Immer wieder taucht der weinende Vater auf - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (13)

Immer wieder taucht der weinende Vater auf

Ein Priel im Wattenmeer.

Das Wasser im Priel versiegt auch bei Ebbe nicht – genau wie Bernds Erinnerungen an den Verlust seiner Mutter. Bild privat

Der sechsjährige Bernd erwartete, dass seine Mutter wieder gesund sei und nach Hause kommen würde. Stattdessen traf er auf seinen Vater, der mehrere Geschirrtücher nassweinte. Dieses Bild hat sich in Bernds alzheimerkrankem Kopf festgesetzt.

17. Oktober 2022

Seit deine Mutter erkrankt war, kümmerten sich deine Großeltern mütterlicherseits um dich. Du warst gern bei ihnen. Ihre Wohnung lag direkt am Hafen, denn dein Opa Hannes war Barkassenführer gewesen. Deine Großmutter hast du als herzliche Frau in Erinnerung. Aber nicht nur sie sorgte dafür, dass du dich in der kleinen Wohnung, in der sechs Personen lebten, sauwohl gefühlt hast.

Sauwohl, das ist das Wort, das du jedes Mal benutzt, wenn du mir von deinen Besuchen bei deinen Großeltern erzählst.

Dort wurdest du auch von deinen Tanten Lene und Käthe umsorgt. Die kinderlose Tante Käthe stand stundenlang mit dir am Fenster um Schiffe zu gucken. Dazu las sie dir die Schiffsmeldungen aus dem Hamburger Abendblatt vor, denn du wolltest genau wissen, woher das Schiff kam, wohin es fuhr und wieviel Bruttoregistertonnen es hatte.

In der Wohnung im Eichholz gab es nicht viel Platz, du musstest dir ein Bett mit deinem Cousin Heinz teilen, aber alle verwöhnten dich und niemand kommandierte dich herum. Es waren unbeschwerte Tage, die du bei der Familie deiner Mutter verlebtest, während sie vermeintlich auf dem Weg der Genesung war. Bis die Nachbarin kam, die als einzige im Haus einen Telefonanschluss hatte, und leise sagte, es gebe da einen Anruf.

Tante Käthe ging mit ihr und als sie zurückkam, schickte sie Heinz und dich in die Stube zum Mensch ärgere dich nicht spielen. Du freutest dich, weil du zweimal gewannst und Tante Käthe, der du das gleich danach begeistert erzähltest, beteuerte auch, wie toll sie das finde, doch sie wirkte seltsam unbeteiligt. Sie strich dir so lange über den Kopf, dass es dir zu viel wurde und du dich losmachtest und hinüber zu Tante Lene gingst, die aber auch anfing, dich zu streicheln und dazu auch noch zu seufzen. Was war denn nur los mit ihnen?

Am nächsten Morgen hieß es, dein Besuch müsse abgekürzt werden, Tante Lene bringe dich zurück nach Finkenwerder. Auf deine Warum-Frage bekamst du nur ausweichende Antworten, aber für dich stand fest: Dafür konnte es nur einen Grund geben. Deine Mutter war wieder zu Hause und so, wie du sie im Sachsenwald überrascht hattest, wollte sie jetzt auch dich überraschen. Du hörtest auf zu fragen und lächeltest während der ganzen Fährfahrt wissend in dich hinein.

Etwas verwundert warst du, als sie dich in Finkenwerder nicht zu eurer Wohnung im Kap-Horn-Weg brachte, sondern zu der deiner Großeltern väterlicherseits. Wahrscheinlich hat Oma Emma Scholle satt gebraten zur Feier von Mutters Genesung, sagtest du dir, doch dann öffnete sich die Wohnungstür und aus der Küche kam nicht der leckere Geruch von gebratenem Fisch sondern lautes Weinen.

Da waren sie alle, Oma, Opa, mein Bruder, diverse Tanten und Onkel und alle weinten. Am lautesten aber weinte Johnny. Dem schossen die Tränen nur so aus den Augen und Oma Emma musste ihm ein Geschirrtuch nach dem anderen reichen. Die hat er alle nassgeweint. Der konnte gar nicht wieder aufhören.

So erzählst du es mir jetzt. Immer wieder und immer in etwas anderen Worten, aber Johnny und das Geschirrtuch, das hat sich in deinem Kopf festgesetzt, das Bild evozierst du jedes Mal. Das ist das Bild vom Tod deiner Mutter. Wer es dir dann gesagt hat und wie und was du gefühlt hast, das weißt du nicht mehr.

Das ist vom Schock über die Nachricht verschluckt. »Johnny hat schwer gelitten«, sagst du, und oft weinst du dann und ich verstehe, wie sehr du gelitten hast. Und ich verstehe jetzt auch, warum du immer gleich in Panik geraten bist, wenn es mir mal nicht so gut ging. Auch vermeintlich harmlose Krankheiten können böse enden, auch eine junge Frau kann plötzlich sterben, das hatte sich dir eingebrannt. Deine Frau sollte dir nicht wegsterben.

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18. Oktober 2022

Ich bin dir nicht weggestorben. Ich sitze dir am Frühstückstisch gegenüber und kann deine Mitteilung empfangen:

Du: Ich bin ganz alleine. Meine Mutter lebt nicht mehr. Und mein Vater ist jetzt auch tot.

Ich: Ja. Die leben beide nicht mehr.

Du: Ich muss meinen Bruder anrufen wegen der Beerdigung.

Ich: Das ist alles schon erledigt. Johnny ist ja schon vor 25 Jahren gestorben.

Du: Nein, da irrst du dich.

Ich: Ich kann ja mal die Traueranzeige holen. Dann kannst du es selbst sehen.

Du: Brauchst du nicht. Das weiß ich ja. Aber das war nur das erste Mal. Danach hat er sich ja noch mehrmals das Leben genommen.

Ich: Man kann nur einmal sterben. 

Du: Klar. Aber nach dem ersten Mal war es ja dann sein Cousin. Der hat ihn nur gespielt. Das war gar nicht der echte Johnny. Der echte Johnny ist gerade erst gestorben.

Ich: Aha. Wie ist dein Kaffee?

Du: Der ist gut.

Ich: Nicht zu stark?

Du: Genau richtig.

Ich: Prima.

Meistens klappt es mit der Ablenkung. Kaffee statt Johnny. Aber mir ist in diesem unserem Dauerdialog ein neues Element aufgefallen: Der Cousin, der Johnny gespielt hat. Das versetzt mir einen Stich, denn das scheint mir doch wieder ein Stück weiter weg von der Realität zu sein. Fürs Erste ist Johnny aus deinen Gedanken verschwunden, aber er wird unweigerlich im Laufe des Tages wieder aufploppen.

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Ich hoffe, dass du dann nicht wieder bei deinem Bruder anrufst und deine Schwägerin B. dich beruhigen und ablenken muss. Bestimmt ist sie genervt, weil sie genug damit zu tun hat, ihren eigenen Alzheimer-Mann zu beruhigen und abzulenken und ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich dich nicht von dem Anruf abgehalten habe, aber ich kann und will dich nicht permanent überwachen.

Zum Glück gibt es noch Zeiten, in denen du dich allein beschäftigst, so dass ich zum Beispiel dies hier schreiben kann. Ich sitze in meinem Zimmer und höre dich in deinem Kabuff rumoren. Bestimmt schaffst du wieder Ordnung. Dabei stößt du auf alte Briefe, auf Fotos, auf Ordner mit deinen Texten, Zeitungsausschnitte, alte Theaterprogramme, auf Berechnungen für Prozessöfen aus deiner Ingenieurszeit, alte Münzen, Kinderzeichnungen, den grauen lappigen Führerschein, Siegerurkunden von den Bundesjugendspielen.

Eine unendliche Vielfalt von Manifestationen deines/unseres Lebens hat sich angesammelt und beschäftigt dich. Danach legst du sie irgendwo ab, wo du sie besser aufgehoben glaubst. So kannst du demnächst erneut auf sie stoßen und dich mit ihnen beschäftigen. Oft zeigst du mir einige deiner Funde und wir haben einen Anlass, Erinnerungen aufzurufen und über sie zu sprechen. 


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier geht's zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch.