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Unser Törn ins Vergessen (25)

Du bist ein guter Vater gewesen

Bernd Martens und birguit Rabisch.

Birgits und Bernds Sohn S. schlief jeweils in der Hundkoje der Timpe Te, die hier auf Neßsand trocken liegt. Bild privat

Als der Sohn zu Besuch kommt und Bernd umarmt, kommen in Birgit viele schöne Erinnerungen hoch. Denn Bernd hat sich immer gut und wohlwollend um seinen Sohn gekümmert.

13. Dezember 2022 

Heute hat dir deine Neurologin ein neues Medikament verschrieben, eine Weiterentwicklung des bisherigen. Im neuen Jahr sollst du zur Blutentnahme kommen, um zu sehen, ob der Medikamentenspiegel hoch genug ist. Ich kann nur hoffen, dass sich der sechste Anfall möglichst lange herauszögern lässt. Und dass ich in deiner Nähe bin, wenn er erfolgt.

Ich habe inzwischen darüber nachgedacht, ob nicht auch schon deine früher als TIAs, also Mini-Schlaganfälle, diagnostizierten Sehstörungen und kurzen Black-Outs in Wirklichkeit epileptische Anfälle waren. Mir scheint viel dafür zu sprechen. Aber das wird man rückwirkend nicht mehr feststellen können, sage ich mir, und so ist es müßig, mir darüber den Kopf zu zerbrechen.

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Kurt Aeschbacher, Moderator und Verleger

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14. Dezember 2022

Heute hat S. uns besucht. Vor drei Wochen hat Corona auch ihn erwischt. Er ist 37 Jahre alt, gesund und viermal geimpft. Trotzdem hatte er mit der milden Omikron-Variante reichlich zu kämpfen. Jetzt geht es ihm zum Glück langsam besser und ich hoffe natürlich inständig, dass er von Long Covid verschont bleibt.

Gleich nach der Begrüßung fragte er dich:

»Na, wie geht’s dir?«

»Mi geiht dat goot, mien Jung«, hast du geantwortet – wie immer, wenn er dich nach deinem Befinden fragt.  

Ich sehe euch beide, wie ihr euch anlächelt, sehe den großen jungen Mann, der den Arm um den alten, gebeugten legt und denke zurück an den Tag, an dem ihr euch kennengelernt habt. Da lag S. bedeckt mit Blut und Käseschmiere auf meinem Bauch und die Hebamme reichte dir eine Schere:

»Wenn Sie wollen, dürfen sie die Nabelschnur durchtrennen.«

Eigentlich wolltest du nicht, hast du mir später gestanden, hattest Angst, etwas falsch zu machen, dem Baby oder mir zu schaden, aber du wolltest dich auch nicht vor der ersten an dich als Vater herangetragenen Aufgabe drücken. Beherzt hast du die unvermeidliche Trennung vollzogen. Doch viel Zeit, erleichtert und stolz auf das Vollbrachte zu sein, blieb dir nicht, denn gleich darauf wartete schon die nächste Aufgabe auf dich:

»Während Ihre Frau mit der Nachgeburt beschäftigt ist, dürfen Sie schon mal das Baby baden.«

Mit diesen Worten lotste dich die Hebamme aus dem Kreißsaal und so konntest du mir schließlich einen wohlduftenden, in weiche Frotteetücher gehüllten S. in den Arm legen. Beide betrachten wir ihn fasziniert und ich bildete mir ein, dass auch er uns ansah, obwohl Neugeborene ihren Blick angeblich noch gar nicht fixieren können.

So begann es zwischen euch. Und so ging es weiter. Du hast dich nie vor den Aufgaben der Vaterschaft gedrückt. Du hast unseren Sohn gefüttert und gewickelt, ihn beruhigt und getröstet, mit ihm gespielt und ihm vorgelesen. Du hast ihn zum Kinderladen gebracht und auf dem Rückweg seid ihr durchs Niendorfer Gehege gepirscht oder habt euch an die Eisbären im Außengehege von Hagenbeck herangeschlichen. Ihr habt zusammen laubgesägt und Lebkuchenhäuser gebaut.

Du hast ihm die in der Großstadt überlebenswichtigen Verkehrsregeln eingetrichtert (Rechts, links und dann nochmal rechts gucken! Und auch wenn du an der Ampel grün hast, immer damit rechnen, dass irgendein Idiot trotzdem über die Kreuzung brettert!) Für deine Versuche, S. bei den Mathe-Hausaufgaben zu helfen, fällt das Zeugnis allerdings vernichtend aus: Du hast dich bemüht. Du konntest nie gut erklären, hast dich in tausend Details verloren und immer schon das Wissen vorausgesetzt, das du erst vermitteln wolltest. So war es sogar beim Segeln.

Doch S. hat sich von deinen umständlichen Erläuterungen nicht abschrecken lassen. Deine Leidenschaft für Wind, Wellen und Watt hat sich trotzdem auf ihn übertragen und der Rest war learning by doing. Nach einer Demo musstest du ihn einmal nachts um halb drei aus einer Polizeiwache abholen. Nach seiner Darstellung war er das Opfer grundloser Gewalt von zwei völlig durchgeknallten Polizisten, und du hast dich natürlich  – right or wrong my son – auf seine Seite gestellt. Zu seiner Abifeier hast du klaglos deinen alten Anzug aus der Ingenieurszeit aus dem Schrank geholt, obwohl dir die Anzug-und-Krawatte-Tragerei verhasst ist. Und dann war sein Kinderzimmer plötzlich leer und es kamen Grüße des Studenten an der Global Labour University aus Australien, Südafrika, Brasilien, den USA und anderen fernen Gefilden.

Ich betrachte ein Foto, auf dem du mit Kehrblech und Handfeger die Haustürschwelle fegst, über die S. bei seinem Umzug in die erste eigene Wohnung gerade Möbel und Kartons hinausgetragen hat, und denke: Du bist ein guter Vater gewesen. Ich bin mir sicher, unser Sohn würde dir das bestätigen. Aber du bist keiner, der fragt. Und er ist keiner, der Lobreden schwingt. Ihr versteht euch auch ohne Worte.


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.

> Hier kannst du alle Folgen von Birgit Rabischs Logsbuch »Unser Törn ins Vergessen« nachlesen

> Hier geht’s zur Website der Schriftstellerin Birgit Rabisch