»Manchmal glaubte er, der Schöpfer der Welt zu sein« - demenzjournal.com

Über den Vater

»Manchmal glaubte er, der Schöpfer der Welt zu sein«

Helgard Haug: »Hätte ich nur über die Krankheit meines Vaters geschrieben, hätte mich die Arbeit wahrscheinlich mehr bedrückt.« Mara von Kummer

Helgard Haug schreibt über die Demenz ihres Vaters und über einen rätselhaften Flugzeugabsturz. Beide Male geht es in ihrem Roman um ein Verschwinden. Das Interview mit der Autorin samt Tipps für Angehörige.

demenzworld: Frau Haug, in Ihrem Buch bringen Sie zwei völlig unterschiedliche Geschichten zusammen: die Demenzerkrankung Ihres Vaters, die 2014 offenkundig wurde, und den Absturz der Boeing MH370 im selben Jahr. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, beides zu verbinden?

Helgard Haug: Ich wollte etwas über das Thema Verschwinden machen, die Idee hatte mich schon länger fasziniert. Dafür habe ich mich mit Menschen beschäftigt, die plötzlich verschwanden, oder auch mit Sprachen, die untergegangen, mit Spezies, die ausgestorben sind.

Bei meiner Recherche bin ich dann auch auf die MH370 gestoßen, die auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking von den Radaren verschwunden ist. Die Idee, die Erkrankung meines Vaters einzubeziehen, ist mir erst später gekommen.

Was waren die ersten Anzeichen seiner Demenz?

Es waren viele kleine Irritationen. Er konnte sich nicht mehr an Verabredungen erinnern, in Gesprächen drehten wir uns im Kreis, als ob wir vorher nicht bereits über das Thema gesprochen hätten. Richtig auffällig wurde es dann, als mein Sohn zu seinem Geburtstag vier Glückwunschkarten von ihm erhalten hat … Das war erschreckend und irritierend.

Wie war es für Sie, als die Krankheit immer weiter fortschritt?

Es gab verstörende und traurige Momente, etwa als mein Vater mich nicht mehr erkannt und gesiezt hat. Mitunter war ich wütend auf die Krankheit, darauf, dass sie ihn scheinbar immer weiter von uns wegführte. Ich hatte das Gefühl, da wird uns etwas weggenommen, gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen.

Die Autorin

Helgard Haug wurde 1969 in Sindelfingen in der Nähe von Stuttgart geboren. Sie ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin des Kollektivs Rimini Protokoll, einer deutschen Künstlergruppe, die Bühnenstücke, Hörspiele und szenische Installationen entwickelt. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. »All right. Good night« ist ihr erster Roman. Helgard Haug lebt in Berlin.

Wenn ich zu ihm ins Pflegeheim nach Mainz gefahren bin, wusste ich nie, in welcher Verfassung ich ihn antreffe, er konnte auch völlig verschlossen, grantig oder aggressiv sein. Ich bin mit dem Zug hingefahren und vom Bahnhof zu Fuß zum Heim gegangen. Der Spaziergang war immer ein Puffer zwischen meinem Alltag und dem Besuch bei ihm, das tat mir gut.

Gab es auch heitere Momente?

Ja, glücklicherweise. An manchen Tagen war er unglaublich witzig, wir haben viel miteinander gelacht. Er hat seine Mitbewohner, aber auch die Pflegekräfte genau beobachtet und lustige Bemerkungen über sie gemacht. Später, als die Krankheit weiter fortschritt, war ich glücklich, dass es immer noch Rituale gab, über die ich mit ihm kommunizieren konnte.

Zum Beispiel habe ich seine Hand genommen und sie ganz leicht gedrückt: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Mein Vater hat die Morsezeichen dann in meine Hand zurückgefunkt. Da waren wir trotz alledem tief verbunden. Wir haben dieses Spiel in meiner Kindheit oft gespielt.

Hat sich das Verhältnis zu Ihrem Vater durch die Krankheit verändert?

Wir hatten immer eine sehr enge Beziehung, er hat viel Anteil an meinem Leben und auch an meiner künstlerischen Arbeit genommen. Auch während seiner Krankheit fühlte ich mich ihm emotional nahe. Allerdings haben sich die Rollen umgedreht.

Meine Geschwister und ich mussten uns jetzt um ihn kümmern, ihm den Weg nach Hause zeigen, den er plötzlich nicht mehr fand. Er war das Kind, und dieser Rollenwechsel ist natürlich seltsam, wünscht man sich doch, dass die Eltern immerzu verlässlich sind, Schutz und Halt geben, so wie früher.

Als Ihr Vater im Ruhestand war, hat er noch vor seiner Erkrankung eine Demenz-WG gegründet, in Langen bei Frankfurt. Wie ist er auf die Idee gekommen, das Projekt »Ginkgo-Haus« ins Leben zu rufen?

Mein Vater war Theologe, ein politisch denkender und handelnder Mensch, der sich Zeit seines Lebens für die Schwachen in der Gesellschaft eingesetzt hat. Er wollte mit der WG Menschen ein würdevolles Leben in der Demenz ermöglichen. Das Projekt war ihm sehr wichtig.

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Man könnte es Ironie des Schicksals nennen, dass er die Krankheit dann selbst bekommen hat.

Das stimmt. Vielleicht hat er aber auch schon früh Anzeichen der Demenz gespürt, bevor wir etwas gemerkt haben. Er war ein sehr intellektueller Mensch und hat, glaube ich, sehr unter der Sorge gelitten, seinen Intellekt möglicherweise zu verlieren.

Die WG bedeutete für ihn wohl auch, dass die Krankheit trotz ihres Schreckens zu bewältigen war. Später, als ein Platz frei wurde, konnte er das Pflegeheim verlassen und in die WG einziehen. Dort ist er dann 2021 verstorben.

Welche Strategien hatte Ihr Vater entwickelt, um sich während der Krankheit ein Stück Autonomie zu bewahren?

Im Pflegeheim gab es eine Phase, in der er eine neue Rolle gefunden hatte: Er fühlte sich als Chef der Einrichtung. Er meinte, er könne Pflegekräfte befördern und entlassen, schwang große Reden, zeigt sich jovial mit den Mitarbeitern. Ich fand es faszinierend, wie er daraus Selbstbewusstsein zog, sich selbst ermächtigt hat, das war ein genialer Schachzug seines Gehirns.

Zwischendurch entwickelte er auch eine Art Größenwahn, meinte sogar, er sei der Schöpfer der Welt, und wir alle müssten ihm dafür dankbar sein. Vorher hatte er eine schlimme Phase gehabt, in der er immer sagte: Ich kann gar nichts mehr, alles wird mir genommen. Das hat sich dann umgedreht, als er eine Art Gottvater wurde und Häuser, Straßen, sogar die Ostsee »verwirklicht« hat.

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Haben Sie sich auf das Spiel eingelassen?

Ja, warum nicht? Einmal hat er an seinem Geburtstag dreimal dieselbe Rede gehalten, und wir haben ihn nicht gestoppt. Ich finde es wichtig, einen spielerischen, zugewandten Zugang zu finden, damit die Person nicht bloßgestellt wird. Würde ich ihm ständig spiegeln, dass er etwas Falsches macht, wäre das für ihn emotional ganz schlimm.

Ihr Vater hat seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben und seinen Kindern geschickt, als er noch gesund war. Hat Ihnen das geholfen, ein besseres Verständnis für ihn zu entwickeln?

Auf jeden Fall. Mir tat das unglaublich leid, was er aus seiner Kindheit erzählte, etwa die bangen Nächte im Luftschutzkeller. Die Kriegserlebnisse haben ihn mit Sicherheit traumatisiert. Wir haben viel mit ihm darüber gesprochen. Ich hatte das Gefühl, ihn schützen zu wollen, ihn herausholen zu müssen aus dem Gefühl, dass die Welt um ihn herum in Trümmern liegt.

Wie weit haben ihn die schrecklichen Erinnerungen während seiner Krankheit eingeholt?

Ich denke, sie waren sehr präsent. Mein Vater lebte immer tiefer in der Vergangenheit und schließlich in seiner Kindheit, war schutzbedürftig, suchte Nähe und Wärme. In der Demenz fühlte er sich hilflos, möglicherweise hat diese Erfahrung die alten Gefühle von Hilflosigkeit aus dem Krieg noch gesteigert.

Die amerikanische Psychologin Pauline Boss, die Sie in ihrem Buch zitieren, spricht von einem »ambiguos loss«, also einem uneindeutigen Verlust. Man verliert jemanden, aber kann damit nicht wirklich abschließen. Haben Sie das auch in Bezug auf die Krankheit Ihres Vaters erlebt?

Bestimmt. Ich habe mich oft gefragt, wo er sich gerade geistig befindet, in welcher Zeit er ist, was er wahrnimmt. Es ist seltsam, sich das alles zu fragen, wenn der Betreffende vor einem sitzt.

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Hier lässt sich ein Bogen schlagen zu den Hinterbliebenen des Flugzeugabsturzes, die den Tod ihrer Angehörigen verkraften mussten. Auch sie hatten und haben mit einem unklaren Verlust zu tun. Ihre Liebsten sind physisch nicht mehr da und nie gefunden worden, dafür leben sie in den Köpfen der Trauernden weiter.

Für viele war es in der Tat unglaublich schwer, damit zurecht zu kommen, weil unklar bleibt, was genau geschehen ist, die Gewissheit fehlt, dass die Person wirklich tot ist und das Ritual der Bestattung nicht stattgefunden hat. Jeder entwickelt in so einer Situation seine eigenen Strategien.

Ich weiß von einer Frau, die ihren Mann bei dem Absturz verloren hatte und ihren Rasen nicht mehr mähte, weil ihr Mann das immer getan hatte. Sie ging davon aus, dass er wiederkommt, und wollte, dass er sogleich sieht, dass sie ihn nie aufgegeben hat.

Bei meinen Recherchen habe ich mit einem Franzosen gesprochen, der seine Frau und zwei Kinder bei dem Absturz verloren hat. Er ist aktiv und kämpferisch geworden, wollte unbedingt, dass die Sache aufgeklärt wird. Als er merkte, dass er nicht weiterkommt, hat ihn das sehr verletzt.

Ghyslain Wattrelos schreibt seiner verschollenen Frau und den Kindern Nachrichten. SMS. Täglich. Vielleicht empfangen sie seine Nachrichten dort, wo sie jetzt sind.

Zitat aus dem Buch

Der Flugzeugabsturz

Der Absturz der Boeing 777 der Malaysia Airlines mit 239 Menschen an Bord ist eines der größten Rätsel der modernen Luftfahrtgeschichte.

Am 8. März 2014 verschwindet die MH370 auf dem Flug von Kuala Lumpur nach Peking von den Radaren, das Wrack und der Flugschreiber wurden trotz umfangreicher Suchaktionen später nicht gefunden ­– bis heute nicht. An verschiedenen Küsten wurden lediglich einzelne Trümmerteile gesichtet, etwa auf der Insel La Réunion. Auch die Ursache des Absturzes bleibt ungewiss. War es ein Anschlag, ein Suizid, eine Entführung?

Bis heute ranken sich um den Absturz viele Geschichten und Verschwörungstheorien. Drei Jahre nach dem Unglück wurde die Suche nach der Maschine eingestellt – zur Enttäuschung der Hinterbliebenen.

Sie haben sich beim Schreiben Ihres Buches einiges zugemutet, da ist zum einen die tragische Geschichte der MH370, zum anderen die schwere Krankheit Ihres Vaters.

Das hat sich beim Schreiben gar nicht so belastend angefühlt. Hätte ich nur über die Krankheit meines Vaters geschrieben, hätte mich die Arbeit wahrscheinlich mehr bedrückt. Dadurch, dass ich das Thema erweitert und über verschiedene Formen von Verschwinden nachgedacht habe, konnte ich die Krankheit anders einordnen. Letztlich bin ich froh, dieses Buch gemacht zu haben.


Tipps von Helgard Haug für Angehörige

➔ In der Familie, mit Freunden über die Krankheit sprechen, Erfahrungen austauschen. Hilfreich kann auch sein, Gedanken und Gefühle aufzuschreiben, um sich besser bewusst zu machen, was in einem passiert.

➔ Geduld haben mit sich selbst, nichts Unmenschliches von sich erwarten, Auch negative Gefühle sind okay, man darf auch mal genervt sein, etwa wenn der erkrankte Vater oder die Partnerin immer dasselbe fragt.

➔ Trauer über den Abschied von der Person, die nicht mehr dieselbe ist wie früher, darf unbedingt sein. Durchhalteparolen wie »Die Mutter ist ja noch da, sie ist nicht gestorben« sind fehl am Platz, denn die Mutter ist ja gleichzeitig auch nicht mehr da. Es hilft, sich diese Situation des »uneindeutigen Verlusts« genau vor Augen zu führen, um sie besser akzeptieren zu können.

➔ Möglichst ohne Erwartungen den Besuch bei einer demenzkranken Person angehen, flexibel bleiben. Wenn ich denke »Oh Gott, mein Vater wird mich wieder nicht erkennen«, bin ich schon negativ eingestimmt. Besser offen sein, schauen, was mich an diesem Tag erwartet. Im besten Fall werde ich positiv überrascht.

➔ Kleine Puffer zwischen dem eigenen Alltag und dem Besuch im Pflegeheim können helfen, um sich auf den erkrankten Angehörigen einzustellen bzw. hinterher über das Erlebte zu reflektieren. Der Puffer kann ein Spaziergang oder auch ein kurzer Café-Besuch sein.

➔ Nicht immer an den Mangel denken, was mit dem erkrankten Partner oder dem Vater nicht mehr geht, sondern experimentieren, worauf er anspricht. Dabei gern mal erfinderisch sein.

➔ Den Betroffenen sinnliche Momente ermöglichen, etwa gemeinsam in den Garten gehen, mit ihnen zusammen bewusst an Blumen und Pflanzen schnuppern. Oder auch mal Gewürze mitbringen, frische Blätter wie Salbei und Basilikum. Vielleicht werden so bestimmte Erinnerungen angerührt. Erinnerung funktioniert oft über Gerüche.

➔ Über gemeinsames Singen in Kontakt kommen, jenseits vom intellektuellen Austausch, der irgendwann nur sehr begrenzt möglich ist. Vielleicht gibt es Lieder, die man früher gern gemeinsam gesungen hat, oder der erkrankte Angehörige erinnert sich an Melodien aus seiner Kindheit.

➔ Berührungen können sehr wichtig sein. Menschen mit Demenz freuen sich auch über kleine Gesten, etwa wenn man ihre Hand nimmt und leicht drückt.

➔ Positive helle Momente miteinander schaffen, etwa Fotoalben von früher anschauen, das befördert die Erinnerung.

➔ Mit den Pflegekräften sprechen, ihnen eine Vorstellung geben, wer die erkrankte Person ist, wo sie herkommt, welche Vorlieben sie hat. Manchmal sind für die Betroffenen der Dialekt, den sie sprechen, oder bestimmte regionale Wendungen wichtig.


Das Buch

Helgard Haug beschreibt in »All right. Good night« (160 Seiten, Rowohlt Verlag) die Demenzerkrankung ihres Vaters, zugleich thematisiert sie eine wahre Geschichte, den Absturz der Boeing MH 370 im Jahr 2014. Der Titel greift den letzten Funkspruch auf, mit dem der Kapitän sich aus dem malaysischen Luftraum verabschiedet haben soll.

Im Roman montiert Haug in harten Schnitten diese beiden Geschichten gegeneinander. Das Ergebnis ist ein sehr persönlicher, eindrucksvoller Text über Demenz, der aber immer auch den Radius erweitert und um das Thema Verschwinden kreist. Für ihr Buch hat Haug ausführlich über das Unglück recherchiert, mit mehreren Hinterbliebenen gesprochen. Der Roman ist aus einem Theaterstück der Autorin hervorgegangen, die Inszenierung wurde 2022 zum Berliner Theatertreffen eingeladen und von der Zeitschrift Theater heute zur »Inszenierung des Jahres« erklärt.