Sohn Lukas erfüllt Claudia Schreibers Träume

Alzheimer mit 61

«Jetzt nur noch Liebe hinterlassen»

Lukas Sam Schreiber und seine Mutter Claudia Schreiber

Sie könne die schönen Momente jetzt mehr geniessen, sagt Lukas Sam Schreiber über seine Mutter Claudia Schreiber. Tim Löbbert

Die erfolgreiche Journalistin und Buch-Autorin Claudia Schreiber bekam mit 61 Jahren die Diagnose Alzheimer. Trotz ihrer Krankheit konnte sie noch zu einer Reise aufbrechen, von der sie immer geträumt hatte.

Der Satz ist ehrlich und unmissverständlich: «Ich habe dich noch nie so gebraucht wie jetzt. Halt das noch ein klein bisschen aus.» Das sagt die Mutter, Claudia Schreiber, zu ihrem Sohn. Und Lukas, der Sohn, sagt zu ihr: «Du warst mir immer zu tausend Prozent eine gute Mutter.» Was er ihr nicht sagt, ist der Gedanke: «Ich muss die Fassung bewahren. Nur so hat Claudia Ruhe.»

Die Sätze stammen aus einem Podcast, den Claudia und Lukas Sam Schreiber gemeinsam über eine Reise in den Südpazifik gemacht haben. Die beiden hatten immer ein ungewöhnlich enges Verhältnis. Ende 2019, kurz vor dem Corona-Lockdown, sind sie zu der kleinen Südsee-Insel Aitutaki geflogen.

Es war immer Claudia Schreibers Wunsch gewesen, einmal dorthin zu fahren. Der Sohn hat ihn ihr erfüllt, so lange es noch möglich war. Die Mutter hat die Reise genossen, war glücklich, jeden Tag am Strand entlang zu laufen, freute sich über die Farben, die türkisfarbene Lagune.

Der Sohn hat das alles mitgemacht und war gleichzeitig erschrocken, wie es um seine Mutter stand, dass sie immer von neuem den Weg zum Hostel nicht fand. Er wollte ihr seinen Kummer, seine Beklemmung ersparen, um sie nicht zu verunsichern.

«Ich habe drei Wochen lang ein Pokerface gemacht. Nach der Reise war ich dann total ausgelaugt», sagt der 30-Jährige beim Interview in Berlin, wo er als Podcast-Produzent arbeitet. Seine Mutter stand für das Gespräch nicht mehr zur Verfügung.

Täglich spazierte Claudia Schreiber an den Traumstränden auf der Insel Aitutaki entlang.Bild Privat

Lukas Sam Schreiber wirkt taff, er ist keiner, der sich hängen lässt, jemand, der versucht, im Schrecken etwas Positives zu finden, und wenn es nur ein Körnchen Hoffnung ist. Die Diagnose im Sommer 2019 war für ihn «fürchterlich», erinnert er sich.

Aber es gab Vorzeichen, etwa als seine Mutter ihn beim Besuch eines Restaurants fragte, ob sie schon bezahlt hätten, «das fand ich merkwürdig». Eines Nachts hatte sie einen Anfall, ihr war übel, sie war stark verwirrt. Darauf kam sie für mehrere Wochen ins Krankenhaus, und die Vergesslichkeit nahm rapide zu.

Lukas Sam Schreiber, 30, ist in Mainz geboren. Die Familie hat mehrere Jahre in Moskau und Brüssel verbracht, wo sein Vater als Auslandskorrespondent arbeitete. Claudia Schreiber, 63, hat eine Reihe von Romanen verfasst. Mit ihrem Roman «Emmas Glück» (verfilmt mit Jördis Triebel und Jürgen Vogel in den Hauptrollen) landete die Autorin 2003 einen Bestseller. Gemeinsam haben Lukas und Claudia Schreiber den Podcast «Aitutaki Blues» (2021, audible) gemacht, später wird es auch ein Buch über die Reise und Claudia Schreibers Alzheimer-Erkrankung geben.

«Vielleicht war ihr alles zu viel gewesen, sie hatte sich beim Schreiben an ihrem letzten Buch sehr verausgabt. Meine Mutter hat immer viel gearbeitet», sagt Schreiber. Wie weit der Arbeitsdruck zu ihrer Krankheit beigetragen hat, lässt sich nicht sagen, der Gedanke ist müssig. 

Claudia Schreiber war immer eine Frau des Wortes, liebte es, Witze zu machen, gute Pointen zu finden. Dass sie jetzt so viel vergisst, die Sprache nicht mehr virtuos beherrscht, ist für sie niederschmetternd. «Das Fieseste an der Krankheit ist, dass man sieht und weiss, dass man seinen Verstand verliert. Je brillanter der war, umso schlimmer ist es», sagt sie im Podcast.

Dass die Krankheit sie so weit im Griff hat, empfindet sie als kränkend. «Meine Mutter klagt häufiger: Ich war mal so klug, jetzt bin ich so dumm, und ich schäme mich dafür», erzählt Lukas Sam Schreiber. Sie sei empfindsamer geworden, durchlässiger. Dann kommen von ihr Sätze wie:

«Ich fühle mich wie ein geschälter Apfel. Ich habe keinen Schutz mehr, da kann jeder reinpieken.» 

Die grössere Empfindsamkeit hat aber auch positive Seiten. Seine Mutter, meint der Sohn, könne jetzt die schönen Momente mehr geniessen als früher. «Das sind die Momente, wenn sie in ihrem Garten auf die Bäume schaut. Oder wenn sie mit meinem Vater in die Philharmonie geht, das liebt sie.»

Quelle YouTube

Noch lebt Claudia Schreiber allein in ihrer Wohnung in Köln, geht spazieren, hört Musik, lesen kann sie nicht mehr. Mitunter hebt sie Geld von ihrem Konto ab, das sie in der Wohnung versteckt und oft nicht wiederfindet. Sie muss aufpassen, dass sie ihre Mahlzeiten nicht allzu häufig vergisst.

Regelmässig kommen deshalb Kochhilfen zu ihr ins Haus und bereiten für sie das Essen vor. So lange es geht, möchte Claudia Schreiber in ihrer Wohnung bleiben, sich möglichst viel von ihrer Autonomie bewahren. Was sie am meisten fürchtet, ist der Kontrollverlust: «Ich will nicht dieses Ende haben: das Sabbern in irgendeinem Heim», sagt sie im Podcast.

> Hier geht’s zum demenzwiki-Beitrag «S wie Selbstbestimmung»

Die Ruhe, wenn sie allein zu Hause ist, kann sie durchaus geniessen, weil das den Druck rausnimmt, vor anderen Menschen bestehen zu müssen. «Ich muss mich nicht rechtfertigen, dass ich wieder etwas suche», sagt sie im Podcast. Oder: «Ich muss nichts fragen und nicht antworten.» 

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In anderen Momenten ist sie glücklich, wenn sie sich mit ihren beiden Söhnen austauschen kann. Lukas telefoniert jeden Tag mit seiner Mutter und besucht sie regelmässig. Was sie nach wie vor liebt: gemeinsam lachen, versaute Witze erzählen – wie früher.

«Die Claudia, die ich kenne, ist nicht komplett verschwunden, einiges ist wie vor der Erkrankung», sagt der Sohn. «Manchmal kommen witzige Sätze von ihr, die ich bereits aus meiner Kindheit kenne. Zum Beispiel: Gut geschüttelt ist halb gebügelt. Das sagt sie, wenn ich mit einem knitterigen T-Shirt bei ihr ankomme.»

Wie schafft man das, es jeden Morgen neu mit der Krankheit aufzunehmen, die einen ständig an die eigenen Defizite erinnert? «Meine Mutter hat einen sehr starken Willen, mit ihrer Demenz klar zu kommen, sie will sich nicht abfinden.

Diese Kraft beeindruckt mich total, ich habe einen tiefen Respekt vor ihr.

Ihre Resilienz ist etwas, das ich von ihr lernen kann», sagt Lukas Sam Schreiber. Auch dass seine Mutter die Belastungen ihrer Kindheit später unbedingt in einer Therapie aufarbeiten wollte, findet er «sehr mutig». Claudia Schreiber ist in einer streng baptistischen Gemeinde aufgewachsen, ihre Eltern waren sehr religiös. Zudem ist sie als Kind Opfer eines Missbrauchs geworden.

Der Sohn muss nun damit klar kommen, dass er sich nicht mehr, wie früher, bei der Mutter ausklagen kann, wenn es ihm nicht gut geht. Die Mutter als Anker, der immer da ist, unumstösslich, eine feste Grösse. Jetzt muss er, der Jüngere, für sie der Anker sein. «Ich habe mich ein bisschen an den Zustand gewöhnt, die Zeit hilft», sagt der Sohn. «Aber es ist schlimm, jemanden, den man liebt, leiden zu sehen.» 

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Dass die Mutter immer dieselben Fragen stellt, dass sie wiederholt vergisst, wo sie ihr Geld versteckt hat, war für Lukas am Anfang schwer zu ertragen. Mittlerweile gelingt es ihm besser, in solchen Situationen ruhig zu bleiben. Manchmal hilft ihm auch ein philosophischer Gedanke. Dann fällt ihm zum Beispiel Albert Camus und sein Essay über den Mythos des Sisyphos ein.

Sisyphos muss den Stein immer wieder den Berg hochrollen, und die Wiederholung erscheint auf den ersten Blick absurd. Trotzdem hat sein Leben einen Sinn, und man muss sich Sisyphos, wie Camus schreibt, als einen glücklichen Menschen vorstellen. «Diese Geschichte hilft mir, wenn meine Mutter sofort wieder vergisst, was ich ihr gerade erzählt habe.»

Durch die Krankheit sei die Familie «zusammengerückt», sagt Lukas Sam Schreiber.

Das Verhältnis zwischen ihm und seinem älteren Bruder sei enger geworden. Lukas kümmert sich um die Finanzen der Mutter, der Bruder, der in Berlin lebt, begleitet sie zu den Ärzten. Auch der Ex-Mann, von dem Claudia Schreiber seit rund 20 Jahren getrennt ist, kümmert sich um sie. «Ich finde es toll, dass mein Vater so viel mithilft, obwohl meine Eltern schon lange getrennt sind. Das ist sehr grossherzig von ihm, nicht nur in der Hinsicht ist er ein absolutes Vorbild für mich», meint der Sohn.

Ist die Beziehung zwischen Lukas und seiner Mutter durch die Krankheit enger geworden? Nein, sie sei schon vorher sehr eng gewesen, meint er. Nachdem der ältere Bruder ausgezogen war, waren Lukas und seine Mutter ein paar Jahre zu zweit.

«Wir hatten eine richtig gute Zeit, haben viel Unsinn miteinander gemacht, ich konnte mit allem zu ihr kommen. «Heute, wenn ich bei meiner Mutter bin, sagt sie jedes Mal: Das Beste, was ich je gemacht habe, sind du und dein Bruder

Was ihm, dem Sohn, Trost gibt, sind die vielen Bücher und Artikel, die Claudia Schreiber veröffentlicht hat. Das, was aufgeschrieben ist, bleibt – auch wenn die Mutter heute noch so viele Geschichten vergisst. Claudia Schreiber denkt im Podcast ebenfalls darüber nach, welche Spuren von ihr bleiben werden, jenseits der Bücher. «Ich möchte mit keinem mehr streiten», sagt sie. «Jetzt geht es nur noch darum, Liebe zu hinterlassen.»