraschen sie«, hat Johnny zu mir gesagt, »versteck dich hinter einem Baum, Bernd.« Und dann kam sie! Ich lugte hinter dem Baum hervor und ich sah ihr enttäuschtes Gesicht. »Ist Bernd denn nicht mitgekommen«, fragte sie und Johnny schüttelte den Kopf. »Leider nicht, er wollte lieber mit seinen Freunden auf dem Vorland spielen.« Ihr Gesicht verzog sich, doch da hielt ich es nicht mehr aus und sprang hinter dem Baum hervor und lief auf sie zu. Sie nahm mich in die Arme und drehte sich im Kreis herum und sagte immer wieder: »Ach mien Jung, mien leeve Jung! Du büst jo dor! Mien leeve Jung!« [1]

Das sind die letzten Worte, die dir von deiner Mutter in Erinnerung geblieben sind. Natürlich wird sie noch mehr gesagt haben an diesem Nachmittag im Sachsenwald, wo ihr spazieren gegangen seid, vielleicht seid ihr auch in die Klinik hineingegangen, aber das weißt du alles nicht mehr. Ihre letzten Worte, die du erinnerst, sind: Mien leeve Jung!

Wenn du jetzt davon erzählst, kommen dir jedes Mal die Tränen. Und auch mich rührt diese Szene an. Wie tief hast du sie all die Jahre vergraben, dass du erst jetzt darüber sprechen kannst? Da muss erst ein Monsieur A. kommen, der doch angeblich ein Meister ist, der ins Vergessen führt, und ausgerechnet er führt dich zu diesen verdrängten Erinnerungen! Über diesen Widerspruch habe ich lange nachgedacht. Vielleicht liegt es daran, dass Monsieur A., jedenfalls in diesem Stadium, die emotionalen Blockaden senkt und dir wieder den Zugang zu Erinnerungen eröffnet, die so schmerzlich waren, dass du sie lange weggesperrt hast. Jetzt erinnerst du dich auch wieder ganz plastisch daran, wie du die Nachricht von ihrem Tod erhalten hast.


[1] niederdeutsch: Ach, mein Junge, mein lieber Junge! Du bist ja da! Mein lieber Junge!


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier geht's zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch.