9. April 2013 – Lachseminar
Einer macht Faxen, 15 Leute schauen zu, kopieren die Faxen und Grimassen und bemühen sich, das Lachen nachzuahmen. Muskeln werden animiert, die jahrelang hinter Kummerfalten verkümmerten und tatenlos dem Alltagsleben feindlich gegenüberstanden.
Nun sollen sie aktiviert werden, durch den Leiter, der die Faxen macht. Und da man gutes Geld für das Seminar hinblättern musste, soll es sich lohnen, man macht alles mit. Zuletzt liegen alle entspannt auf roten Gymnastikmatten (Rot regt an, Grün würde beruhigen) und statt Entspannung und Ruhephase wird versteckt gekichert.
DAS TAGEBUCH
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Aber das ist nun echt, wie bei Kindern im Ferienlager damals, als der Lehrer streng in die Runde rief: «Nun aber Ruhe, sonst…» Das erweckte – damals jedenfalls noch – Respekt und das Kichern hört für eine Weile auf. Bis wieder Lachsalven von Schlafsack zu Schlafsack wanderten. Aber der Lehrer kam nicht mehr. Er hatte genug von der Rasselbande und trank derweil am Stammtisch mit den Einheimischen des Bergdorfes seinen Schlummertrunk.
Hier jedoch im Lachseminar animiert der Lehrer das aufflackernde Gekicher, ist froh, dass sich auf den starren Gesichtern, die er am Eingang noch begrüsste, nun langsam die Griesgram-Spuren glätten. Es gibt tatsächlich ein paar echte Lachsalven, die anstecken (gesehen auf TV SRF 1, «Sprechstunde», 8. April 2013).
Ich brauche kein Seminar. Obwohl auf meinem Gesicht in letzter Zeit mehr Sorgen- und Müdigkeitsfalten zu sehen sind als früher. Das Wetter widerspiegelte seit Wochen das Grau in meinem Innern oder umgekehrt. Jedenfalls brach Sonne durchs Gewölk, als Monika mir simste, um mich zum Mittagessen einzuladen. Danach gingen wir ins Gartencenter. Ein neues Thema, eine Wende! Zum Guten, denke ich.
Es dauerte keine fünf Minuten und ich sah ihn – und er mich. Es war Liebe auf den ersten Blick. Obwohl ich voll Überzeugung zu meinem Sohn sagte, dass ich mich nie mehr verlieben wollte. In meinem Alter, und überhaupt, ich liebe Paul und würde mir nicht einen «Pflegefall» anlachen wollen, Männer im gewissen Alter sind auch nicht gefeit vor Gebrechlichkeit.
Aber Schorsch blickte mich an mit anmutig leicht geneigtem Kopf und fesselte mich mit seinem Glanz in seinen Augen. Kurz, jetzt ist er bei mir, ohne lange zu überlegen entschloss ich mich, ihn nach Hause zu nehmen.
Er ist nun einfach da, schaut mich immer wieder an, und jedes Mal entlockt er mir ein Lächeln. Manchmal muss ich sogar laut lachen. Ich verstehe es nicht.
Zwei Steine, einer für den Kopf, einer für den Leib. Dann Metallfüsse, verzinkt, damit er nicht rostet, zwei glänzende Ringe als Augen, ein paar Stäbe für die Beine, Zehen, für den Wedel auf dem Kopf, der Schnabel aus Wellblech und so bringt er mich zum Lachen. Einfach so. Er ist witzig, frech, aber er ist pflegeleicht. Wenn ich ihn nicht mehr mag, kann ich Beine, Hals demontieren, ihn in vier Teile zerlegen.
Aber vorerst bringt er mich zum Lachen. Ich stelle mir vor, dass sich der Künstler das erhofft hatte. Mit seiner Kreativität, die ich genial finde, Menschen Freude zu bereiten. Ohne Seminar. Nebst schmunzeln und lächeln regt Schorsch mein Denken an: Hinter dieser Schöpfung steht ein Künstler, der Schorsch gemacht hat. Logo.
Mein Schorsch wurde ja auch nicht aus Zufall geboren. Einfach zwei Steine, Metallstäbe, Ringe hinlegen und die zufällig zusammenkommen zu lassen. Hinter der genialen Schöpfung der Erde, der Tiere, der Menschen muss doch eine Intelligenz stecken?
Ich habe keine Vorstellung, wie die aussehen könnte. Da ist mein Gehirn zu klein, um diese Grösse erfassen zu können. Aber dass es Intelligenz braucht, um etwas so geniales zu erschaffen, scheint mir eigentlich logisch. Und vor diesem Schöpfer (ich nenne ihn Gott), habe ich Respekt, Ehrfurcht und Demut.
12. April 2013 – Schmerzlicher Lichtblick
Missverständnisse. Paul fuchtelt mit einem Slip vor meinem Gesicht herum, faucht mich an, ich soll ihr den bringen. Ungeduldig schmeisst er ihn schliesslich fluchend auf den Tisch, weil ich nicht verstehe, was er möchte.
Erst wollte er auf die Toilette, wurde dann aber abgelenkt durch die Slipsuche im Schrank. Ich weiss ja, dass er krank ist, aber ich kann meinen Unmut nicht verstecken und erhebe die Stimme, sage es sei OK, er solle sich doch beruhigen. Ich will ablenken, ihn nach draussen locken, was zunächst gelingt, dann aber schimpft er vor dem Lift dermassen auf mich ein, dass wir umkehren müssen.
Er setzt sich hin im Zimmer, starrt frustriert hinaus, schimpft ab und zu über mich, ich sei blöd, eine dumme Zwetschge. Ich sei gemein.
Nie hätte er mir Schimpfwörter angeworfen, als er noch gesund war. Ich staune, dass er auf einmal klare Worte findet.
Ich nehme keine Notiz vom Gesagten, traurig schaue ich dem langen ICE-Zug nach, der vorbei rauscht, beobachte den Turmfalken beim Rütteln über dem Feld. Ich habe so was von genug von der ganzen Situation!
Paul steht auf und nimmt den Stock. Will nun doch hinaus. Draussen erneut Unzufriedenheit, Beschimpfungen, Wutausbrüche. Schliesslich will er wieder hinein. Nach einer Weile sagt er: Ich war doch gut, immer herumgerannt, alles gemacht. Viel. Er wirkt nun sehr niedergeschlagen. Ich möchte reden.
Er versucht mir etwas zu erklären, sein Herz auszuschütten. Zwischendurch verstehe ich dank einzelner, klarer Worte dass er enttäuscht ist von mir, dass ich immer weggehe, ihn allein lasse. Das ist nicht gut, warum ist das so?