Ich navigiere, und du bist ein passabler Vorschoter - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (1)

Ich navigiere, und du bist ein passabler Vorschoter

Birgit Rabisch und Bernd Martens auf ihrem Jollenkreuzer.

Birgit Rabisch und Bernd Martens segelten 38 Jahre lang mit ihrem Jollenkreuzer auf der Elbe und der Nordsee. Bild privat

Der Schriftsteller Bernd Martens ist vergesslich geworden. Nun führen er und seine Ehefrau Birgit Rabisch eine Dreiecksbeziehung mit Monsieur Alzheimer. demenzjournal veröffentlicht nun in mehreren Teilen Rabischs Logbuch über den Törn ins Vergessen.

Seit 42 Jahren sind wir ein Paar. Und 38 Jahre lang waren wir ein Seglerpaar. Immer hast du auf unseren Törns das Logbuch geschrieben. Natürlich hast du es geschrieben, denn du warst der Schipper und ich nur die Landratte, die am Anfang viel lernen musste, bis sie eine halbwegs patente Vorschoterin abgab.

Du bist ein Mann des Wassers. Als Fischersohn in Finkenwerder geboren, bist du schon als Knirps mit einer Jolle auf der Elbe rumgeschippert und als junger Mann bist du ein paar Jahre als Maschinist auf große Fahrt gegangen. Dein späteres Berufsleben hat sich an Land abgespielt, aber im Sommer zog es dich unweigerlich aufs Wasser.

»Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.«

Aristoteles

Du hast einen alten Jollenkreuzer flottgemacht und mit ihm sind wir 38 Jahre lang ins Wattenmeer gesegelt. In 38 Logbüchern hast du Sturmfahrten und Flauten, unsere Fehler und unsere Glanzleistungen festgehalten, aber auch die spröde Schönheit des Landes beschrieben, das geformt von Ebbe und Flut, dem Meer gehört.

Partnerschaft und Demenz

Monsieur A. lässt nicht grüßen

Die Schriftsteller:innen Birgit Rabisch und Bernd Hans Martens sind seit 1980 ein Paar. Seit er vergesslich geworden ist, haben die beiden eine Dreiecksbeziehung … weiterlesen

Jetzt ist der Jollenkreuzer verkauft und es ist an mir, das Logbuch über unseren letzten Törn zu schreiben, denn du kannst es nicht mehr. Dieser Törn führt uns nicht ins Land, das dem Meer gehört, sondern ins Land, das dem Vergessen gehört.

Auch dort gibt es Stürme und Flauten und jetzt bin ich die Schipperin, die sie meistern muss, wohl wissend, dass unser Boot am Ende unweigerlich festkommen wird und keine Flut es wieder heben kann. Aber noch sind wir unterwegs und wir sind zusammen und immer wieder scheint die Sonne zwischen den Wolken hervor. Ich muss navigieren, aber du gibst noch einen passablen Vorschoter ab und weißt die Segel zu setzen.

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»Starkwind von vorn«, klage ich.
»Na und? Dann reffen wir eben und kreuzen«, antwortest du.

Recht hast du. Unser Törn ins Vergessen ist keine gemütliche Sonntagnachmittagsfahrt mit geblähten Segeln bei Wind von achtern. Wir müssen gegen den Wind kreuzen, das Boot kippt in die Schräglage und Gischt spritzt uns nass. Doch am Abend im Hafen, wenn die Klamotten getrocknet sind und die Petroleumlampe unsere Gesichter weichzeichnet, stoßen wir mit heißem Fliederbeergrog darauf an, dass wir wieder einen Tag standgehalten haben.

»Und wenn der Starkwind zum Sturm wird?«
»Dann bleiben wir eben im Hafen«, sagst du. »Hauptsache, wir sind zusammen und das Boot geht nicht unter.«

Ja, denke ich und hoffe, dass ich noch lange die immer größer werdenden Lecks im Rumpf abdichten kann, die du nicht mehr siehst.

Logbuch »Unser Törn ins Vergessen«

Birgit Rabisch wuchs in Hamburg und Schleswig Holstein auf. Während ihres Germanistikstudiums arbeitete sie als Altenpflegerin. Seit 1980 veröffentlichte sie diverse Bücher, unter anderem «Unter Markenmenschen», «Duplik Jonas 7» und «Die vier Liebeszeiten».

Ihr Ehegatte Bernd Hans Martens entstammt einer Dynastie von Finkenwerder (bei Hamburg) Fischern. Er befuhr auf einem Handelsschiff die Weltmeere und wurde später Schriftsteller (u.a. Roman «Die Heringsbraut»). Seit 2020 lebt er mit der Diagnose Alzheimer. demenzjournal veröffentlicht in loser Folge Birgit Rabischs Tagebuch über das Leben an Martens Seite.

> Hier geht’s zu Birgit Rabischs Website


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen. Sie leisten einen wertvollen Beitrag zur Enttabuisierung des Themas Demenz.