Unser Törn ins Vergessen (20) von Birgit Rabisch
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Unser Törn ins Vergessen (20)

»Halt das Schiff im Wind, verdammt!«

Jollenkreuzer von Bernd und Birgit Martens Timpe Te

Die Timpe Te mit Brigit Rabisch und Bernd Martens auf flottem Halbwindkurs. Bild privat

Birgit und Bernd wurden ein Seglerpaar, das gleich beim zweiten gemeinsamen Törn in einen Gewittersturm geriet. Wegen Bernds fortschreitender Krankheit fühlt sich Birgit manchmal zurückversetzt in diesen Sturm. Allerdings hat er nach ihrem Empfinden »erst« die Stärke 7.

8. November 2022

Mit einem Tagestörn von Finkenwerder zur Elbinsel Neßsand begann unser Leben als Seglerpaar, über dessen Ende nach achtunddreißig Jahren ich am Anfang dieses Logbuchs geschrieben habe. Bei unserem ersten Törn half dir alles, mich Landratte zum Wasser zu verführen: Sonnenschein, milde Winde und du als geduldiger Erklärer seemännischer Begriffe.

Doch schon beim zweiten Mal hatte sich alles dazu verschworen, dass ich der Segelei endgültig abschwöre: ein schwülheißer Sommertag, eine rasch näherkommende lila Wolke, dein beharrliches Da sitzt nichts drin, die schlagartig einsetzende Gewittersturmböe, die den Jollenkreuzer in eine gefährliche Schräglage drückte, deine Schreie Schmeiß die Fock los!, meine Hilflosigkeit, weil ich zwar schon wusste, was die Fock ist, aber nicht, wie man sie losschmeißt.

Schließlich hast du mich zur Seite gedrängt, mir die Fockschot aus der Hand gerissen, hast mir dann das Ruder in die Hand gedrückt, um selbst die Segel runterzuholen. Deine Schreie Halt das Boot im Wind! Im Wind, verdammt! versetzten mich nur weiter in Panik, weil ich auch sie nicht verstand. Natürlich vervollständigten prasselnder Regen und Blitz und Donner die meine Furcht erregende Szenerie.

Irgendwann hattest du die Segel unten. Irgendwann hattest du den Motor gestartet. Irgendwann legte sich die Gewitterböe so schnell, wie sie aufgekommen war. Irgendwann steuertest du das Boot auf die Nebenelbe. Irgendwann lagen wir vor Neßsand am Anker. Das Wasser plätscherte ruhig an den Rumpf. Wir zogen trockene Sachen an. Wir tranken heißen Tee mit Rum. Du ergingst dich in Selbstbezichtigungen über deine Leichtsinnigkeit und Dummheit und schworst, nie wieder eine Gewitterwolke nicht ernst zu nehmen. Ich glaubte dir und musterte nicht ab.

Du hast Gewitterwolken auch später nie ernst genommen, aber mich. Wenn ich mutmaßte, da könne was drin sein, hast du brav die Segel runtergenommen und wir haben einen Hafen oder einen halbwegs ruhigen Ankerplatz angesteuert.

Die Gewittersturmböe, die unsere junge Liebe auf die Probe stellte, hat sehr viel später Eingang in meinem Roman Die vier Liebeszeiten [1] gefunden. Und auch deine Bücher sind auf vielfältige Weise vom Segeln auf der Elbe und im Wattenmeer geprägt worden. Nach unserem ersten großen Törn nach Nordfriesland, ins Meer der Halligen, hast du dieses Gedicht für mich geschrieben:

Friesische Botschaft

Krabbenpulen
wir lernen schnell und gewöhnen uns
ans Glück
fliegen zum Leuchtturm
mit Rückenwind
geben Lichtsignale
kurz – lang
lebe unsere Liebe

9. November 2022

Dieses Gedicht ist dann 1982 in deinem ersten Buch Ich schrubb von unten [2] erschienen und zwar im kurz zuvor gegründeten Literaturpostverlag, in dem auch mein erster Lyrikband Jammerürik [3] veröffentlicht wurde. In den Büchern dieses Verlages wurden auch Kommentare aus den Schreibgruppen und Leserbriefe mit abgedruckt und so findet sich in meiner Jammerlürik dein Kommentar zu meinen Gedichten:

Mir gefallen die meisten Texte einfach gut; sie sind aufknöpfend und anbändelnd.

Schräg darunter steht der handschriftliche Vermerk (kopiert) von Frederike Frei:

Er hat angebändelt!

Auf diese wunderbare Art wurde unsere Verbandelung öffentlich. Jahre später schrieb ich dir dieses Gedicht in eine Glückwunschkarte zum Geburtstag:

sturmfest

vertäut an deiner Seele
gefesselt von deinem Körper
verstrickt in dein Leben
die Knoten halten auch
bei Beaufort > 10

10. November 2022

Ist deine Alzheimer-Erkrankung schon ein Sturm der Stärke 10 und mehr? Die Beaufortskala definiert Stärke 10 auf See:

Sehr hohe Wellen, weiße Flecken auf dem Wasser, lange, überbrechende Kämme, schwere Brecher.

Nein, so weit sind wir noch nicht, noch lange nicht, wie ich hoffe. Noch würde ich Windstärke 7 an Land als Metapher wählen:

Bäume schwanken, fühlbare Hemmungen beim Gehen gegen den Wind.

Gegen die fühlbare Hemmung angehen, ja, das kann ich. Aber werden die Knoten unserer Verbandelung auch bei mehr als Beaufort 10 halten, wie ich versprochen habe?

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Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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In den 80er Jahren war der Wind unser Freund. Wir genossen die leichte Brise in unseren Haaren oder ein mäßiger bis frischer Wind schob uns voran. Ich arbeitete im Literaturpostverlag im Herausgeberteam zu deinem Gedichtband Ich schrubb von unten mit. Wir diskutierten über deine Texte, feilten an ihnen, kommentierten sie, konfrontierten sie, zerpflückten manche, verwarfen einige. Bei deinen politischen und ökologischen Gedichten fiel mir das leicht, zum Beispiel bei dem Gedicht, das uns später zum Buchtitel Ich schrubb von unten inspirierte:

Bombenstimmung im Treppenschacht

Einige Nachbarn tanzen
zehenspitz über den Feudel
oder tapsen
breitmundig um den Wassereimer
Klönschnack und Seifenlauge
schlagen Wellen

ich schrubb von unten
langsam ändern sich die Töne
achtzig Jahre steht dies Haus, sagt einer
nach dem, was man so hört
verdampft alles
in Sekundenschnelle

11. November 2022

Das Gedicht entstand 1981, in einer Zeit, als US-Präsident Ronald Reagan den Bau von Neutronenbomben in Auftrag gab. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass es heute nicht weniger aktuell ist, wo der russische Präsident Putin mit dem Einsatz von Atomwaffen droht. Und in der Ukraine herrscht Tag für Tag, Haus um Haus Bombenstimmung im Treppenschacht.

Solche Gedanken bringen immer wieder meinen Schreibfluss zum Versiegen. Die Schrecken der Jetztzeit stellen sich meiner inneren Reise in unsere Vergangenheit entgegen. Was hilft? Antrainierte Schreibdisziplin? Nach deiner Diagnose und dem Einbruch von Corona hat sie mir zweieinhalb Jahre nicht geholfen.

Aber jetzt will ich nicht wieder verstummen und will auch nicht aus der Not eine Tugend machen und die lange Reihe von geschwätziger Writer’s block-Literatur verlängern. Ich zwinge mich zu ein paar positiven Gedanken: In Brasilien hat Bolsonaro nicht die Wahl gewonnen und in den USA haben die meisten von Trumps Kandidaten bei den Midterms nicht reüssiert. Positiv kann auch sein, was nicht passiert.

Back to the roots, zurück zu unseren Wurzeln.

Wilstergrüner Wiesenwind

grüßt dich
Marschenkind
nordwestlich flatterhaft
wehen deine Gedanken
in Großmutters Stube
duftende Bratäpfel
kachelofenwarm
mischen sich in unsere Küsse
auf der
Deichkrone

Dass du dieses Gedicht für mich geschrieben hast, blieb natürlich im Herausgeberteam nicht lange ein Geheimnis. In der Kommentarspalte schrieb eine Petra (keine Ahnung mehr, wer das war):

… wieder eins von deinen »versteckten« Liebesgedichten.

Du selbst hast kommentiert:

Hier in der Wilstermarsch ist Birgit aufgewachsen. In diesem flachen Land vertiefte sich meine Liebe zu ihr.

In der Tat: ich bin in der Kleinstadt Wilster aufgewachsen, bei meinen Großeltern, die es am Ende des II. Weltkrieges als Vertriebene aus Pommernland ist abgebrannt dorthin verschlagen hatte. Besucht haben wir beide Wilster allerdings erst Jahrzehnte, nachdem du das Gedicht geschrieben hast, wohl aber waren wir in der Wilstermarsch bei der großen Demo gegen den Bau des Atomkraftwerkes im nahegelegenen Dorf Brokdorf.

Auf dem Deich haben wir uns nicht geküsst, sondern uns feuchte Taschentücher vor die Münder gehalten gegen die Tränengasschwaden aus den über uns kreisenden Hubschraubern. Dein Gedicht lügt und spricht doch wahr. Du erschafft darin die Atmosphäre meiner Kindheit, einer kachelofenwarmen Kindheit, dominiert von meiner Hart, aber herzlich-Oma mit ihrer nimmermüden Fürsorge.

Partnerschaft und Demenz

Monsieur A. lässt nicht grüßen

Die Schriftsteller:innen Birgit Rabisch und Bernd Hans Martens sind seit 1980 ein Paar. Seit er vergesslich geworden ist, haben die beiden eine Dreiecksbeziehung … weiterlesen

Damals wusste ich noch nichts von ihrer Vergangenheit, wusste nichts von der jungen Frau, die in der Weimarer Republik mit dem Organisator der Schwarzen Reichswehr verlobt war, wusste nichts von den Fememorden ihres ältesten Bruders. Erst viele Jahre später würde ich nach umfangreichen Recherchen über sie meinen Roman Die schwarze Rosa [4] schreiben. Da blieb nichts Kachelofenwarmes und der Duft der Bratäpfel half nicht gegen den Gestank im Wald verscharrter Leichen mit zwei Kugeln im Hinterhaupt.


[1] Birgit Rabisch, Die vier Liebeszeiten, Leipzig 2013; Neuauflage Verlag duotincta, Berlin 2016

[2] Bernd Hans Martens: Ich schrubb von unten, Hamburg 1982

[3] Birgit Rabisch: Jammerlürik, Hamburg 1980

[4] Birgit Rabisch: Die schwarze Rosa, Springe 2005; Neuauflage im Verlag duotincta, Berlin 2019


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

> Hier geht's zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch