»Willst du mich zum Dementen abstempeln?« - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (6)

»Willst du mich zum Dementen abstempeln?«

Bernd Martens flickt etwas auf dem Segelschiff.

Knoten machen, Öl wechseln, Karten lesen oder Tidentabellen verstehen: Das alles war für Bernd Martens kein Problem. Bild Privat

Der Jollenkreuzer Timpe Te ist bis zur Mastspitze voller Erinnerungen an das Leben von Birgit und Bernd. Doch nach einem verunglückten Ankermanöver und starken Rückenschmerzen muss er weg.

1. Februar 2020

Warum hast du schließlich abgemustert? Noch heute schimpfst du über den Dünkel der Offiziere, die an Bord eine eigene Kaste bildeten und selbst die Mahlzeiten nicht mit der Mannschaft gemeinsam einnahmen, sondern schön separat in der Offiziersmesse. Auch untereinander wurde höchster Wert auf die Hierarchiestufen gelegt. Der Erste Ingenieur blickte auf den Zweiten herab und der auf den Assistenten.

Jedenfalls war das damals so. Gibt es auch heute, in Zeiten stark verkleinerter Mannschaften auf den Containerschiffen, eine separate Offiziersmesse? Keine Ahnung, aber ich fürchte, da hat sich nichts geändert. Wie auch immer: Nachdem du noch eine Zeitlang als Alleinmaschinist im Lärm und Gestank des Maschinenraums des kleinen Frachtschiffs Martha Friesecke die Nord- und Ostsee befahren hattest, reichten dir die Bärbeißigkeit und die Schimpfkanonaden des Kapitäns, die amüsant nur in Comics sind.[1] 1969 stand deine Entscheidung fest: Du würdest deinen Weg an Land weitergehen.

Der Frachter Martha
Auf dem kleinen Frachter Martha Friesecke befuhr Bernd Martens als Maschinist die Nord- und Ostsee.Bild Seeschiffe und Schifffahrt von gestern

Beruflich hat deine maritime Vergangenheit damals geendet, aber privat bist du immer ein »Wassermann« geblieben, wie Jan Delay ihn beschreibt:

Also wenn ihr mich sucht
Ich bin am Wasser, Mann
… Ja, ihr findet mich
Da, wo’s windig ist
Wo die Wellen brechen
Sonnenbrille im Gesicht … Lifestyle Maritim
Das is was ich lieb
… Denn ich fühl mich zuhaus
Wo es blau ist und rauscht
Und das Möwengeschrei
Alles Böse vertreibt …

Und jetzt wollte, jetzt musste ich dich überzeugen, unseren Jollenkreuzer Timpe Te zu verkaufen, das Boot, das bis zur Mastspitze voller Erinnerungen an unser Leben, Lieben und Schreiben steckte? Wie sollte das gehen?

Spotify/Jan Delay

3. Februar 2020

Meine einzige Chance war, es auf meine Kappe zu nehmen. Also klagte ich immer wieder, meinen arthritischen Fingern bekomme die Kälte und Feuchtigkeit an Bord gar nicht gut und mein Rücken tue vom gebückten Stehen in der Kajüte weh. Wie immer, wenn es um meine Gesundheit ging, warst du sehr besorgt.

Zu Hilfe kam mir ein glücklicherweise verunglücktes Ankermanöver vor der Elbinsel Pagensand. Wir wurden auf andere Boote zugetrieben und du hast hektisch den Motor angeschmissen und mit gebeugtem Rücken den schweren Anker eingeholt. Am nächsten Tag hattest du heftige Rückenschmerzen, die meinen Behandlungsversuchen (Schmerzmittel, Wärme, Stufenlagerung) trotzten und auch nach Tagen noch anhielten. Wir brachen die Reise ab und knatterten unter Motor nach Finkenwerder zurück.  

Am 8. Juli 2015 hast du in das Logbuch geschrieben:

Grundsätzliches Gespräch – da auch Birgit mit ihrem empfindlichen Rücken und nun meine Rückenprobleme das Segeln (dazu den ziemlich schweren Motor beim Auf- und Niedersetzen) problematisch und schmerzhaft machen, kann es so nicht weitergehen! Wir denken, dass es für uns die letzte Saison werden wird. Ein Motorboot ist kein Ersatz und schließe ich aus. Es wird für mich noch verdammt schwer werden. »Sonst noch Probleme«, fragt meine innere Stimme. Antwort: »Hol dien Muul!«[3]

Das habe ich aus deinem Logbuch 2015 abgeschrieben. Die Logbücher unserer Segeltörns sind jetzt ein wahrer Schatz. Aber nicht nur, weil die Gedächtnisarbeit mit Alzheimer-Patienten in allen einschlägigen Broschüren hoch gepriesen wird, werde ich zusammen mit dir noch oft hineinschauen. Auch mir tut es gut, mich an diese unbeschwerten Zeiten zu erinnern.

Hier geht’s zur dritten Folge von Birgit Rabischs Logbuch

In Neuwerk kommen Kutschen über das Wattenmeer.

Unser Törn ins Vergessen (3)

Heute wird Goethe nicht anrufen

Neben seiner üblichen Tarnung als Altersvergesslichkeit, hatte sich Monsieur A. bei dir eine besonders perfide Strategie ausgedacht. Man könnte auch sagen, er hat … weiterlesen

Als wir wieder zuhause waren, ging es deinem Rücken langsam besser. Und natürlich schien es dir mit Abklingeln der Schmerzen plötzlich gar nicht mehr so einleuchtend, das Segeln aufzugeben. Auf meine vorsichtigen Hinweise auf deine Vergesslichkeit reagiertest du unerwartet aggressiv:

»Vergisst du etwa nie etwas? Das ist im Alter völlig normal. Willst du mich etwa zum Dementen abstempeln?«

Bernd Martens

Immer hatte deine Vergesslichkeit eine Erklärung: Du warst gerade abgelenkt, hast an was Wichtiges gedacht, bist unterbrochen worden.

Du: Was brauchen wir vom Markt?

Ich: Kartoffeln, eine Steckrübe und Äpfel. Hühnerfilet diesmal nicht. Schreib’s dir lieber auf.

Du: Ich werde ja wohl noch drei Sachen behalten können!

Ich: Nur sicherheitshalber.

Du: Quatsch! Unsere Klassenlehrerin hat immer gesagt: Schreibt keine Einkaufszettel. Merkt euch das lieber im Kopf. Das schult das Gedächtnis.

Ich: Das mag ja für Kinder gelten. Aber ich glaube, es ist sicherer, wenn du …

Du: Um was wollen wir wetten, dass ich mir auch ohne Zettel Kartoffeln, Steckrübe und Hühnerfilet merken kann?

Ich: Kein Hühnerfilet! Äpfel!

Du: Okay, okay, alles klar. Also, um was wetten wir?

Ich: Wenn du verlierst, musst du mich heute Nachmittag zum Eisessen einladen.

Du: Abgemacht! Also: Kartoffeln, Steckrübe, Äpfel.

Ich: Genau.

Du kommst zurück und packst den Rucksack aus:

Wie gewünscht, Madame: Kartoffeln, Steckrübe und Hühnerfilet.

Ich: Äpfel! Kein Hühnerfilet!

Du: Verdammt! Aber weißt du, ich habe Mattes auf dem Markt getroffen und wir haben uns festgeklönt und da habe ich dann wohl was verwechselt. Umso besser. Jetzt darf ich dich endlich zum Eis einladen.

Ich: Aber einen großen Becher, bitteschön!





[1]z. B. wenn Kapitän Haddock in Tim und Struppi poltert: Hunderttausend heulende und jaulende Höllenhunde!



[2] Jan Delay: Wassermann



[3] niederdeutsch: Halt‘s Maul!

Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.