Heute wird Goethe nicht anrufen - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (3)

Heute wird Goethe nicht anrufen

In Neuwerk kommen Kutschen über das Wattenmeer.

Am Wattenmeer um Neuwerk passierte es zum ersten Mal: Bernd Martens Bein knickte auf dem Weg zur Badestelle einfach so weg. Bild privat

Neben seiner üblichen Tarnung als Altersvergesslichkeit, hatte sich Monsieur A. bei dir eine besonders perfide Strategie ausgedacht. Man könnte auch sagen, er hat mit einem Compagnon zusammengearbeitet, hinter dem er lange nicht sichtbar wurde.

9. Januar 2020

Mein 67. Geburtstag.

Du hast den Zettel verloren, auf dem ich dir schon vor einer Woche meinen Geburtstagswunsch aufgeschrieben hatte. Ich schreibe auf einen neuen Zettel John von Düffel: Goethe ruft an und du sagst:

»Ich muss mal weg.«

Ich weiß, dass du den Weg zum Buchladen in der Osterstraße noch findest. Als du zurückkommst, hast du lila Tulpen in der Hand und bedauerst:

»Das Buch muss erst bestellt werden.«

Heute wird Goethe nicht anrufen.

10. Januar 2020

Heute Geburtstagsfeier mit A. und S.. In einem Roman müsste ich meinen Sohn A. und unseren Sohn S. jetzt hier einführen. Und auch dich habe ich bisher nur als Fischersohn und Segler vorgestellt.

»Man weiß ja gar nicht, wer das ist, den dieser Monsieur A. zu okkupieren droht«, würdest du kritisieren und du hättest Recht. Als mein Schriftsteller-Kollege warst du immer der erste kritische Lektor meiner Texte, so wie ich auch deine Texte erbarmungslos seziert habe.

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Das werde ich nachholen, versprochen! Ich werde versuchen zu beschreiben, wer du warst und wer du bist und wer wir waren und wer wir jetzt sind. Aber jetzt habe ich dazu keine Zeit. Ich muss Kuchen backen!

17. Januar 2020

Inzwischen ist so viel passiert (u.a. war ich krank), dass ich nicht zum Schreiben gekommen bin. Trotzdem werde ich weiter ein Datum über jedem Abschnitt eintragen, als Anhaltspunkt dafür, wann ich etwas schreibe, und nicht, wann etwas stattgefunden hat.

Back to the roots! Vielleicht hole ich die Zeit wieder ein. Dummes Zeug. Man kann die Zeit nicht einholen, kann sie sich nicht wieder holen, kann sie nur erinnernd wiederholen.

Wann habe ich zum ersten Mal bemerkt, dass M. Alzheimer sich bei dir eingeschlichen hat?

28. Januar 2020

Neben seiner üblichen Tarnung als Altersvergesslichkeit, hatte er sich bei dir eine besonders perfide Strategie ausgedacht. Man könnte auch sagen, er hat mit einem Compagnon zusammengearbeitet, hinter dem er lange nicht sichtbar wurde.

Im Sommer 2014 hatten wir uns entschieden, nicht mehr mit unserem Jollenkreuzer ins nordfriesische Wattenmeer zu schippern, sondern nur noch von unserem Heimathafen Finkenwerder in Hamburg aus die Elbe runter bis zur Insel Neuwerk. Im April hatten wir deinen siebzigsten Geburtstag gefeiert, ich war sweet little 16, wenn man die Zahlen umdrehte, im Vorjahr hatten dich nach dem Ankereinholen starke Rückenschmerzen geplagt und auch mir bekam das gebückte Stehen in unserer kleinen Kajüte nicht mehr so wirklich gut.

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Das ist dann wohl dieser ominöse Zustand namens Alter, scherzten wir. Also: dieses Jahr wollten wir alles mal n büschen suutje (norddeutsch für ruhig, gemütlich) angehen lassen. Und warum in die Ferne schweifen, Neuwerk ist doch auch sehr schön, trösteten wir uns.

Natürlich ist das kleine Hamburger Eiland in der Außenelbe nicht unsere Lieblingsinsel Amrum, es ist auch keine einsame Hallig wie Gröde mit ihrem herben Charme, aber auch Neuwerk liegt mitten im Watt, hat einen verschlickten und entsprechend wenig frequentierten Mini-Hafen, und wenn die Tagestouristen, die mit der Fähre oder mit Kutschen übers Watt kommen, wieder weg sind, stellt sich bei der abendlichen Deichwanderung das einsame Inselfeeling schnell wieder ein.

Neuwerk enttäuschte uns nicht. Hatte es uns noch im Jahr zuvor nur als Absprunghafen für die Überfahrt nach Nordfriesland gedient, verbrachten wir diesmal eine ganze Woche dort mit Herumstromern im Watt, Wandern auf dem Deich und im Vorland, Vögel beobachten, stilles Sitzen im Schatten der Bäume auf dem Friedhof der Namenlosen und Baden, wenn die Flut kam.

Das erste Mal war nicht der Rede wert

Auf dem Weg zur Badestelle ist es dann zum ersten Mal passiert, aber du hast es mir verschwiegen. Es war ja auch gleich wieder vorbei und nicht der Rede wert. Ich erfuhr erst davon, als wir schon zwei Tage wieder zuhause waren und du sagtest:

»Ich muss mal zum Doktor.«

»Wieso, was ist denn los?«

»Gestern Abend im Flur hat es so geflimmert vor meinen Augen und mein Bein ist plötzlich weggeknickt. Und das war auf Neuwerk auch schon mal.«

Unser Törn ins Vergessen

Birgit Rabisch wuchs in Hamburg und Schleswig Holstein auf. Während ihres Germanistikstudiums arbeitete sie als Altenpflegerin. Seit 1980 veröffentlichte sie diverse Bücher, unter anderem «Unter Markenmenschen», «Duplik Jonas 7» und «Die vier Liebeszeiten».

Ihr Ehegatte Bernd Hans Martens entstammt einer Dynastie von Finkenwerder (bei Hamburg) Fischern. Er befuhr auf einem Handelsschiff die Weltmeere und wurde später Schriftsteller (u.a. Roman «Die Heringsbraut»). Seit 2020 lebt er mit der Diagnose «Alzheimer». demenzjournal veröffentlicht in loser Folge Birgit Rabischs Tagebuch über das Leben an Martens Seite.

≻ Hier geht’s zu Birgit Rabischs Website


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.