Flaschenpost aus dem Durcheinandertal - demenzjournal.com

Alltag mit Demenz

Flaschenpost aus dem Durcheinandertal

Altes Paar Zärtlich

«In seiner Demenz trat plötzlich eine enorme Zärtlichkeit auf, er hat alle umarmt», schreibt Irene Bopp-Kistler. Tim Mossholder/unsplash

Wie ist es, mit Demenz zu leben? Was tut Menschen mit Demenz gut? Wie können Angehörige mit Demenzerkrankten trotz Sprachverlust in Kontakt bleiben? Dr. Irene Bopp-Kistler gibt wertvolle Tipps aus ihrer Erfahrung in der Begleitung von Betroffenen und Angehörigen.

Ärztin: «Wie geht es Ihnen?»
Patient: «Ich bin im Durcheinandertal.»
Ärztin: «Wie poetisch Sie das ausdrücken.»
Patient: «Wissen Sie, was ich anspreche?»
Ärztin: «Sie meinen den Roman ‹Durcheinandertal›
von Friedrich Dürrenmatt.»
Patient: «Schön, dass Sie den kennen. Sie sehen,
ich bin weder dürr noch matt.»

Menschen mit Demenz sind oft zufrieden, auch humorvoll und glücklich. Sie erleben gute Momente wie andere auch. Sie erleben aber auch schwere Zeiten, weil die Erkrankung existenziell verunsichert und Angst auslöst bis hin zum Todeswunsch.

Inhalt

> Gefühlschaos zwischen Schwere und Leichtigkeit
> Unterschiedliche Reaktionen auf die Diagnose
> Verschwindet die Person durch die Demenz?
> Durch die richtige Hilfe Überforderung vermeiden
> Demenzerkrankte und Trauma
> «Das Herz wird nicht dement»: Gefühle und Bedürfnisse
> Die Sprache der Demenzerkrankten

Gefühlschaos zwischen Schwere und Leichtigkeit

Das subjektive Empfinden ist individuell sehr verschieden: Es gibt Betroffene, die während des ganzen Krankheitsverlaufes stark leiden, weil ihnen bis zu einem späten Stadium bewusst ist, was sie alles verlieren und verloren haben. Viele tauchen aber ein in das «Land des Vergessens», und mit Fortschreiten der Erkrankung wird der subjektive Leidensdruck kleiner. Immer wieder verblüffen sie ihre Umgebung mit luziden Momenten, so wie dieser Patient, der sich trotz mittelschwerer Demenz sprachlich bestens ausdrücken kann und über ein kreatives, assoziatives Denken verfügt.

Die Nachrichten, die sie vermitteln, kommen von irgendwoher, werden angeschwemmt wie eine Flaschenpost.

Der Sendende hat die Hoffnung, dass die Strömung die Botschaft an einem anderen Ort an Land spült. Die Botschaften stammen oft aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit, und die Sendenden sind umso glücklicher, wenn ihre Mitteilungen auf Menschen treffen, die sich für deren Inhalt interessieren.

«Ich sehe keinen Nachteil, zeitweilig ist es auch schön zu vergessen. Ich kann alles abladen. Ich bin froh, dass ich nicht mehr muss, das überlasse ich anderen. Manchmal ist weniger mehr.»
– Herr K.

Oft nehmen die Betroffenen das Vergessen nicht in vollem Umfang wahr. Könnte somit das Vergessen des Vergessens möglicherweise ein Glücksfall sein? Diese Frage kann nicht so einfach beantwortet werden, auch wenn mir kürzlich ein Patient sagte, dass das Vergessen auch etwas Gutes habe und man sich so auf das Wesentliche konzentrieren könne.

–– Hier geht’s zu einem TV-Interview mit Irene Bopp (auf Schweizerdeutsch)

Doch das ist nur die eine Seite des Vergessens, wie die folgende Aussage eines Patienten zeigt: «Es ist nichts Willkommenes, doch es geht mir gut. Andererseits stört das Vergessen zutiefst: Was kann ich vorbereiten, bevor ich ganz absacke?»

Eine Diagnose hilft, die Zukunft zu planen

Demenz – der Weg zur Diagnose

Niemand spricht es aus

Seit über zwei Jahrzehnten berät Dr. Irene Bopp-Kistler Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen. Die Geriaterin weiß, wie wichtig eine gute Diagnoseübermittlung ist. … weiterlesen

Menschen mit Demenz sind hin- und hergerissen zwischen zwei Polen: Da ist eine Schwere, die zutiefst traurig macht und ans Lebendige geht, und dann wiederum eine Leichtigkeit, die von einer inneren Gelassenheit geprägt ist. Auf der einen Seite Trauer über den Beginn der Erkrankung, Verzweiflung über das Unfassbare, auf der anderen Seite die Aussage: «Mir geht es gut. Andere Krankheiten machen Schmerzen, ich aber fühle mich gut.»

buchtipp

Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen beim rüffer & rub-Verlag.
> Hier erfahren Sie mehr!

Menschen mit Demenz reagieren äusserst sensibel auf das Gegenüber: Wenn ihr Vis-à-Vis ruhig und mit Verständnis agiert, nehmen sie das sehr wohl wahr und sind dankbar dafür. Sie verzweifeln jedoch, wenn ihre «Flaschenpost» gar nicht erst ankommt oder wenn der Inhalt nicht richtig verstanden wird. Und deswegen fürchten sie sich davor, ihre Diagnose mitzuteilen.

Die Basis einer Kommunikation, die durch die Krankheit tragen wird, auch bis ins Endstadium, ist die Gleichwertigkeit. Kürzlich meinte ein Patient zum Abschied, als er definitiv ins Pflegeheim eintreten musste: «Sie waren immer so lieb zu mir.» Der Patient hatte im Rahmen seiner schweren Demenzerkrankung seine Sprache nahezu vollständig verloren. Und nun dieser Satz, der zeigt, wie wichtig es ist, dass mit den Betroffenen während des ganzen Krankheitsverlaufes eine gleichwertige Basis gepflegt wird.

Unterschiedliche Reaktionen auf die Diagnose

Die Reaktion auf die Diagnose einer Alzheimererkrankung fällt unterschiedlich aus, wie: «Er hat schon immer alles verdrängt.» – «Sie wollte noch nie der Wahrheit ins Gesicht sehen.» – «Er hat schon immer mit seiner Vergesslichkeit gespielt.» – «Sie hat schon immer die Dinge so wahrhaben wollen, wie sie für sie stimmten.»

Solche Äusserungen kann ich zwar nachvollziehen, doch sie entsprechen nicht der ganzen Wahrheit. Die Hirnerkrankung, die zu Defiziten in der Wahrnehmung und zur Abnahme des schlussfolgernden Denkens führt, verändert die Menschen.

Die Kunst besteht darin, die Sichtweisen sowohl von Betroffenen wie den Angehörigen in einen übergeordneten Kontext zu stellen.

Angehörige haben den Vorteil des schlussfolgernden Denkens, sie können Informationen richtig einordnen. Genau diese Möglichkeit haben Demenzerkrankte nicht mehr: Sie können sich nicht mehr vertieft in das Gegenüber hineinversetzen, sie können Situationen und Fakten nicht mehr aufnehmen respektive deren Bedeutung entschlüsseln und sie haben weniger Korrekturmöglichkeiten.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Ein grosser Teil des veränderten Reaktionsspektrums ist auf die Krankheit zurückzuführen, ein kleinerer Teil auf die Biografie und die Persönlichkeit. Doch vielleicht ist in den befremdlich erscheinenden Reaktionen auch ein Schutzmechanismus enthalten, der es den Betroffenen ermöglicht, in einem Zustand der Zufriedenheit mit dem Jetzt zu leben, der den Gesunden verborgen bleibt.

Verschwindet die Person durch die Demenz?

Jeder Mensch – ob krank oder gesund – hat eine einzigartige Biografie, die ihn geprägt und zu der Person gemacht hat, die er vor Beginn der Erkrankung war. Er bleibt die Person, der Mensch von früher, auch wenn genau die Hirnleistungen entschwinden, die zur Stärke dieser Person gezählt haben.

Oft am schmerzvollsten für Angehörige:

demenzwiki

Persönlichkeits-Veränderung

Eine Demenz kann die Persönlichkeit des Betroffenen stark verändern. Der Umgang damit ist für Betroffene und Angehörige anspruchsvoll.  weiterlesen

Es gilt zu unterscheiden zwischen Person und Persönlichkeit: Auch wenn die Persönlichkeit im Rahmen einer Demenz mehr und mehr verschwindet und der Betroffene weniger Einfühlungsvermögen im Sinne einer verminderten Empathie zeigt, wird er nicht zum Kind, obwohl im Laufe der Erkrankung gewisse Parallelen zur Rückwärtsentwicklung zum Kind nicht von der Hand zu weisen sind.

Es gilt das, was noch vorhanden ist, zu entdecken und zu fördern.

Einem äusserst redegewandten Professor wurde durch die Alzheimerkrankheit die Sprache genommen. Auf die Frage, was er in seinem Leben noch nicht gemacht habe, antwortete er: «No sports». Mit 65 Jahren wird niemand mehr zum Spitzensportler, doch es war ihm möglich, jeden Tag mehrere Stunden spazieren zu gehen. In die Sprechstunde brachte er jeweils die Landkarte mit, auf der er alle Wanderungen eingetragen hatte. Die Traurigkeit über das Verlorene blieb, doch daneben entstand eine Heiterkeit und Freude über das, was neu entstehen konnte.

Durch die richtige Hilfe Überforderung vermeiden

Demenzerkrankten begegne ich im Wissen um ihr Leben, das sie zuvor gemeistert haben und das einzigartig ist. Daraus entsteht ganz selbstverständlich Respekt und das sorgfältige Bemühen, ihre Nachrichten aus dem Durcheinandertal zu verstehen. Eine Demenzerkrankung kann jeden von uns treffen, auch die Schreibende. Wie ich mit einer möglichen Demenzerkrankung umgehen würde, weiss ich nicht. Sicher bin ich mir allerdings, dass ich mir Ehrlichkeit und Offenheit von meinem Umfeld erhoffe.

Das vorausschauende Denken ist bei Menschen mit Demenz beeinträchtigt, weswegen sie mehr Direktiven und Vorschläge benötigen, dies aber meist strikte verweigern. Setzen sich Fachkräfte und Angehörige darüber hinweg und ordnen Hilfsmassnahmen an, spüren die Betroffenen doch Erleichterung und zeigen sich dankbar, wenn ihnen gewisse Entscheidungen abgenommen werden.

Das hat nichts mit respektlosem Verhalten zu tun, sondern fördert das Selbstwertgefühl der Betroffenen, weil sie weniger überfordert sind. Der Psychiater Christoph Held dazu:

«Wenn eine Hilfestellung für einen Menschen mit fortgeschrittener Demenz vor dem Hintergrund der krankheitsbedingten Gegebenheiten geschieht, kann die Würde der Betroffenen durchaus gewahrt werden. Würdelos – weil Leid verstärkend – hingegen ist es, ihn zu überfordern.»
(Held: Was ist «gute» Demenzpflege?, 2013)

Überforderung endet in Rückzug, Resignation und auffälligem Verhalten, insbesondere Aggressivität. Menschen mit Demenz leiden mehr an der Reaktion der Umwelt auf ihre Defizite als an den Krankheitssymptomen selber. Trotz aller Defizite ist die Innensicht der Betroffenen immer wieder eine differenzierte. Dieser Tatsache sollte man sich stets bewusst sein, denn im Durcheinandertal herrscht nicht nur Chaos:

«Ich möchte wieder mein Gedächtnis finden …»
«Ich weiss, was ich tue, doch ich weiss nicht, was ich getan habe.»

Demenzerkrankte und Trauma

Viele Demenzkranke leiden unter traumatischen Erlebnissen: dem 2. Weltkrieg, aktuellen Kriegen oder Umweltereignissen. Und wieder sind in unseren Tagen Tausende von Menschen auf der Flucht.

1. August, Nationalfeiertag in der Schweiz. Raketen steigen zum Himmel, dieser wird hell erleuchtet, es knallt überall. Eine Demenzerkrankte versteckt sich schreiend unter der Bettdecke.

Demenzkranke sind traumatischen Ereignissen, die durch Schlüsselreize reaktiviert werden und aus dem Unterbewussten aufsteigen, ausgeliefert. Zuvor gelebte typische Copingstrategien, wie das Fokussieren auf das «Funktionieren» im Alltag, fallen weg. Da die Biografie durch die Demenzerkrankung nur noch bruchstückhaft vorhanden ist, treten die emotionalsten und schmerzhaftesten Momente des Lebens in den Vordergrund, die nicht verarbeitete Vergangenheit wird zur beängstigenden Realität.

Fallbeispiel Paul Kaufmann Verweigerung Schläge Tritte

Fallbeispiel Paul Kaufmann

Verweigerung bei Demenz: Das Kriegsopfer wird alt

Paul Kaufmann wuchs während des zweiten Weltkriegs in Dresden auf. Nach einem erfüllten Leben rissen in seiner Demenz alte Wunden auf. Nun wehrt … weiterlesen

Der Altersforscher und Psychotherapeut Hartmut Radebold, selbst im Krieg geboren, hält fest:

Die Kriegskinder kommen jetzt in ein Alter, in dem sie mehr Zeit zum Nachdenken haben. Oft bedrückt sie ihre Lebensbilanz. Die eigenen Kinder sind längst aus dem Haus. Alles, was bisher identitätsstiftend wirkte, ist weg. Und noch etwas kommt hinzu: Die Mütter sterben. In engen Mutter-Kind-Beziehungen geben die Mütter lebenslang Schutz. Wenn das entfällt, brechen die Verletzungen auf – und der eigene Tod rückt näher. […] Augenblicklich sehen wir ja, wie durch aktuelles Erleben bei vielen ehemaligen Kriegskindern Panikzustände, Angstattacken und Unruhe wieder aufbrechen. Wir nennen das eine Trauma-Reaktivierung.

Viele Demenzerkrankte haben geschwiegen, in der Familie wurde wenig bis gar nicht über die Kriegsereignisse gesprochen. Viele von ihnen wurden in den Jahren nach Kriegsende von den Erinnerungen gepeinigt, heute würde man das Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nennen. 

Oft wird den Nachkommen erst durch die Demenz des Vaters oder der Mutter klar, dass auch sie die Schreckenserlebnisse ihrer Eltern unbewusst mittragen mussten.

Angesichts der Demenzerkrankung können frühere Verhaltensmuster neu eingeordnet werden, wodurch neu positive Beziehungsmuster entstehen können.

Eine 40-jährige Frau mit Trisomie 21, früh an Demenz erkrankt, berichtete in der Sprechstunde von ihrer traumatischen Vergewaltigung, die sie in der Jugend erlebt hat. Auf die Frage, was sie am meisten belaste, antwortete sie, dass ihre Seele krank sei.

Verschiedene Studien haben ergeben, dass über 12  Prozent der über 60-jährigen Deutschen Symptome einer Traumatisierung zeigen. Von den Jahrgängen 1928 bis 1945 sind mindestens 60 Prozent traumatisiert, also über 2,5 Millionen Menschen. Auch in der Schweiz und in Österreich leben viele Menschen, die dieselben Traumata in sich tragen.

Aktuelle Ereignisse können lange Zurückliegendes reaktivieren

Alzheimer und wir

Liebe Mama, wie geht es dir mit dem Krieg?

Als wir jetzt zu meinen Eltern gefahren sind, habe ich mir doppelt Sorgen gemacht: um meine Kinder und um Mama. Wie würden sie … weiterlesen

Wenn Menschen mit Demenz aggressiv, mit Panik, angsterfüllt, akut verwirrt, apathisch oder traurig reagieren oder sich gegen bestimmte Pflegehandlungen wehren, kann ein Trauma zugrunde liegen. Ist man sich in Pflegeheimen dessen bewusst, kann der Blick auf unverständlich scheinendes Verhalten geändert und das Wohlbefinden des Betreffenden verbessert werden:

  • Alles sollte ausgeschaltet werden, was an frühere lebensbedrohliche Situationen erinnert: Geräusche wie das Hallen der Schritte auf den Gängen, unsensible Intimpflege, typische Trigger wie Sirenenheulen oder Konfrontation mit beängstigenden Fernsehsendungen, in denen von Krieg, Katastrophen und Terror berichtet wird.
  • Pflegende sollten sowohl die Zeitgeschichte als auch die individuelle Biografie des Einzelnen kennen.
  • Durch Enttabuisierung und Auseinandersetzung können Pflegende helfen, die durch Kriege und andere Katastrophen verursachten seelischen Wunden zu lindern.
  • Die Anwendung kreativer Ansätze wie Musik, Gestaltung, szenisches Theater, Tanz, Bewegung und Poesie trägt dazu bei, Unverarbeitetes zum Ausdruck zu bringen. Durch verstehendes Begleiten und Pflegen kann das Trauma – oft auch averbal – als Teil des Lebens verarbeitet werden.

«Das Herz wird nicht dement»: Gefühle und Bedürfnisse

Einer meiner Patienten wurde als Kind schwer gezüchtigt. Seine Frau und er haben kaum eine zärtliche Beziehung gelebt, trotz mehrerer Kinder. In der Demenz trat plötzlich eine enorme Zärtlichkeit auf, er hat alle umarmt. In dieser Phase lebte er aus, was er vorher nie zeigen konnte. Später hat er sich in einem Pflegeheim für Demenzpatient:innen in eine Patientin verliebt. Einige Monate später ist er zufrieden gestorben.

«Das Herz wird nicht dement» lautet der Titel eines Buches. «Demenz ist mehr als eine Gedächtnisstörung. Der Blick muss auf die Innenwelt und besonders auf das Herz der Menschen mit Demenz gelenkt werden.» Damit ist vor allem ihre reiche Gefühlswelt angesprochen, denn: «Wird das Herz berührt, kann die Erinnerung über das zu Herzen Gehende hinaus reichen, und es werden Schritt für Schritt andere Regionen des Erinnerns aktiviert.»

Es ist eindrücklich, wie Erinnerungen an die Oberfläche kommen, wenn bei Betroffenen Gefühle wachgerufen werden.

Dies kann durch Musik geschehen, durch Tanz oder einen Geruch, durch Fotos, ein Gebäck, eine Landschaft, eine Stimme, ein Lied, eine Berührung. Und ihr biografisches Gedächtnis, ihre Lebensgeschichte, die sich zunehmend fragmentarisch auflöst, wird durch gefühlsmässig stark verankerte Begebenheiten wiederbelebt. Vielleicht ist es wirklich so, dass sich das Leben unter diesen Umständen auf das Wesentliche beschränkt, wie das einmal ein Patient formulierte.

Körpergedächtnis

Wir sind mehr als unser Geist

Der Fokus auf den Verstand stigmatisiert Menschen mit Demenz. Was macht das Selbst eigentlich aus? Und wie kann die Erinnerung des Körpers genutzt … weiterlesen

Obwohl die Gefühlsebene eine grosse Ressource für die Betroffenen darstellt, wird diese von Angehörigen oft nicht verstanden, weil die Bedürfnisse stark divergieren. Wenn eine junge, an Demenz erkrankte Partnerin beginnt, kindlich-naiv, aber voller Freude und Glück zu reagieren, stimmt das für den Partner nicht mehr. Er hat eine erwachsene Person geheiratet und kein Kind.

Für eine Tochter kann das kindliche, liebenswürdige Verhalten der Mutter die Beziehung in ihrem Fundament erschüttern, weil die Rollenverschiebung erst gelernt werden muss. Deswegen können Demenzerkrankte ab einem gewissen Stadium auch besser in einem geschützten Rahmen leben, weil sie dort mit ihren Gefühlen und ihrem Verhalten kein Missfallen erregen.

Menschen mit Demenz halten sich nicht an die Regeln der Zivilisation. Vor allem im späten Stadium der Krankheit werden sie im Alltag stets mit ihren Defiziten konfrontiert – damit, was alles nicht mehr geht. Fehlinterpretationen, die stark eingeschränkte Sprache und Vergesslichkeit führen zu Stress und Verunsicherung, falls ihr Verhalten von anderen Menschen nicht toleriert wird. Diese dauernde Konfrontation kann das Leben frustrierend und langweilig machen. Unsere Aufgabe ist es, Menschen mit Demenz Schutz und Zuwendung zu geben. Wir unterscheiden nicht zwischen ihrer und unserer Wirklichkeit – und schaffen damit einen Rahmen, der geprägt ist von Normalität, Nähe und Leichtigkeit.

Dieser Rahmen ermöglicht den Demenzerkrankten ein gutes Leben: Das Durcheinandertal wird zur Normalität, die Nachrichten der Flaschenpost kommen an und werden verstanden.

Menschen mit Demenz kann es gut gehen, wenn sie das Gefühl haben, trotz allem geschätzt zu sein.

Menschen mit Demenz kann es gut gehen, wenn ihnen das Gefühl gegeben wird, trotz Demenzerkrankung noch gebraucht zu werden. Menschen mit Demenz kann es gut gehen, wenn ihre Wirklichkeit normal ist und nicht mit anderen Wirklichkeiten verglichen wird. Dazu die Pädagogin und Krankenschwester Karin Welling:

Einen Menschen mit Demenz zu akzeptieren heisst demnach, ihn in erster Linie als Menschen und nicht als Symptomträger wahrzunehmen. Es reicht nicht aus, sich darüber im Klaren zu sein, dass dieser Mensch für die Folgen seiner Erkrankung nicht verantwortlich ist. Akzeptanz geht darüber hinaus: Sie erkennt die Einzigartigkeit des Individuums an, indem sie seine eigene persönliche Art und Weise, mit der Erkrankung umzugehen und das Leben zu meistern, vorbehaltlos respektiert.

Paare und Familien verlieren durch die Krankheit die gemeinsame Biografie. Konrad Lorenz hat eines Tages konstatiert, dass er seine Frau verloren habe. Der Ehemann von Iris Murdoch, der Historiker John Bayley, hat getan, was viele Partner:innen tun: Er hat seine Frau nie aus seiner Liebe entlassen. Vielleicht hat er es auch für sich getan, dieses umfassende Lieben, und Iris hat es auf ihre Weise erwidert.

Die Sprache der Demenzerkrankten

Der Verlust der Sprache gehört zur Demenz, besonders zur Alzheimerdemenz. Menschen mit Demenz suchen nach Worten, sie finden Ausdrücke nicht, sie verstehen komplizierte Sätze und Wörter nicht mehr.

Menschen mit Demenz artikulieren sich auch ohne Worte oder mit veränderter Sprache.

In der Kommunikation mit ihnen müssen wir versuchen, die Emotionen und die damit verbundenen Bedeutungen als das zu verstehen, was wörtlich gesagt wurde. Wenn Menschen in einer Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart ausdrücken möchten, was sie beschäftigt, muss es für sie wie eine Ohrfeige sein, wenn wir sie ständig korrigieren. Die Kunst der Kommunikation besteht darin herauszuhören, was diese Menschen uns sagen möchten:

«Ich fahre nicht mit dem Velo, der Kopf fährt mit mir, der Kopf macht sich selbständig.»
«Es ist ein Leerzuhören …»
«Ich weiss, was ich sagen möchte, doch ich kann es nicht sagen.»
«Ich möchte wieder mein Gedächtnis finden. Geben Sie mir die Sprache wieder, ich bin so stumm …»

Wenn die verbale Sprache zunehmend verschwindet, wird das Befinden averbal ausgedrückt: Zufriedenheit, innere Unruhe, ein in sich Ruhen, Wertschätzung, aber auch Ablehnung. Erstaunlich ist, wie sensibel Menschen mit Demenz die Befindlichkeit anderer wahrnehmen, ohne dass darüber gesprochen wird.

Mit der richtigen Technik bleibt Verständigung möglich

demenzwiki

Kommunikation

Menschen mit Demenz verlieren nach und nach ihre Sprache. Die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu kommen, bleibt aber bis zum Schluss erhalten. weiterlesen

Doch es gibt sie auch, die andere Seite: der leere Blick, der sich verliert, der unsichere Blick zum Partner. Es kommt dann nicht selten im wahrsten Sinne des Wortes zu einer «Blickdiagnose». Lässt man sich darauf ein, erlebt man die Kommunikation mit Menschen mit Demenz als vielschichtig, symbolreich, verschlungen, tiefgründig, oft sogar heiter. Wortneubildungen verblüffen, ebenso unkonventionelle Zusammensetzung.

Auf die Frage, was für eine Jahreszeit sei, antwortete ein Patient: «eine Lebensfreudige», die Uhr bezeichnete er als «Zeitarm».

Es ist eindrücklich, wie Menschen mit Demenz nach Worten ringen. Dann ist es unsere Pflicht, im Sinne von fürsorglichem Verhalten zu helfen, ohne dass es beschämend wirkt. Wenn man immer wieder auf die Sprünge hilft, dann ist Sprechen auch bei schweren Wortfindungsstörungen möglich. Selbst die schwer Demenzerkrankten erkennen sehr wohl die Modulation der Stimme und das Wohlwollen, das mit der Stimme ausgedrückt wird. Ich ermuntere die Angehörigen immer wieder, in einer ruhigen, beruhigenden Stimmlage mit den Menschen zu sprechen und so, als ob sie alles verstehen würden.

Schreitet die Demenz weiter fort, reduziert sich die Kommunikation auf Nähe und Liebe. Ein Sohn:

Meine Mutter hatte früher, als ich Kind war, selten Zeit für mich. Sie musste arbeiten, trotzdem reichte das Geld nie. Während vieler Jahre musste ich im Kinderheim wohnen. Dennoch konnte ich ihr nicht böse sein. Nun gibt sie mir all die Zärtlichkeit, nach der ich mich in der Kindheit so gesehnt hatte. Wir können stundenlang beieinandersitzen, uns an den Händen halten, beide glücklich, ohne zu sprechen. Erst jetzt realisiere ich, was meine Mutter für schöne Hände hat, doch sie sind gezeichnet von der harten Arbeit. Ich glaube, dass wir uns heute so verstehen wie noch nie, auch ohne Worte. Und diese Zärtlichkeit, dieses Händehalten, all das werde ich auch nach ihrem Tod in mir tragen.


Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform.
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