Überfordert mit der Betreuung - demenzjournal.com

Wolkenfische (4)

Ein einsamer Weg und eine Lebensaufgabe

«Ich kämpfe einen Kampf gegen die Angst, denn ich gerate ausserhalb der Massstäbe, die mich bisher geleitet haben.» ‹Die Troer› Susanna Erlanger

Mich plagen Selbstzweifel und Schuldgefühle. Zuhause kann ich Marc mit seiner fortschreitenden Demenz nicht mehr gerecht werden. Da ist es gut, eine Freundin zu haben, die ähnliches erlebt und Rat weiß.

Von Weitem sehe ich, dass du den Kopf einziehst beim Überqueren der breiten, vielbefahrenen Straße zum Supermarkt. Du schaust nicht links und nicht rechts. Später berichtet man mir, dass du dich im Geschäft nicht mehr zurechtfindest, und man dich durch die Regale begleiten muss.

Du kannst nicht mehr einkaufen in der Stadt. Wenn ich arbeite, sitzt du nun in der Wohnung und wartest auf mich. So ziehen wir in das Bergdorf in der Schweiz, das wir von den Ferien her kennen. Ich werde dort arbeiten, und du kannst ungefährdet den Postplatz zum Dorfladen, zur Bäckerei überqueren.

Blog Wolkenfische

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.
– Susanna Erlanger

Du willst etwas machen, sagst du. Du kämpfst mit Kleingeld und Einkaufszettel, und die Verkäuferin im Milchladen bittet mich, dich nicht mehr am Samstag zu schicken. Zu viele Kunden müssten warten, bis du fertig bist.

Wie ein Vogelschwarm

Es gibt Momente, die ins Absurde wachsen und an Choreographien von Vogelschwärmen erinnern, bei denen man sich fragt, welcher der Vögel zuerst losfliegt und wie die unsichtbare Welle zustandekommt, die die anderen Tiere erfasst, – und alle in die gleiche Richtung, und alle im gleichgeschwungenen Bogen.

Diese geheimnisvolle Welle, dieses Unsichtbare scheint nun auch deine Bewegungen zu bestimmen: Einmal bin ich auf dem Weg ins Badezimmer, und du biegst direkt vor meinen Füßen, aus der Küche kommend, dort ein, um »ein Glas abzuwaschen«. Einmal will ich einen Gegenstand vom Küchentisch nehmen, und noch bevor sich meine Hand nach ihm ausstrecken kann, liegt er schon in deiner.

Es ist, als ob du mein Leben brauchtest, um mit dir im Einklang zu sein.

Wird man aus alten Zusammenhängen herauskatapultiert,
hält man sich, so gut es geht, an dem fest,
das mit einem wegfliegt.

Ich werde dir nicht gerecht

Ich schreibe an meine Freundin E.:

»Ich schreibe Dir, weil ich am Telefon nicht offen mit Dir reden kann. Es geht mir sehr schlecht, seit ich wieder angefangen habe zu arbeiten. Ich habe Selbstzweifel. Ich kann weder Marc noch mir noch der Arbeit so gerecht werden, dass ich das Gefühl hätte, mein Bestes zu geben.

Es ist nicht mehr mein Bestes, es ist nur noch der hilflose Versuch zu genügen.

Marcs Veränderung ist immer deutlicher spürbar: vor allem sind unsere, mir so wichtigen, Gespräche nicht mehr möglich, und er versteht nicht mehr, was geschieht. Das belastet mich sehr und macht mich auch einsam. Ich möchte ihn aber nicht an eine Institution verlieren, nur weil ich anderem gerecht werden muss.

Heute Morgen hatte ich den Gedanken, dass ich auf Sommer einen Teil der Arbeit abgeben könnte an andere, um außerhalb weniger gefordert, respektive überfordert zu sein. Vielleicht wäre dies ein gangbarer Weg. Ich mache mir Gedanken, ob so eine Lösung finanziell überhaupt möglich wäre.

Ich vermute, in nächster Zeit wird die Krankheit sich verschlechtern und sich unsere Situation verändern, in welche Richtung, muss ich abwarten. Ich danke Dir sehr für unsere Telefonate, auch wenn wir uns nur in Andeutungen mitteilen können.«

Die Geschichte von Marc und Susanna Erlanger

Demenz und Sinnhaftigkeit

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E. antwortet:

»Ja, ich glaube, dass ich sehr genau weiß, wovon du redest und wie du fühlst. Oft denke ich, wie traurig es ist, dass beide Männer langsam aber kontinuierlich den gleichen Weg gehen müssen, und wir sie dabei nur begleiten können, es aushalten müssen, aber nichts verändern können. Und ich habe nun auch die Erfahrung gemacht, dass die Wohnung im Altersheim für mich nichts erleichtert.

Es ist ein einsamer Weg, aber auch eine Lebensaufgabe.

Nur zu deiner Orientierung: Ich habe für A., da er nicht mehr allein Zug, Tram etc. fahren kann, bei der AHV/IV (Alters-/Invalidenversicherung) nun einen Ausweis für Behinderte vom Statthalteramt mit Arztzeugnis bekommen. Daneben erhält er eine kleine Rente von der IV als Hilflosen-Entschädigung. Vielleicht erkundigst Du dich dazu auch einmal.

Auch ich schätze unsere Telefone sehr, auch wenn wir sorgsam uns ausdrücken müssen. Nie weiß man, was unsere Männer dann doch aufnehmen. Ich danke dir herzlich für dein Vertrauen.«

Wolkenfische (3)

Du tust die Veränderung ab

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Mail an E.:

»Ich danke Dir für Dein Schreiben. Ich hatte letzte Woche zwei Termine: den einen mit der Pflegeleiterin des Altersheims wegen des Besuchs der Tagesstruktur. M. wird nun jeweils am Montag, wenn er den ganzen Tag allein wäre, vom Altersheim betreut. Ich habe erzählt, was ihn interessiert (klassische Musik, Vögel beobachten, Natur) und die Leiterin war sehr offen dafür, ihm diese »Fenster zu öffnen«. Ich hoffe, dass er sich an diesen Tagen wohlfühlen kann.

Der zweite Termin war mit einer Dame, die das Thema Hilflosenentschädigung mit mir besprach. Sie denkt, dass wir für den ‹leichten Pflegefall› bereits ab August infrage kämen. Deinem Rat wegen der IV-Karte werde ich nachgehen. Ich werde die nächsten Wochen sehen, wie es weitergeht. Es kann ja sein, dass ich wieder zu Kräften komme.

Dass ich Marc zu einem großen Teil nicht mehr gerecht werden kann, beschäftigt mich sehr.

Manchmal merke ich nicht, dass er eine Aufgabe, die er noch übernehme könnte, zuerst einfach nicht begreift, dann werde ich ungeduldig, und er reagiert verzweifelt. Ich mache mir Vorwürfe deswegen. Nebst dem, dass ich meinen Arbeitskollegen ‹zu viel› Verständnis abverlange. Trotzdem werde ich nichts überstürzen und beobachten, wie sich die Tagesstruktur bewährt.

Dass das Altersheim Dich nicht entlasten kann, bedaure ich sehr. Liegt es daran, dass Ihr in einer Alterswohnung seid? Und wie ist es mit Entlastungen für den Haushalt oder der Möglichkeit einer Tagesstruktur für Deinen Mann, sodass Du einmal in aller Ruhe für Dich etwas machen kannst? Ich hoffe, Du findest eine gute Lösung, die Dir etwas Luft verschafft.»

«Diese Art von Journalismus hilft Betroffenen, Angehörigen und Fachpersonen. demenzjournal.com ist eine äusserst wertvolle Plattform, nicht zum Vergessen!»

Irene Bopp, ehemalig Leitende Ärztin Memory Clinic Waid in Zürich

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Ein Kampf gegen die Angst

Mail der Hausärztin: »BZ und Cholesterinwerte sind perfekt! Es hat sich gelohnt!«
(Damit meint sie, dass ich auf deine Ernährung achte.)

Mail an die Ärztin:

Das sind gute Nachrichten! Ich danke Ihnen dafür. Und ich möchte mich nochmals herzlich entschuldigen für unsere Ungeduld heute Morgen. Wir saßen nach dem Termin bei Ihnen anderthalb Stunden beim Augenarzt im Wartezimmer. Es war bis unters Dach voll. Mein Mann hat die ganze Zeit geschimpft, und ich habe ihn immer wieder – unauffällig – beruhigt. Es war eine Tortur … Ich habe an Sie gedacht, wie Sie bemüht waren, trotz Notfalldienst den Zeitrahmen einzuhalten! Nun ist dieser Tag durchgestanden. Ihnen wünsche ich ein schönes Wochenende und gute Erholung.

Ich kämpfe einen Kampf gegen die Angst, denn ich gerate außerhalb der Maßstäbe, die mich bisher geleitet haben. Und in der Welt derjenigen, die ihre Maßstäbe noch haben, befürchte ich mein Scheitern, mein Ungenügen.

(Fortsetzung folgt.)


Wir bedanken uns herzlich bei Susanna Erlanger, dass sie uns in vertrauensvoller Weise ihre Zwiesprache mit ihrem Mann Marc zur Verfügung stellt.