Den Kopf leeren, Abstand gewinnen - demenzjournal.com

Das Tagebuch (74)

Den Kopf leeren, Abstand gewinnen

«Mir ist zum Heulen. Ich schäme mich meiner Wut, meiner Ungeduld und meiner lauten Worte. Ich stelle fest, dass auch in meiner Beziehung zu Paul das «Eis dünn geworden ist». Ich bin so müde von all den Besuchen, wo nichts bei ihm ankam, er mich oft kaum wahrgenommen hat.» U.Kehrli

Was tu ich mir hier an? Was möchte ich wirklich? Für mich sollten doch endlich Phasen der Ruhe möglich sein, fragt sich Frau Kehrli. Sie möchte wieder Wandern, zur Seelenruhe finden, Landschaften geniessen, den Kopf leeren, Abstand gewinnen. Doch auch dafür fehlt ihr die Kraft.

9. April 2013 – Lachseminar

Einer macht Faxen, 15 Leute schauen zu, kopieren die Faxen und Grimassen und bemühen sich, das Lachen nachzuahmen. Muskeln werden animiert, die jahrelang hinter Kummerfalten verkümmerten und tatenlos dem Alltagsleben feindlich gegenüberstanden.

Nun sollen sie aktiviert werden, durch den Leiter, der die Faxen macht. Und da man gutes Geld für das Seminar hinblättern musste, soll es sich lohnen, man macht alles mit. Zuletzt liegen alle entspannt auf roten Gymnastikmatten (Rot regt an, Grün würde beruhigen) und statt Entspannung und Ruhephase wird versteckt gekichert.

DAS TAGEBUCH

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Aber das ist nun echt, wie bei Kindern im Ferienlager damals, als der Lehrer streng in die Runde rief: «Nun aber Ruhe, sonst…» Das erweckte – damals jedenfalls noch – Respekt und das Kichern hört für eine Weile auf. Bis wieder Lachsalven von Schlafsack zu Schlafsack wanderten. Aber der Lehrer kam nicht mehr. Er hatte genug von der Rasselbande und trank derweil am Stammtisch mit den Einheimischen des Bergdorfes seinen Schlummertrunk.

Hier jedoch im Lachseminar animiert der Lehrer das aufflackernde Gekicher, ist froh, dass sich auf den starren Gesichtern, die er am Eingang noch begrüsste, nun langsam die Griesgram-Spuren glätten. Es gibt tatsächlich ein paar echte Lachsalven, die anstecken (gesehen auf TV SRF 1, «Sprechstunde», 8. April 2013).

Ich brauche kein Seminar. Obwohl auf meinem Gesicht in letzter Zeit mehr Sorgen- und Müdigkeitsfalten zu sehen sind als früher. Das Wetter widerspiegelte seit Wochen das Grau in meinem Innern oder umgekehrt. Jedenfalls brach Sonne durchs Gewölk, als Monika mir simste, um mich zum Mittagessen einzuladen. Danach gingen wir ins Gartencenter. Ein neues Thema, eine Wende! Zum Guten, denke ich.

Es dauerte keine fünf Minuten und ich sah ihn – und er mich. Es war Liebe auf den ersten Blick. Obwohl ich voll Überzeugung zu meinem Sohn sagte, dass ich mich nie mehr verlieben wollte. In meinem Alter, und überhaupt, ich liebe Paul und würde mir nicht einen «Pflegefall» anlachen wollen, Männer im gewissen Alter sind auch nicht gefeit vor Gebrechlichkeit.

Aber Schorsch blickte mich an mit anmutig leicht geneigtem Kopf und fesselte mich mit seinem Glanz in seinen Augen. Kurz, jetzt ist er bei mir, ohne lange zu überlegen entschloss ich mich, ihn nach Hause zu nehmen.

Er ist nun einfach da, schaut mich immer wieder an, und jedes Mal entlockt er mir ein Lächeln. Manchmal muss ich sogar laut lachen. Ich verstehe es nicht.

Zwei Steine, einer für den Kopf, einer für den Leib. Dann Metallfüsse, verzinkt, damit er nicht rostet, zwei glänzende Ringe als Augen, ein paar Stäbe für die Beine, Zehen, für den Wedel auf dem Kopf, der Schnabel aus Wellblech und so bringt er mich zum Lachen. Einfach so. Er ist witzig, frech, aber er ist pflegeleicht. Wenn ich ihn nicht mehr mag, kann ich Beine, Hals demontieren, ihn in vier Teile zerlegen.

Aber vorerst bringt er mich zum Lachen. Ich stelle mir vor, dass sich der Künstler das erhofft hatte. Mit seiner Kreativität, die ich genial finde, Menschen Freude zu bereiten. Ohne Seminar. Nebst schmunzeln und lächeln regt Schorsch mein Denken an: Hinter dieser Schöpfung steht ein Künstler, der Schorsch gemacht hat. Logo.

Mein Schorsch wurde ja auch nicht aus Zufall geboren. Einfach zwei Steine, Metallstäbe, Ringe hinlegen und die zufällig zusammenkommen zu lassen. Hinter der genialen Schöpfung der Erde, der Tiere, der Menschen muss doch eine Intelligenz stecken?

Ich habe keine Vorstellung, wie die aussehen könnte. Da ist mein Gehirn zu klein, um diese Grösse erfassen zu können. Aber dass es Intelligenz braucht, um etwas so geniales zu erschaffen, scheint mir eigentlich logisch. Und vor diesem Schöpfer (ich nenne ihn Gott), habe ich Respekt, Ehrfurcht und Demut.

12. April 2013 – Schmerzlicher Lichtblick

Missverständnisse. Paul fuchtelt mit einem Slip vor meinem Gesicht herum, faucht mich an, ich soll ihr den bringen. Ungeduldig schmeisst er ihn schliesslich fluchend auf den Tisch, weil ich nicht verstehe, was er möchte.

Erst wollte er auf die Toilette, wurde dann aber abgelenkt durch die Slipsuche im Schrank. Ich weiss ja, dass er krank ist, aber ich kann meinen Unmut nicht verstecken und erhebe die Stimme, sage es sei OK, er solle sich doch beruhigen. Ich will ablenken, ihn nach draussen locken, was zunächst gelingt, dann aber schimpft er vor dem Lift dermassen auf mich ein, dass wir umkehren müssen.

Er setzt sich hin im Zimmer, starrt frustriert hinaus, schimpft ab und zu über mich, ich sei blöd, eine dumme Zwetschge. Ich sei gemein.

Nie hätte er mir Schimpfwörter angeworfen, als er noch gesund war. Ich staune, dass er auf einmal klare Worte findet.

Ich nehme keine Notiz vom Gesagten, traurig schaue ich dem langen ICE-Zug nach, der vorbei rauscht, beobachte den Turmfalken beim Rütteln über dem Feld. Ich habe so was von genug von der ganzen Situation!

Paul steht auf und nimmt den Stock. Will nun doch hinaus. Draussen erneut Unzufriedenheit, Beschimpfungen, Wutausbrüche. Schliesslich will er wieder hinein. Nach einer Weile sagt er: Ich war doch gut, immer herumgerannt, alles gemacht. Viel. Er wirkt nun sehr niedergeschlagen. Ich möchte reden.

Er versucht mir etwas zu erklären, sein Herz auszuschütten. Zwischendurch verstehe ich dank einzelner, klarer Worte dass er enttäuscht ist von mir, dass ich immer weggehe, ihn allein lasse. Das ist nicht gut, warum ist das so?

Ursula Kehrli im Inteerview

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Mir ist zum Heulen. Ich schäme mich meiner Wut, meiner Ungeduld und meiner lauten Worte. Ich stelle fest, dass auch in meiner Beziehung zu Paul das «Eis dünn geworden ist». Ich bin so müde von all den Besuchen, wo nichts bei ihm ankam, er mich oft kaum wahrgenommen hat.

Heute brachte ich ihm Hühnersuppe, wärmte sie in der Mikrowelle, da freute er sich sichtlich darüber. Ja, die sieht schon gut aus, sagte er strahlend. Er war hungrig, hatte in den letzten Tagen nicht viel gegessen, wegen dem kranken Zahn.

Wie er so vor mir sitzt, mir die Hände hält, die ich auf seine Knie gelegt habe, wie er versucht ein Gespräch zu führen, merke ich dass, er heute recht klar denken kann, ihm nur die richtigen Worte fehlen.

Ich erkläre ihm, dass er einen Hirnschlag hatte, daher nun im Pflegeheim sei. Er nickt mehrmals, als ob er verstanden hätte. Und es mir auch leid täte, dass wir getrennt sind, füge ich hinzu.

Ich versuche ihn mit einem Puzzle abzulenken. Er ereifert sich am Spiel, ich helfe, er freut sich, wie es fertig vor uns liegt. Plötzlich räumt er es vom Tisch. Ich komme mit, ich will nach Hause! Bestimmt zeige ich auf sein Bett: Schau, hier ist dein Bett, hier ist dein zuhause. Du bleibst hier. Ich komme wieder. Einmal mehr verabschiede ich mich mit einem schlechten Gefühl. Traurig, weil ich es wie er empfinde: Wir gehören doch zusammen! Merde!

18. April 2013 – Tau in der Wüste

Berge von Aufgaben, den Garten planen, die Helfer für das Tor melden sich nicht. Muss die Geranien selbst aus dem Keller holen, die Kakteen ebenfalls. Das sind Arbeiten, die Kraft rauben. Nächstes Jahr mache ich das bestimmt nicht mehr. Dieser Vorsatz versandete bereits im letzten Herbst, als ich die fünf Kisten mit den Geranien in den Keller tragen liess.

Du hast die schönsten Geranien im Dorf, hörte ich oft. Die alten Sorten blühen reichlicher als die neuen, schnell angetriebenen. Also kellerte ich sie wieder ein, um sie jetzt wieder heraufzuholen und neu einzupflanzen. Ein ganzer Vormittag körperliche Arbeit!

Kraftlos schleiche ich mich in die Küche, um etwas zu essen. Ein Dahinschleppen wie früher, nach einer anstrengenden Bergtour. Trotz fast stündlichen Ruhepausen. Was tu ich mir hier an? Was möchte ich wirklich? Für mich sollten doch endlich Phasen der Ruhe möglich sein.

Ich möchte wieder Wandern, zur Seelenruhe finden. Landschaften geniessen, den Kopf leeren, Abstand gewinnen. Doch auch dafür fehlt mir jetzt die Kraft. Wenigstens nachmittags? Rucksack, Wasserflasche füllen, Snacks einpacken. Noch schnell das Mittagessen vorbereiten, es ist halb zwölf. Da: Monika steht vor der Tür. Oh, mein Engel! entfährt es mir. Hund Xenos stürmische Begrüssung wirft mich fast um. Komm, ich hab genug zu Essen für uns beide.

Plötzliche Veränderungen – wenn auch sehr willkommene – bringen mich in letzter Zeit etwas unter Druck. Multitasking ist nicht mehr eine Selbstverständlichkeit.

Obwohl ich mich riesig freue, werde ich dennoch gefordert. Xeno, der auf der Terrasse vor der Küche wartet, muss nun aber dringend. Er möchte sicher gern in der Sense baden. Ich pilgere heute also durchs Sensetal. Staunen über das viele Schmelzwasser, ich erfreue mich am Blumenteppich im Wald, am blühenden Immergrün. Morcheln suchen ist heute zwecklos, zu viele Spuren um die Eschen herum.

Komm, wir gehen in die Landi, vielleicht finden wir dort noch Töpfe, Monika sprudelt vor Kraft und Eingebung. Sie hat meinen Garten vor dem Haus super geplant, will ihre Ideen nun schleunigst umsetzen. Um fünfhundert Franken erleichtert, das Auto voller Töpfe, Rosen, Sträucher, Moor- und Topferde, fahren wir heim. Auch mit einem Bäumchen im Gepäck, einer Stern-Magnolie.

Und mit einem schlechtem Gewissen. Wie soll ich Ruedi nun erklären, dass der bestellte Kirschbaum doch nicht vors Haus passt? Monika packt an. Nach einer Stunde sind Magnolie, Hortensien und Rosen eingepflanzt, Kübel werden gefüllt und in Stellung gebracht. Die ersten Bewunderer bleiben am Zaun stehen.

Kaum ist Monika weg, ruft sie wieder an: Ich bin im Baumarkt, habe noch Lavendel entdeckt. Eine halbe Stunde später sind auch diese sieben Pflanzen im Boden. Ich sitze vor dem Haus. Bewundere mein neues Gärtchen.

Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. Erst noch Verzweiflung, Frust, Hilflosigkeit, Wut. Und wieder Hilfeschreie zu Gott, vertrauend, ER hat noch immer geholfen. Ich werde auch da hindurch getragen. Es geht ja doch immer. Bin nicht verlassen, nicht vergessen. (Fortsetzung folgt …)