Ich habe ihn über alles geliebt - demenzjournal.com

Papa hat Demenz (1)

Ich habe ihn über alles geliebt

Lenas Papa liebte seine Arbeit als Lehrer. Als die Demenz begann, wurde er antriebslos. privat

Kindische Aktionen machten für Lena ihren «Super-Papa» aus. Dann veränderte sich seine Persönlichkeit durch eine Frontotemporale Demenz radikal. Der erste Teil von Lenas Demenz-Erfahrungsbericht als Angehörige.

Von Lena Stühlinger

Hallo! Ich bin Lena. Ich wohne noch zu Hause mit meinen Eltern und meinem Bruder. Der zweite Bruder ist bereits ausgezogen. Unter der Woche habe ich die Möglichkeit, in einem Zimmer in meiner Schule zu wohnen, da ich sonst einen langen Schulweg hätte.

Diesen Text habe ich im Rahmen meiner Maturarbeit geschrieben. Mein Vater hat eine Frontotemporale Demenz und ich habe gemerkt, wie viele Hürden eine solche Krankheit mit sich bringt. Ich wollte in der Maturarbeit über etwas schreiben, das mir sinnvoll erscheint und mir auch persönlich etwas bedeutet.

Meiner Meinung nach gibt es nichts Sinnvolleres als mit den eigenen Erfahrungen anderen in der gleichen Lage zu helfen. Ein Eierschalensollbruchstellenerzeuger ist vielleicht noch sinnvoller, aber darüber eine Maturarbeit schreiben? Ich weiss nicht recht.

Wie ihr spätestens jetzt bemerkt habt, will ich die Sache so locker wie nur möglich angehen, es aber trotzdem ernst nehmen, da ich mir bewusst bin, wie schmerzhaft es für Angehörige sein kann, dem Krankheitsverlauf zusehen zu müssen.

Ich schreibe diesen Text so, wie ich mein Leben zu leben versuche: Humor ist immer gut, Humor hilft immer.

Bevor ich jetzt von mir und meinem Papa erzähle, möchte ich noch auf etwas hinweisen, das mir wichtig ist: Dieser Text darf auf keinen Fall als Ratgeber wahrgenommen werden, das ist er nicht. Es ist ein Erfahrungsbericht.

Ich erzähle lediglich von meinen Erlebnissen, um Angehörigen zu zeigen, dass es noch andere gibt, die dasselbe durchmachen. Ich will keineswegs «kluge» Ratschläge verteilen, mit denen es leichter werden soll, denn solche existieren nicht. Jede:r muss für sich selbst herausfinden, wie er oder sie am besten damit umgeht.

Diesen Text verfasse ich, weil ich mein Wissen und meine Erfahrungen über den Krankheitsverlauf der Frontotemporalen Demenz (FTD) teilen möchte. Für mich fühlt es sich oft so an, als ob Aussenstehende nie FTD verstehen, sondern sich immer an die Vorstellung von Alzheimer halten – egal wie viel ich darüber erzähle.

wenn du darüber reden willst …

Mit diesem Text möchte ich Jugendlichen etwas geben, damit sie sich verstanden fühlen. Also merkt euch: Obwohl die Krankheit selten ist, seid ihr nicht die einzigen – es gibt mindestens drei andere Jugendliche in der Schweiz mit einem Elternteil, das an FTD erkrankt ist: nämlich mich und meine beiden Brüder. Falls du also mit jemandem darüber reden möchtest, ich bin da: lss.lena03[at]gmail.com 🙂

Wie funktionieren unsere Nervenzellen?

Bevor ich von meinen Erfahrungen erzähle, möchte ich kurz und einfach erklären, was eine Frontotemporale Demenz ist. Dazu sollte man etwas über das Gehirn und den Informationsaustausch im Körper wissen. Also los geht’s!

Nervenzellen nehmen Reize aus der Umwelt auf und leiten sie zum Gehirn weiter. Wenn du diesen Text liest, nehmen deine Augen die Buchstaben wahr, deine Finger das Gefühl des Papiers und deine Nase den Duft des heissen Kaffees, den du vielleicht gerade trinkst. Alle diese Dinge, die du mit deinen Sinnen wahrnimmst, werden von Nervenzelle zu Nervenzelle bis in dein Gehirn transportiert, wo die Informationen ausgewertet werden. Dann leiten die Nerven die Befehle des Gehirns zu den Muskeln und anderen Körperteilen weiter.

Falls dein Kaffee noch sehr heiss ist und du dich verbrühst, wird diese Information ins Gehirn geleitet, und das befiehlt dir dann, schnell die Tasse abzusetzen. Eventuell schreit dein Mund etwas Unanständiges.

Wie Informationen ins Gehirn wandern

Nervenzellen sehen aus wie ein Baum mit längeren und kürzeren Ästen. Ich habe euch hier eine Nervenzelle skizziert. Zeichnen ist keines meiner Talente, wie ihr sehen könnt:

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Diese Ästchen nennt man Dendriten. Hier kommen Informationen an. Den Stamm des Baumes nennt man Axon. Er leitet Informationen weiter, meistens an die nebenanliegende Nervenzelle. Durch viele Verbindungen von Axonen und Dendriten entsteht ein Netz.

Durch das Axon kommt eine Information in der Form eines elektrischen Impulses. Der heisse Kaffee löst in einer Nervenzelle, die auf Wärmewahrnehmung spezialisiert ist, einen elektrischen Impuls aus, welcher über das Axon zur Synapse gelangt. Die Synapse ist das Ende der Nervenzelle. Die Synapse und der Anfang der nächsten Nervenzelle berühren sich aber nicht. Dadurch entsteht ein Spalt: der synaptische Spalt. Der elektrische Impuls muss jetzt über diesen Spalt, um weiterzukommen. Und das macht er so:

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Am Rand der Synapse sind Bläschen, gefüllt mit einem chemischen Stoff. Wenn der elektrische Impuls dort ankommt, schickt er diese Bläschen in den synaptischen Spalt. Der Stoff in den Bläschen wandert durch den Spalt an den Anfang der benachbarten Nervenzelle. Dort docken sie an die Rezeptoren an und lösen einen weiteren elektrischen Impuls aus. Der macht dann genau dasselbe, bis der Impuls im Gehirn angekommen ist.

Damit die elektrischen Impulse sicher in den Nervenzellen wandern können, sind die Nervenzellen von einer Schicht umgeben: Myelin. Diese Schicht isoliert die Nervenzelle wie bei einem elektrischen Kabel. Wer das Ganze nochmal als Film will, bitte schön:

Quelle YouTube

Was passiert bei FTD im Gehirn?

Das Gehirn ist in Teile aufgegliedert, die verschiedene Aufgaben haben: zum Beispiel Bewegungen speichern, Gefühle steuern oder Informationen der Sinneszellen auswerten.

Das Stirnhirn oder der frontale Lappen ist das Hauptzentrum unserer Emotionen und unserer Persönlichkeit. Diese Hirnregion interessiert uns besonders, weil sie eine wichtige Rolle spielt bei der Frontotemporalen Demenz.

Symptome der Frontotemporalen Demenz (die fachsprachlich Frontotemporale Lobäre Degeneration heisst) sind:

  • Verhaltensauffälligkeiten, also unangemessenes oder enthemmtes Verhalten,
  • Veränderung des Sprachverhaltens,
  • Probleme bei Ausführungen (zum Beispiel Zähneputzen)
  • und die Abnahme der Aufmerksamkeit.

Bei FTD sterben die Nervenzellen im Stirnhirn ab. Dadurch ändert sich im Verlauf der Krankheit das Wesen und das Verhalten des oder der Betroffenen stark.

Im Gegensatz zu Alzheimerpatienten, die lange relativ selbständig sind, verändern sich FTD-Betroffene sehr schnell und extrem.

Sie werden nicht einfach «etwas komisch» oder vergessen ein paar Dinge, sondern entwickeln eine ganz neue Persönlichkeit. Die Krankheit kann gegenwärtig nicht gestoppt werden und ist leider auch nicht heilbar.

Frontotemporale Demenz (FTD) ist eine sehr seltene Demenzform und es ist oft ein langer Weg, bis die Diagnose steht. Dies kommt daher, dass die ersten Symptome Persönlichkeitsveränderungen sind und deshalb anfangs oft andere psychische Krankheiten in Frage kommen, zum Beispiel eine Depression oder ein Burn-Out.

Der lange Weg zur Diagnose – und dann eine glückliche Fügung

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Den Auslöser für das Sterben der Gehirnzellen kennt man nicht genau. Deswegen weiss man auch nicht, was man gegen die Krankheit tun kann. Es gibt jedoch viele Theorien. Ich werde euch hier einen breit vertretenen Ansatz erläutern:

Bei vielen Demenzerkrankten fand man im Gehirn Häufungen von Proteinen. Wissenschaftler:innen haben entdeckt, dass diese Verklumpungen durch deformierte, denaturierte Proteine entstehen. Diese denaturierten Proteine, auch Prionen genannt, veranlassen andere Proteine dazu, sich ebenfalls falsch zu falten und so entstehen Klumpen.

Die Klumpen sammeln sich am oder im Ast einer Nervenzelle und verhindern so die Weiterleitung elektrischer Impulse. So funktioniert das Gehirn an manchen Stellen nicht mehr, es fallen immer mehr Hirnteile aus. Diese Verklumpungen kann man sich wie Leim vorstellen, der in dem Röhrchen, wo man den Leim rausdrücken kann, verhärtet und so verhindert, dass der Leim aus der Tube kommt. Wie diese Verklumpungen entstehen, weiss man nicht. Es könnten Genfehler sein.

Hier geht’s zum Interview mit Lena Stühlinger

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Mein richtiger Papa

Papa, der mit richtigem Namen Felix heisst, arbeitete als Sekundarlehrer. Seine Schüler:innen mochten ihn sehr. Im Unterricht machte er oft Witze und lehrte mit Humor Mathematik und Biologie. Ich glaube, meinen Humor habe ich von ihm. Oder vielleicht eher das ewige Quatsch-im-Kopf-Syndrom.

Er wuchs mit zwei älteren Schwestern und seinen Eltern in einem Mehrfamilienhaus in Schaffhausen auf. Als Felix 11 war, starb sein Vater an Krebs. Seine Mutter wurde aber wesentlich älter. Sie starb, als ich ein Jahr alt war, an Krebs. Obwohl es nicht immer einfach war, hatte mein Papa eine schöne Kindheit.

Als Jugendlicher war Papa absolut cool. Er arbeitete als DJ im Jugendkeller und gehörte dadurch zu den angesagten Typen.

Auch als Papa war er immer noch cool – fand ich auf jeden Fall. Als kleines Kind war ich sehr stolz, einen so tollen Vater zu haben. Manchmal nahm er mich mit in die Schule und dadurch wusste ich schon in der Unterstufe vieles über die Sekundarschule, in die ich dann später ging, und über die Lehrer dort.

Ich war immer total gern mit meinem Papa zusammen.privat

Mit Papa konnte man immer Witze reissen. Jetzt fühlt es sich so an, als ob wir zusammen immer nur Blödsinn gemacht hätten und es immer lustig war. Als ob es keine anderen Momente gegeben hätte, nur solche, in denen alles perfekt war. Es gab wahrscheinlich auch schwierigere Zeiten mit meinem gesunden Papa. Aber es scheint, als ob mein Gehirn durch das Vergessen einiger Erlebnisse und das Speichern von anderen den absolut perfekten Papa kreiert hat. Papa konnte auch ernst sein. Seine Pflichten waren ihm bewusst, als Vater wie auch als Lehrer, und er erfüllte sie.

Nur wenn er Rückenschmerzen hatte, war er etwas grummelig. Das hatte er von Zeit zu Zeit. Ich hoffe, ich habe nicht seinen schlimmen Rücken geerbt. Seine riesige Nase habe ich schon. Na gut, nicht ganz in den Dimensionen wie bei ihm, aber die Form seiner Nase habe ich auf jeden Fall geerbt.

Um euch meinen Papa näher zu bringen, erzähle ich euch eine meiner Lieblingsgeschichten:

Der hahn

Es geschah in einem Einkaufszentrum. Papa lief gerade durchs Einkaufszentrum, als er auf der anderen Seite des riesigen Raumes, einen Stock tiefer, einen seiner Arbeitskollegen sah. Anstatt ihn beim Namen zu rufen, krähte er durchs ganze Einkaufszentrum wie ein Hahn.

Solche lustigen, kindischen Aktionen machten für mich meinen Super-Papa aus. Ich habe immer gerne mit ihm Zeit verbracht und anderen von ihm erzählt, weil ich so stolz war. Ich habe meinen lustigen Papa über alles geliebt.

rasenmähen

Nach dem Friseurtermin fragten Papa alle, ob er sich die Haare geschnitten hätte. Dann antwortete er regelmässig: «Nein, ich war im Garten und bin über den Zaun gefallen. Und als ich auf dem Boden lag, fuhr Lena mit dem Rasenmäher über meine Haare. Und jetzt sehe ich so aus.» Diese Antwort fand ich total cool. Obwohl sie nicht ganz der Wahrheit entspricht. Wir haben keinen Zaun im Garten und also bitte, als würde ich den Rasen mähen!

Am liebsten habe ich mit ihm gesungen. Papa machte viel Musik: Er spielte in zwei Bands Gitarre und sang. Dank ihm habe ich das Singen entdeckt. Ich mache es heute noch sehr gerne. An Mamas Geburtstag hatten wir sogar mal einen kleinen Auftritt zusammen. Gut, wir haben nur ein Lied gespielt, aber hey, jeder fängt klein an.

Für mich ist es ein riesiger Verlust, dass ich solche Momente nicht mehr erleben darf mit meinem Papa. Die FTD hat mir viel genommen.

Natürlich meinen fröhlichen Papa. Aber auch generell einen Vater, der sieht, wie man erwachsen wird. Der sein kleines Mädchen nicht an die Erwachsenenwelt verlieren will. Der sich kritisch benimmt gegenüber meinem ersten Freund und der dann aber doch weint an meiner Hochzeit. Ein Papa, der ein wundervoller Grossvater wird und auf den ich mich immer verlassen kann. Das wurde mir genommen. Und obwohl ich nicht weiss, wie es wäre, das zu haben, vermisse ich es.

Ich weiss, meine Vorstellung ist ziemlich kitschig. Das ist aber auch nur logisch, inspiriert habe ich mich nämlich bei Filmen. Naja, Mama sagt, Papa hätte sich nicht schlecht benommen, wenn ich einen Freund nach Hause gebracht hätte. Aber nichtsdestotrotz. Er wäre da gewesen, für mich da. Das hätte mir gereicht. Ich hätte seine Meinung zu meinen Entscheidungen hören und mit ihm über Dinge diskutieren wollen.

Nach allem, was ich hätte erleben können mit meinem Papa, vermisse ich ihn einfach nur. Zeit mit ihm zu verbringen – das, was wir eben immer gemacht haben – das fehlt mir am meisten.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Vergessen, sich sorgen und wundern

Ich werde euch in den nächsten Beiträgen Papas Krankheitsverlauf schildern. Dabei will ich so genau wie möglich erzählen, aber leider kann ich mich nicht mehr an alles erinnern. Und ausserdem würde es dann ewig dauern.

Meinem Papa fiel als erstes auf, dass er viele Wörter vergass. Zu diesem Zeitpunkt war er um die 50 Jahre alt, also dachte niemand an eine Demenz. Er ging in eine Memory Klinik, um der Vergesslichkeit auf den Grund zu gehen. Davon erfuhr ich erst, als man schon wusste, dass er eine FTD hat. Mama und Papa haben es zwar nicht aktiv vor uns Kindern verheimlicht, irgendwie ging es bei mir aber einfach unter. In der Memory Klinik hat man jedenfalls nichts herausgefunden, jedenfalls nicht bevor die nächsten Auffälligkeiten dazu kamen.

Diese Auffälligkeiten waren ziemlich gut ersichtlich. Mehr als das, sie schrien geradezu: DA STIMMT WAS NICHT!

Obwohl sie auffällig waren, war es ziemlich still bei uns in der Familie. Das Einzige, was Papa nämlich noch machte, war lustlos zur Arbeit gehen und schlafen. Wenn er von der Schule nach Hause kam, legte er sich sofort aufs Sofa. Mama musste ihn dazu zwingen, Prüfungen zu korrigieren, wenn die Schüler:innen schon meckerten, weil sie seit Wochen auf ihre Noten warteten.

In dieser Zeit nervte mich Papa nur. Es fühlte sich an, als ob das Einzige, was ich von ihm noch hörte «ich will schlafen, sei bitte leiser» war. So manche Jugendliche wünschten sich vielleicht, ihr nerviger Vater würde mehr schlafen, anstatt zu nerven. Aber es ist eben wie mit einem Kurzhaarschnitt. Wenn man ihn dann hat und merkt, dass man keinen Pferdeschwanz mehr machen kann, will man ihn doch nicht mehr. Also die Kurzhaarfrisur, nicht den Pferdeschwanz, den will man ja.

Papa wurde antriebslos mit Demenz
Erst mit der Zeit hatten die Ärzte den Verdacht, dass hinter Papas Antriebslosigkeit eine Demenz steckt.privat

Durch Papas vieles Rumliegen und seine nicht vorhandene Motivation dachte man, dass es ihm vielleicht einfach zu viel war. Deshalb reduzierte er sein Pensum. Der Deal war: Mama arbeitet mehr, Papa weniger, dafür macht er den Hausmann.

Achtung Plot Twist: Das mit dem Haushalt funktionierte nicht.

Papa sagte immer, dass er nicht aufhören will mit der Arbeit als Lehrer, weil er wisse, dass er dann nicht mehr zurückkommen würde, wenn er jetzt aufhöre. Damit hat er leider Recht behalten.

(Fortsetzung folgt.)


Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.