Trauma und Demenz: Erinnerungen an seinen Vater plagen Bernd

Unser Törn ins Vergessen (11)

Die Erinnerungen an seinen Vater plagen Bernd

Timpe Te mit Birgit Rabisch

Da war Bernd noch am Ruder und auf Kurs. Mittlerweile ist er sehr vergesslich geworden. Bild privat

Bei Bernd machen sich immer mehr Erinnerungslücken bemerkbar. Jetzt will er seinen Vater Johnny beerdigen, der vor 25 Jahren gestorben ist. Johnny hatte sich umgebracht, weil er nach einem Schlaganfall nicht gepflegt werden wollte. Auch Bernd sträubt sich oft gegen die Unterstützung, die er eigentlich bräuchte.

14. Oktober 2022  

An dieser Stelle beende ich abrupt meinen Rückblick auf die Profanitäten der vergangenen zweieinhalb Jahre, in denen mein literarisches Ich verstummt war. Vor deiner Diagnose hatte ich meinen autofiktionalen Roman Tod der Autorin[1] fertiggestellt. Darin ist der Mann der Hauptperson, die nur die Autorin genannt wird, nach langer Alzheimer-Erkrankung verstorben, tritt aber als höchst lebendiger Geist immer wieder mit ihr in Kontakt. So konnte dein literarisiertes Du ein geistreicher Gesprächspartner sein für mein literarisiertes Ich, während meine Gespräche mit dir aus Fleisch und Blut immer redundanter und banaler wurden. Wir standen am Anfang einer Phase unseres Lebens, über die die Autorin in meinem Roman sagt:  

Nur im Angesicht des unverhüllten Schreckens konnte ich auch Zeiten der Leichtigkeit genießen, komische und manchmal glückliche Momente. Und ja, am Ende waren es Liebe, Verständnis und Humor [2], die mich durch diese Zeit gebracht haben.

Wie weise mein literarisches Ich doch ist! Bewundernswert. Ob ich es auch noch werde? Ob ich irgendwann so abgeklärt sein werde? Noch stecke ich mittendrin in dieser Zeit. Wir erleben sie zusammen, aber immer weniger gemeinsam, denn du wähnst dich oft in einer anderen Zeit.

Beim Abendbrot:

Du: Ich hab ja kein Zuhause mehr.

Ich: Hier ist doch dein Zuhause.

Du: Ja, schon. Aber Johnny ist tot.

Ich: Dein Vater ist seit 25 Jahren tot.

Du: Nein, ich hab ja gestern noch mit ihm geredet … am Telefon … das kannst du gar nicht wissen. Ich muss unbedingt meinen Bruder anrufen. Wir müssen doch die Beerdigung organisieren.

Ich: Mach dir keine Sorgen. Johnny ist schon lange begraben. Er liegt auf dem Kirchhof in Finkenwerder.

Du: Aber ich habe noch Klamotten in der Wohnung. Ich hab hier ja nichts anzuziehen.

Ich: Dein Kleiderschrank quillt über. Komm, ich zeig’s dir.

Du: Das sind alles nicht die richtigen. Was soll ich morgen anziehen … ins Büro … die warten auf mich.

Ich: Du musst nicht mehr ins Büro. Du bekommst doch jetzt Rente.

Du: Wo ist denn das Geld? Ich weiß gar nicht, wo mein Geld ist.

Ich: Auf deinem Konto.

Du: In Finkenwerder?

Ich: Nein, im Computer. Und wir können uns an jedem Geldautomaten Geld abheben.

Du: Ja, das habe ich schon mal gemacht, glaube ich. Dann können wir das hier alles bezahlen?

Du zeigst auf den gedeckten Abendbrottisch. 

Ich: Kein Problem. Wir müssen nicht hungern.

Du: Aber wer bringt uns das denn alles?

Ich: Das kaufen wir jetzt wieder selbst ein. Wir waren heute zum Beispiel beim Bäcker und im Bio-Markt.

Du: Ich war da nicht dabei.

Ich: Du hast den schweren Rucksack die vier Treppen hochgetragen.

Du: Ja, klar. Ich bin doch kein Schwächling.

Ich: Absolut nicht!

Du: Also heute fahr ich nicht mehr nach Hause. Heute Abend bleibe ich bei dir.

Ich: Das ist schön.

Wir verbringen einen friedlichen Abend lesend auf dem Sofa. Du schläfst wie immer nach kurzer Zeit über dem Buch ein. Am nächsten Morgen rufst du bei deinen Bruder an, um mit ihm über Johnnys Beerdigung zu sprechen. Dein Bruder, der ebenfalls an Alzheimer erkrankt ist, will sich mit dir treffen, weiß aber nicht, wo der Sarg abgeblieben ist. Er reicht dich an seine Frau B. weiter. Du wirst immer aufgeregter, wiederholst ständig:

Aber er muss doch beerdigt werden!

Ich signalisiere dir, mir das Telefon zu geben. Mit wenigen Worten verständigen B. und ich uns über die Situation und beenden das Gespräch. Jetzt wird sie versuchen, ihren Mann zu beruhigen und abzulenken und ich dich. Tatsächlich gelingt es mir heute mit dem einfachen Satz:

Mit der Beerdigung ist alles geklärt.

Du nickst erleichtert. Ich bitte dich, die Küche auszufegen, was du sorgfältig erledigst. Am Nachmittag schauen wir uns eins unserer unzähligen Fotoalben an. Mehrere Fotos, auf denen dein Vater zu sehen ist, kommentierst du mit:

Johnny ist ja nun schon lange tot.

Ich: Seit 25 Jahren.

Du: Er hat sich den Strick genommen.

Ich: Ja, nach seinem letzten Schlaganfall. Er konnte es nicht ertragen, pflegebedürftig zu werden. Alles, nur nicht abhängig sein von anderen Menschen. Das hat er doch oft gesagt.

Du: Johnny war ein harter Hund.

Du zeigst auf ein Foto, auf dem dein Vater am ersten Geburtstag unseres Sohnes versucht, ihn mit einer Salzstange zu ködern:

Als Großvater war er ganz zivil, aber als Vater … wenn ich mal zu laut mit dem Besteck geklappert hab, dann hat er mir mit seiner Gabel auf den Handrücken gehauen … aber mit Schmackes!

Du machst die Bewegung nach. Heftig. Mehrmals. Diese Erinnerung kommt unweigerlich in dir hoch, wenn du dich an deinen Vater erinnerst. Ich höre sie zum hundertsten Mal und jedes Mal empfinde ich Mitleid mit dem kleinen Jungen, der von der Gabel hart getroffen wird. Hart die kleine Hand, noch härter die Seele. Der Schmerz hat Jahrzehnte überdauert und quält dich nun noch als alter Mann.

(Fortsetzung folgt.)

Hier geht’s zum ersten Teil des Blogs von Birgit Rabisch

Birgit Rabisch und Bernd Martens auf ihrem Jollenkreuzer.

Unser Törn ins Vergessen (1)

Ich navigiere, und du bist ein passabler Vorschoter

Der Schriftsteller Bernd Martens ist vergesslich geworden. Nun führen er und seine Ehefrau Birgit Rabisch eine Dreiecksbeziehung mit Monsieur Alzheimer. demenzjournal veröffentlicht nun … weiterlesen


[1] Birgit Rabisch: Tod der Autorin, erscheint 2023/2024 im Verlag duotincta

[2] »Der Humor ist der Regenschirm der Weisen.« Erich Kästner


Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.