Alles halb so wild, das kriegen wir hin! - demenzjournal.com

Unser Törn ins Vergessen (5)

Alles halb so wild, das kriegen wir hin!

Boote bei Ebbe im Schlick.

Birgit fürchtet sich vor weiteren Törns. Wenn der Jollenkreuzer bei Ebbe im Schlick steckt, ist es schwierig, Hilfe zu bekommen. Bild Privat

Ich wollte schon 2015 nicht mehr auf Segeltörn gehen, weil ich Angst hatte vor einem Notfall. Aber ich ließ mich von deiner optimistischen Sicht anstecken.

30. Januar 2020

Nachdem du 2015 noch etliche Male kurze Sehstörungen erlitten hattest, fürchtete ich mich ständig davor, du könntest einen echten Schlaganfall erleiden. Was das bedeutet, hatte ich an meiner Mutter gesehen, die nach ihrem schweren Schlaganfall fünf Jahre bettlägerig war, künstlich ernährt wurde, kaum artikulationsfähig und am Ende ohne Bewusstsein war.

Vor unserem Segeltörn im Sommer plagte mich die Horrorvision: Wir liegen mit unserem Boot weit draußen im Watt, wo wir keinen Handyempfang haben, und plötzlich stammelst du mit hängender Unterlippe Unverständliches. Was tue ich dann?

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Oder: Wir liegen vor der unbewohnten Elbinsel Neßsand, die zwar nur eine gute Segelstunde von unserem Heimathafen Finkenwerder entfernt ist, aber wenn es schnell gehen müsste, und bei einem Schlaganfall muss es sehr schnell gehen: Wie können die Rettungskräfte uns erreichen? Kann ein Hubschrauber auf der Insel landen? Können sie sich durch die Wildnis und den Schilfgürtel zu uns durchschlagen? Von der Wasserseite sieht es nur bei Flut besser aus: Ein flachgehendes Boot hätte eine Chance. Aber wenn gerade Ebbe ist? Das Watt ist hier so schlickig, dass man darin steckenbleibt.  

So sehr ich unsere Segeltörns immer genossen habe, am liebsten wäre ich 2015 gar nicht mehr losgefahren. Aber davon wolltest du natürlich nichts wissen:

»Albern! Wir sind mitten in der Zivilisation. Und außerdem: Ich kriege keinen Schlaganfall. Kommt gar nicht infrage!«

Hans Martens

Worte, die so ganz deinem optimistischen Wesen entsprechen. Ach, das wird schon. Das kriegen wir hin. Alles halb so wild. Es kommt, wie es kommt, und wir machen das Beste daraus. Während ich mich innerlich auf die schlimmsten Szenarien vorbereite, um ihnen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, und mich freue, wenn es doch nicht so dicke kommt.

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Angehörige

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Ich ließ mich von deiner optimistischen Sicht anstecken und wir brachen auch im Sommer 2015 zu einem Segeltörn auf. Und du behieltest Recht: unterwegs keine Sehstörungen und schon gar kein Schlaganfall. Ich bemerkte aber zunehmend irritiert, dass vieles nicht mehr so klappte wie gewohnt.

Während du früher nach einem kurzen Blick in den Tidenkalender unseren nächsten Tagestörn geplant hattest, hocktest du jetzt stundenlang über dem kleinen blauen Buch mit den Hoch- und Niedrigwasserzeiten aller Häfen entlang der Elbe und stelltest auf immer neuen Zetteln wilde Berechnungen an, nur um sie kurz darauf zu verwerfen und erneut in den Tidenkalender zu gucken.

Und plötzlich wusstest du, der seit Kinderzeiten segelt, nicht mehr, wie man die Fockschot am Mast festmacht. Und im alten Hafen von Brunsbüttel, in den wir auf fast jedem Törn eingelaufen sind, musste ich dir sagen, wo die Sanitärgebäude sind. Langsam wurde mir klar: Wir sollten einen Termin für dich in der Gedächtnisambulanz der Uniklinik machen. Und: Ende der Segelei. Wir müssen unser Boot verkaufen. Doch wie sollte ich dich dazu bewegen? Du ohne Boot? Das wäre wie eine Amputation. Das war unvorstellbar.

31. Januar 2020

Du bist ein Finkenwerder Jung geblieben, auch wenn du inzwischen ein alter Eimsbütteler (Stadtteil von Hamburg) geworden bist. Aufgewachsen bist du auf Finkenwerder, wo einst die größte Fischfangflotte des deutschen Reiches beheimatet war. Dein Urgroßvater war Flussfischer, dein Großvater Seefischer. Ihm gehörte zusammen mit einem Macker (im Finkenwerder Platt der Miteigentümer eines Fischkutters) der Kutter H.F.299, auf dem auch dein Vater Johnny später mitfuhr.

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Biografie

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Als dein Großvater sich zur Ruhe setzen wollte, sollte Johnny den Kutter übernehmen. Doch er hätte den Macker auszahlen und deinem Großvater eine lebenslange Rente zahlen müssen. Der Fischfang auf Finkenwerder war durch die Konkurrenz mit den viel leistungsfähigeren Fischdampfern im steten Niedergang, ein Prozess, dessen Anfänge schon Gorch Fock in seinem berühmten Roman Seefahrt ist not! beschrieben hat.

Auch wollte deine Mutter ihren Johnny endlich an Land haben. So wurde der Kutter verkauft und dein Vater fuhr als Schiffsführer den Hafenarzt, der die Mannschaften der einlaufenden Schiffe im Hamburger Hafen auf Seuchen untersuchte und die Ratten, die sich an Bord geschlichen hatten, tötete. Du bist öfter mit ihm mitgefahren und als Zwölfjähriger hast du auch einmal eine Fangfahrt bis zur Doggerbank auf einem Kutter mitgemacht.

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Beruf

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Mit der Seekrankheit hattest du nie Probleme, auch nicht mit der schweren Arbeit, aber mit der strengen Hierarchie und dem barschen Befehlston an Bord. Das kanntest du von deinem Vater zur Genüge – und du hast es gehasst! Als Johnny dich nach der Fahrt hoffnungsfroh fragte, ob du dir vorstellen könntest, nach der Schule auf einem Fischkutter anzufangen, hast du nur stumm den Kopf geschüttelt.

Zur See gefahren bist du dann aber doch. Nach deiner Lehre als Maschinenschlosser auf der Werft Bloom & Voss hättest du deinen Wehrdienst ableisten müssen. Man wurde damals aber nicht eingezogen, wenn man auf einem Schiff angeheuert hatte. Das schien dir das kleinere Übel zu sein.  So warst du ab 1965 als Ingenieur Assistent, unbefahren mit der Nauni Russ im Fahrtgebiet Nord- und Ostsee unterwegs. So steht es in deinem Seefahrtsbuch, das du bis heute aufbewahrst. 1964 ging es mit der Hugo Stinnes auf große Fahrt und bis 1969 hast du auf diversen Frachtschiffen die halbe Welt bereist.

Hier kannst du den ersten Teil lesen von Birgit Rabischs Logbuch

Birgit Rabisch und Bernd Martens auf ihrem Jollenkreuzer.

Unser Törn ins Vergessen (1)

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Eine Erinnerung aus dieser Zeit erzählst du heute immer wieder und jedes Mal fast wortgleich:

»Also wir lagen da in Gabun vor Anker und das Schiff musste beladen werden. Mit diesen großen Baumstämmen. Die haben ja jede Menge Urwald da. Das machten die Gabuner, die transportierten die mit ihren Booten und wir hatten Ladebäume an Bord. Der Zimmermann hatte extra für die Hütten auf Deck gebaut zum Übernachten und eine Kochstelle. Das dauerte ja damals noch viele Wochen. Wir mussten natürlich Wache schieben, aber immer mal wieder konnten wir auch an Land.

Ein Matrose kam auf die Idee, ein Kanu zu mieten und damit den Lambarene-River runter zu schippern bis zu Albert Schweitzer. Der hatte da ja sein Urwald-Krankenhaus. Na, wir los und gepaddelt und gepaddelt und um uns rum schwammen fröhlich Krokodile, aber die waren gar nicht das Problem, sondern die Lianen. Der Fluss war total zugewachsen. Wir kamen einfach nicht weiter trotz Macheten und so. Es half alles nichts, wir mussten umdrehen und so hab ich den berühmten Urwald-Doktor nie zu Gesicht gekriegt.«

Bei den Krokodilen kommen mir Zweifel, aber sonst scheint es mir eine stimmige Erinnerung zu sein, seltsamerweise aber die einzige an deine Seefahrtszeit, die du immer wieder abspulst. Stürme? Häfen? Kneipen? Seemannsbräute? All diese Stichworte, die klischeehaft mit der Seefahrt in Verbindung gebracht werden, triggern bei dir nichts.

Unser Törn ins Vergessen

Birgit Rabisch wuchs in Hamburg und Schleswig Holstein auf. Während ihres Germanistikstudiums arbeitete sie als Altenpflegerin. Seit 1980 veröffentlichte sie diverse Bücher, unter anderem «Unter Markenmenschen», «Duplik Jonas 7» und «Die vier Liebeszeiten».

Ihr Ehegatte Bernd Hans Martens entstammt einer Dynastie von Finkenwerder (bei Hamburg) Fischern. Er befuhr auf einem Handelsschiff die Weltmeere und wurde später Schriftsteller (u.a. Roman «Die Heringsbraut»). Seit 2020 lebt er mit der Diagnose «Alzheimer». demenzjournal veröffentlicht in loser Folge Birgit Rabischs Tagebuch über das Leben an Martens Seite.

≻ Hier geht’s zu Birgit Rabischs Website


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen. Den nächsten Teil des Logbuchs kannst du demnächst bei uns lesen.

> Hier findest du die bereits veröffentlichen Logbücher von Birgit Rabisch