Die Hilfe gibt es nur in der Theorie - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (10)

Die Hilfe gibt es nur in der Theorie

Birgit Rabisch und Hans Martens

Während der Pandemie sind Brigit und Bernd eingesperrt in ihren vier Wänden. Bild privat

Birgit und Bernd brauchen dringend Unterstützung. Doch vorerst gibt es die nur in der Theorie. Ein wegen der Pandemie beschäftigungsloser Cutter und ein freundlicher Sachbearbeiter der Krankenkasse helfen den beiden aus der Patsche. Birgit gibt die Pflege-Bürokratie zu denken.

11. Oktober 2022

Die siebte Welle steigt gerade steil an; die Variante BQ1.1 droht BA5 abzulösen, gegen die gerade geimpft wird. Zweieinhalb Jahre Corona liegen hinter mir, liegen hinter uns beiden, liegen hinter uns allen. Aus uns allen wurden viele Teilgruppen mit sehr unterschiedlichen Wegen, mit der Pandemie umzugehen. Jetzt sind wir alle erschöpft und coronamüde, aber auch damit gehen wir sehr unterschiedlich um. Mir ermöglicht seltsamerweise gerade diese Erschöpfung, dass ich wieder schreiben kann. Dass ich dies hier schreiben kann.

Als Corona über uns hereinbrach, stand ich unter Schock. Ich war doch gerade erst dabei, mich in der völlig veränderten Welt zurechtzufinden, in die wir durch deine Demenz hineingeraten waren! Ich bemühte mich, in dieser fremden Welt gangbare Wege durch unsicheres Gelände zu finden, und jetzt drohte gerade auf diesen Wegen Gefahr. Lebensgefahr! Es ging nicht mehr darum, soziale Kontakte zu suchen und zu erhalten, sondern sie zu meiden. Jeder Kontakt mutierte zur Infektionsgefahr.

Folglich sagte ich die Termine beim Arbeiter Samariter Bund und dem Hirnleistungstraining ab, den Klönschnack mit den netten neuen Nachbarn, Einladungen zu Geburtstagen und geselligen Treffen. In unserem Freundeskreis telefonierten wir nur noch, gaben uns Tipps, wie man einen Mund-Nase-Schutz nähte (Ich schick dir mal das YouTube-Video), wo man seriöse Informationen über die Pandemie bekam (Hör dir mal den Podcast mit Prof. Drosten an) und später, wo man einen Impftermin ergattern konnte.

Neben Monsieur Alzheimer ist kein Platz für Corona

Ich erspare Ihnen und mir, mehr über den weiteren Verlauf der Pandemie zu schreiben, ihre verschiedenen Stadien, ihre Auswirkungen auf die Politik und auf das Zusammenleben der Menschen. Wir alle kennen das bis zum Überdruss. Ich will über unsere Ménage à trois mit Monsieur Alzheimer schreiben und da ist überhaupt kein Platz für eine Vierte im Bunde! So dachte ich damals und so denke ich heute noch. Leider kümmert das die Vierte nicht und sie drängelt sich penetrant herein und so muss ich mein Leben mit Monsieur Alzheimer und Madame Corona führen. Beide zerren mich in entgegengesetzte Richtungen. Ein gedeihlicher Umgang mit Monsieur A. erfordert unsere Einbettung in ein dicht geknüpftes Netz sozialer Kontakte. Die Abwehr von Madame C. verlangt social distancing. Monsieur A. muss ich mit Gelassenheit begegnen, gegen Madame C. muss ich mich mit nicht nachlassender Wachsamkeit wappnen.

Vielleicht waren es diese entgegengesetzten Zugkräfte, die es mir nach dem Einbruch der Corona-Pandemie unmöglich machten, etwas in Worte zu fassen. Ich konnte ja nicht fassen, was mit uns geschah. Plötzlich war ich alt, du alt und dement und jetzt wurden wir auch noch bedroht von einer todbringenden Seuche. Ich musste uns beide schützen. Handeln war angesagt, nicht reflektieren und schon gar nicht literarisieren oder poetisieren.

Du gehörtest mit deinen 76 Jahren zur Gruppe der Hochgefährdeten. Du durftest diese verdammte Krankheit nicht kriegen! Ich sah dich auf einer Intensivstation liegen, am Beatmungsgerät oder gar der berüchtigten ECMO[1] und ich dürfte nicht einmal zu dir. Das war eine Horrorvision, die mich nachts nicht schlafen ließ. Wir igelten uns ein, mieden Kontakte, wo immer möglich. Aber wir mussten Lebensmittel einkaufen. Mussten wir wirklich? Es gab doch Lieferdienste. Leider waren auf diese Lösung auch schon andere verfallen und die Lieferdienste waren auf Monate ausgebucht.

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Wolkenfische (4)

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Die Einkaufshilfe, die nicht helfen kann

Ich studierte noch einmal die klugen Broschüren zum Thema Demenz, die sich bei mir stapelten. Mit dem Pflegegrad 2 hattest du einen Anspruch auf Hilfen im Alltag. Das hörte sich nach einem Ausweg an! Sie mussten allerdings von einem anerkannten Pflegedienst erbracht werden. Ich telefonierte mit dem Roten Kreuz. Ja, eine Einkaufhilfe könne von dem sogenannten Entlastungsbetrag im Wert von monatlich 125 Euro finanziert werden, sagte die Dame mit gepresster Stimme, aber sie hätten absolut niemanden, der das übernehmen könne. Alle arbeiteten am Anschlag und weit darüber hinaus. Die Personaldecke sei normalerweise schon auf Kante genäht, aber jetzt durch Corona gehe gar nichts mehr. Es tue ihr sehr leid, aber ich solle es bei einem anderen Pflegedienst versuchen.

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Als nächstes versuchte ich es beim Arbeiter Samariter Bund und danach bei allen zugelassenen Pflegediensten in Hamburg, selbst den kleinsten, mit immer demselben Ergebnis: Der Anspruch bestand, aber die Hilfe gab es nur theoretisch. Das in den Broschüren versprochene dichte Netz von abgestimmten Hilfen bei Demenz erwies sich in der Pandemie als löcheriges Geisternetz.

Ich fühlte mich hilflos, als Versagerin. Zum ersten Mal im Leben warst du existenziell auf meinen Schutz angewiesen und ich konnte dich nicht schützen.

Mein Adrenalinspiegel stieg. Es musste einen Weg geben! Im Internet fand ich Careship, eine Plattform, über die man sogenannte Alltagshelfer*innen buchen konnte. Ich fragte nach einer Einkaufshilfe und tatsächlich konnte ich schon ab der nächsten Woche jemanden bekommen. Der Stundenlohn betrug allerdings 50,00 Euro und für einen Einkauf wurden 100,00 Euro berechnet. Aber das war mir egal. Wir hatten einen Notgroschen auf dem Sparbuch und jetzt waren wir in Not. Ich buchte einen Termin.

Ein Cutter und ein Sachbearbeiter helfen aus der Patsche

Der junge Mann, den Careship uns schickte, erwies sich als Glücksfall. Er war ein selbstständiger Cutter, dem durch den Lockdown die Aufträge weggebrochen waren, denn auch die Filmbranche stand still; man drehte nicht, drehte höchstens durch. Er belieferte uns fast ein Jahr lang zuverlässig mit Lebensmitteln, bis wir uns, mittlerweile geimpft und mit FFP2-Masken versehen, wieder selbst in die Supermärkte trauen konnten. Und es gelang mir sogar, doch noch einen Finanzierungsweg zu finden, der im Dschungel der Regelungen in der Pflegeversicherung gut versteckt war.

Den Weg wies mir ein freundlicher und verständnisvoller Sachbearbeiter der Krankenkasse. Er bewilligte für dich eine stundenweise Verhinderungspflege in Kombination mit einer Kurzzeitpflege, die eigentlich für deine Betreuung gedacht sind, wenn ich wegen Krankheit oder Urlaub ausfallen sollte. Zu den Merkwürdigkeiten der Systems gehört, dass diese Leistungen nicht von einem anerkannten Pflegedienst erbracht werden müssen, während der Entlastungsbetrag, der für haushaltnahe Dienstleistungen wie Putzen und Einkaufen verwendet werden kann, nur von einem solchen erbracht werden darf.

Allein die Begrifflichkeiten im vorhergehenden Absatz geben vielleicht einen kleinen Einblick in die Bürokratie, mit der sich eine pflegende Angehörige herumschlagen muss. Das dürfte für viele eine heillose (vielleicht gewollte?) Überforderung sein. Wer seine Ansprüche nicht kennt, stellt sie nicht und spart der Pflegekasse Geld.


[1] ECMO = Extrakorporale Membranoxygenierung. Bei der ECMO übernimmt eine Maschine außerhalb des Körpers die Atmungsfunktionen.


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.