In den 80er Jahren war der Wind unser Freund. Wir genossen die leichte Brise in unseren Haaren oder ein mäßiger bis frischer Wind schob uns voran. Ich arbeitete im Literaturpostverlag im Herausgeberteam zu deinem Gedichtband Ich schrubb von unten mit. Wir diskutierten über deine Texte, feilten an ihnen, kommentierten sie, konfrontierten sie, zerpflückten manche, verwarfen einige. Bei deinen politischen und ökologischen Gedichten fiel mir das leicht, zum Beispiel bei dem Gedicht, das uns später zum Buchtitel Ich schrubb von unten inspirierte:
Bombenstimmung im Treppenschacht
Einige Nachbarn tanzen
zehenspitz über den Feudel
oder tapsen
breitmundig um den Wassereimer
Klönschnack und Seifenlauge
schlagen Wellen
ich schrubb von unten
langsam ändern sich die Töne
achtzig Jahre steht dies Haus, sagt einer
nach dem, was man so hört
verdampft alles
in Sekundenschnelle
11. November 2022
Das Gedicht entstand 1981, in einer Zeit, als US-Präsident Ronald Reagan den Bau von Neutronenbomben in Auftrag gab. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass es heute nicht weniger aktuell ist, wo der russische Präsident Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Und in der Ukraine herrscht Tag für Tag, Haus um Haus Bombenstimmung im Treppenschacht.
Solche Gedanken bringen immer wieder meinen Schreibfluss zum Versiegen. Die Schrecken der Jetztzeit stellen sich meiner inneren Reise in unsere Vergangenheit entgegen. Was hilft? Antrainierte Schreibdisziplin? Nach deiner Diagnose und dem Einbruch von Corona hat sie mir zweieinhalb Jahre nicht geholfen.
Aber jetzt will ich nicht wieder verstummen und will auch nicht aus der Not eine Tugend machen und die lange Reihe von geschwätziger Writer’s block-Literatur verlängern. Ich zwinge mich zu ein paar positiven Gedanken: In Brasilien hat Bolsonaro nicht die Wahl gewonnen und in den USA haben die meisten von Trumps Kandidaten bei den Midterms nicht reüssiert. Positiv kann auch sein, was nicht passiert.
Back to the roots, zurück zu unseren Wurzeln.
Wilstergrüner Wiesenwind
grüßt dich
Marschenkind
nordwestlich flatterhaft
wehen deine Gedanken
in Großmutters Stube
duftende Bratäpfel
kachelofenwarm
mischen sich in unsere Küsse
auf der
Deichkrone
Dass du dieses Gedicht für mich geschrieben hast, blieb natürlich im Herausgeberteam nicht lange ein Geheimnis. In der Kommentarspalte schrieb eine Petra (keine Ahnung mehr, wer das war):
… wieder eins von deinen »versteckten« Liebesgedichten.
Du selbst hast kommentiert:
Hier in der Wilstermarsch ist Birgit aufgewachsen. In diesem flachen Land vertiefte sich meine Liebe zu ihr.
In der Tat: ich bin in der Kleinstadt Wilster aufgewachsen, bei meinen Großeltern, die es am Ende des II. Weltkrieges als Vertriebene aus Pommernland ist abgebrannt dorthin verschlagen hatte. Besucht haben wir beide Wilster allerdings erst Jahrzehnte, nachdem du das Gedicht geschrieben hast, wohl aber waren wir in der Wilstermarsch bei der großen Demo gegen den Bau des Atomkraftwerkes im nahegelegenen Dorf Brokdorf.
Auf dem Deich haben wir uns nicht geküsst, sondern uns feuchte Taschentücher vor die Münder gehalten gegen die Tränengasschwaden aus den über uns kreisenden Hubschraubern. Dein Gedicht lügt und spricht doch wahr. Du erschafft darin die Atmosphäre meiner Kindheit, einer kachelofenwarmen Kindheit, dominiert von meiner Hart, aber herzlich-Oma mit ihrer nimmermüden Fürsorge.