Was waren die ersten Anzeichen seiner Demenz?
Es waren viele kleine Irritationen. Er konnte sich nicht mehr an Verabredungen erinnern, in Gesprächen drehten wir uns im Kreis, als ob wir vorher nicht bereits über das Thema gesprochen hätten. Richtig auffällig wurde es dann, als mein Sohn zu seinem Geburtstag vier Glückwunschkarten von ihm erhalten hat … Das war erschreckend und irritierend.
Wie war es für Sie, als die Krankheit immer weiter fortschritt?
Es gab verstörende und traurige Momente, etwa als mein Vater mich nicht mehr erkannt und gesiezt hat. Mitunter war ich wütend auf die Krankheit, darauf, dass sie ihn scheinbar immer weiter von uns wegführte. Ich hatte das Gefühl, da wird uns etwas weggenommen, gemeinsame Erlebnisse und Erinnerungen.
Die Autorin
Helgard Haug wurde 1969 in Sindelfingen in der Nähe von Stuttgart geboren. Sie ist Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin des Kollektivs Rimini Protokoll, einer deutschen Künstlergruppe, die Bühnenstücke, Hörspiele und szenische Installationen entwickelt. Für ihre Arbeit wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. »All right. Good night« ist ihr erster Roman. Helgard Haug lebt in Berlin.
Wenn ich zu ihm ins Pflegeheim nach Mainz gefahren bin, wusste ich nie, in welcher Verfassung ich ihn antreffe, er konnte auch völlig verschlossen, grantig oder aggressiv sein. Ich bin mit dem Zug hingefahren und vom Bahnhof zu Fuß zum Heim gegangen. Der Spaziergang war immer ein Puffer zwischen meinem Alltag und dem Besuch bei ihm, das tat mir gut.
Gab es auch heitere Momente?
Ja, glücklicherweise. An manchen Tagen war er unglaublich witzig, wir haben viel miteinander gelacht. Er hat seine Mitbewohner, aber auch die Pflegekräfte genau beobachtet und lustige Bemerkungen über sie gemacht. Später, als die Krankheit weiter fortschritt, war ich glücklich, dass es immer noch Rituale gab, über die ich mit ihm kommunizieren konnte.
Zum Beispiel habe ich seine Hand genommen und sie ganz leicht gedrückt: dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Mein Vater hat die Morsezeichen dann in meine Hand zurückgefunkt. Da waren wir trotz alledem tief verbunden. Wir haben dieses Spiel in meiner Kindheit oft gespielt.
Hat sich das Verhältnis zu Ihrem Vater durch die Krankheit verändert?
Wir hatten immer eine sehr enge Beziehung, er hat viel Anteil an meinem Leben und auch an meiner künstlerischen Arbeit genommen. Auch während seiner Krankheit fühlte ich mich ihm emotional nahe. Allerdings haben sich die Rollen umgedreht.
Meine Geschwister und ich mussten uns jetzt um ihn kümmern, ihm den Weg nach Hause zeigen, den er plötzlich nicht mehr fand. Er war das Kind, und dieser Rollenwechsel ist natürlich seltsam, wünscht man sich doch, dass die Eltern immerzu verlässlich sind, Schutz und Halt geben, so wie früher.
Als Ihr Vater im Ruhestand war, hat er noch vor seiner Erkrankung eine Demenz-WG gegründet, in Langen bei Frankfurt. Wie ist er auf die Idee gekommen, das Projekt »Ginkgo-Haus« ins Leben zu rufen?
Mein Vater war Theologe, ein politisch denkender und handelnder Mensch, der sich Zeit seines Lebens für die Schwachen in der Gesellschaft eingesetzt hat. Er wollte mit der WG Menschen ein würdevolles Leben in der Demenz ermöglichen. Das Projekt war ihm sehr wichtig.