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Unser Törn ins Vergessen (4)

Du hast immer eine Erklärung

Krabbenpulen auf Pellworm: Bernd Martens ernährte sich sehr gesund und trieb Sport. Trotzdem erkrankte er früh an Alzheimer und hatte mit 70 einen kleinen Schlaganfall.

Krabbenpulen auf Pellworm: Bernd Martens ernährte sich sehr gesund und trieb Sport. Trotzdem erkrankte er früh an Alzheimer und hatte mit 70 einen kleinen Schlaganfall. Bild Privat

Du hast so oft Ordnung geschaffen, dass jetzt das totale Chaos herrscht. Nicht nur ist alles mit Zetteln in allen Größen übersät, es liegen Kartons, leere Gläser, Bücher, Aktenordner, Werkzeug und Aussortiertes herum.

29. Januar 2020

Vom Arzt zurück kamst du mit einer Einweisung ins Krankenhaus, aus dem du eine Woche später wieder entlassen wurdest. Diagnose: Verdacht auf TIA.

Auf diese ungute Art erweiterte sich mein Wortschatz um einen neuen medizinischen Begriff: TIA = Transitorische Ischämische Attacke = ein Mini-Schlaganfall, der keine bleibenden Schäden hinterlässt, jedenfalls keine nachweisbaren.

Mein erstes Gefühl: Das ist ungerecht!!!

Durch den Schlaganfall meiner Mutter mit einundachtzig Jahren wusste ich genug über Schlaganfälle und die dafür bekannten Risikofaktoren: Rauchen, Diabetes, Übergewicht, hoher Blutdruck, hohes Cholesterin, zu wenig Bewegung, Dauerstress. Nichts davon traf auf dich zu, aber auch gar nichts! Und du warst erst siebzig! Du bist 2-3-mal in der Woche gelaufen und fast täglich Fahrrad gefahren.

Wir lebten sehr gesund, was soll der Blödsinn?

Und wir ernährten uns schon seit Jahrzehnten gesund (und lecker): Mittelmeerkost mit viel Obst und Gemüse, Olivenöl, Vollkorngetreide, frisch gemahlen mit unserer Mühle, selten Fleisch. Also: Was sollte der Blödsinn? Wieso erwischt es dich elf Jahre früher als meine Mutter mit ihrem Übergewicht, ihrem extrem hohen Blutdruck, ihrer Ernährung, die alles enthielt, was schlecht und ungesund sein soll?

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Prävention

Noch kennt die Forschung die Ursachen von Demenz nicht wirklich. Doch wir können einiges dafür tun, um das Risiko einer Erkrankung zu senken. weiterlesen

Diese Risikofaktoren basieren nur auf statistischen Werten, die nichts aussagen für den Einzelfall, siehe Lungenkrebsrisiken und den Kettenraucher Helmut Schmidt? Ja, ja, weiß ich doch! Aber auch weitere Untersuchungen beim Kardiologen, bei der Neurologin, durch ein MRT ergaben: Du bist kerngesund. Keine Herzrhythmusstörungen, keine Arteriosklerose, freie Halsschlagadern. Fazit: Du und schlaganfallgefährdet? Das konnte gar nicht sein!

Es schien aber so zu sein. In den darauffolgenden Monaten hattest du noch mehrmals plötzliche Sehstörungen. Die Ärzte verschrieben ASS, das altbewährte Aspirin, zur Vorbeugung und drückten dir Broschüren über die Risikofaktoren des Schlaganfalls in die Hand.

In der nachfolgenden Zeit begannen sich Dialoge wie dieser zu häufen:

Ich: »Hast du Mattes schon zurückgerufen?«
Du: »Sollte ich das?«
Ich: »Ja, er meinte doch, es ist wichtig.«
Du: »Ach ja. Mach ich gleich. Ich muss nur eben diesen Absatz zu Ende schreiben.«

Am Abend:

Ich: »Und? Was wollte Mattes?«
Du: »Mattes? Wieso?«
Ich: »Hast du ihn immer noch nicht zurückgerufen?«
Du: »Sollte ich das?«
Ich: »Also wirklich! Ich hab dich doch extra nochmal daran erinnert! Du wolltest nur noch eben einen Absatz zu Ende schreiben, hast du gesagt.«
Du: »Verdammt! Stimmt! Aber du weißt doch selbst, wie das ist. Ich war gerade so richtig drin in meinem Text, hab endlich die Szene zu packen gekriegt, da hab ich immer weitergeschrieben und dann nicht mehr dran gedacht.«
Ich: »Klar. Kenn ich. Aber jetzt ruf endlich an!«

Was ist typisch an dieser Szene? Das Vergessen, natürlich. Aber auch deine Erklärung. Du hast immer eine Erklärung, wenn du etwas vergisst. Und in der Tat kann das jedem mal passieren. Aber bei dir passierte es eben nicht nur mal, sondern immer häufiger. Dazu verlegtest du ständig alle möglichen Dinge. Wir verbrachten Stunden auf der Suche nach deinem Portemonnaie, diversen Schlüsseln, der Krankenkassenkarte, der Kreditkarte etc. Und dein sonst so aufgeräumtes Kabuff (unser Name für dein 6 qm kleines Arbeitszimmer) verwandelte sich nach und nach in ein Zettelmeer.

Du mit Blick auf meinen Blick in dein Kabuff: »Ich weiß, ich weiß, ich muss hier dringend mal Ordnung schaffen
Ich: »Würde ich auch sagen. Ich frag mich, wie du dich da noch zurechtfindest.«

Erste Anzeichen von Vergesslichkeit schon mit 64

Das war vor vier, fünf Jahren. Seitdem hast du in deinem Kabuff so oft Ordnung geschaffen, dass jetzt das totale Chaos herrscht. Nicht nur sind dein Schreibtisch, das Bücherregal und das als Ablage dienende Bett mit Zetteln in allen Größen übersät, es liegen Kartons, leere Gläser, Bücher, Aktenordner, Werkzeug und Aussortiertes herum. Solange es keine Essensreste sind, sage ich nichts mehr dazu. Es ist dein heiliges Reich und immer, wenn ich es betrachte, denke ich: So sieht es jetzt auch in deinem Gehirn aus.

Erste Anzeichen für Monsieur Alzheimer gab es also schon 2014. Leidest du etwa an der Erkrankung, vor der ich mich mehr als vor allen anderen fürchte, fragte ich mich damals. Ich forschte im Internet nach Frühzeichen und glaubte, bei einer anderen Demenzform fündig zu werden, bei der vaskulären Demenz.

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Symptome

Eine Demenz vermindert Hirnleistungen wie erinnern, sprechen, rechnen, erkennen, bewegen und beurteilen. Die Erkrankung kann auch Verhalten und Gemüt verändern. weiterlesen

Das war der Compagnon, den der verschlagene Monsieur A. in mein Sichtfeld schob. Als eine Unterform dieser Demenz fand ich die Multiinfarkt-Demenz, die durch mehrere kleine Hirninfarkte (Schlaganfälle) entsteht. Genau das traf doch auf dich zu! Weiter las ich: Meist treten die Symptome plötzlich auf und verschlechtern sich schubweise. Manche vaskuläre Demenz-Formen schreiten aber auch nur langsam fort.

Aha! Manche schreiten nur langsam fort. Es gibt nicht diesen erbarmungslosen kontinuierlichen Abstieg wie bei Alzheimer! Wenn es uns gelingt, weitere Mini-Schlaganfälle zu verhindern, können wir vielleicht auch das Fortschreiten der Demenz verhindern. Aber wie? Was können wir denn bloß noch an unseren Lebensgewohnheiten optimieren?

Unser Törn ins Vergessen

Birgit Rabisch wuchs in Hamburg und Schleswig Holstein auf. Während ihres Germanistikstudiums arbeitete sie als Altenpflegerin. Seit 1980 veröffentlichte sie diverse Bücher, unter anderem «Unter Markenmenschen», «Duplik Jonas 7» und «Die vier Liebeszeiten».

Ihr Ehegatte Bernd Hans Martens entstammt einer Dynastie von Finkenwerder (bei Hamburg) Fischern. Er befuhr auf einem Handelsschiff die Weltmeere und wurde später Schriftsteller (u.a. Roman «Die Heringsbraut»). Seit 2020 lebt er mit der Diagnose «Alzheimer». demenzjournal veröffentlicht in loser Folge Birgit Rabischs Tagebuch über das Leben an Martens Seite.

> Hier geht’s zu Birgit Rabischs Website


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.