«Du bist aber alt geworden» - demenzjournal.com

Papa hat Demenz (3)

«Du bist aber alt geworden»

Besonders die Rastlosigkeit macht Lenas Vater zu schaffen. privat

Seit der Demenzdiagnose weiss Lena, warum ihr Vater so anders ist. Warum er andere beleidigt und böse Gesichter in den Wolken sieht. Trotzdem ist die Wesensveränderung für die Schülerin kaum zu ertragen.

Von Lena Stühlinger

Nachdem wir unendlich lange mitansehen mussten, wie unser Papa seltsamer und seltsamer wurde, bekamen wir endlich die Diagnose. Damit wussten wir, was mit ihm los war. Es war klar, er hat Frontotemporale Demenz.

Als wir es dann wussten

Eigentlich konnte Papa nichts mehr im Haushalt machen, da seine Unruhe dies nicht zuliess. Er war meistens am Autofahren und wenn er zu Hause war, fiel es ihm sehr schwer, an Gesprächen teilzunehmen. Es wirkte aber so, als ob er eigentlich auch gar nicht mit uns reden wollte. Oft war er abwesend und teilnahmslos.

Erlebnisbericht

Als Lena 15 war, zeigte ihr Vater erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz. Was das bedeutet, hat sie in ihrem sehr persönlichen Erlebnisbericht festgehalten. Wer sich mit Lena austauschen möchte, darf sie per Mail kontaktieren.

Es gab eine Zeit, in der er – egal was man gesagt hat – als erstes einfach mal mit «Nein» geantwortet hat. Manchmal hat er dann nochmal darüber nachgedacht und vielleicht doch eingewilligt. Dieses ständige, automatische «Nein» kam meiner Meinung nach von seiner Unsicherheit.

Natürlich hat auch er selbst gemerkt, dass er nicht mehr richtig nachkommt im sozialen Leben. Das «Nein» war wahrscheinlich eine Art Abwehrmechanismus: Hauptsache, ich hab mal was gesagt.

Vielleicht war es aber auch strategisch, erst mal «Nein» zu sagen. Meistens wurden ihm ja Fragen gestellt, bei denen die vorteilhaftere Antwort «Nein» war. Zum Beispiel, ob er wieder jemanden besucht hatte.

Seine Nervosität wurde immer unerträglicher – für ihn, meine Familie und mich. Er selbst sagte gefühlt tausendmal an einem Tag: «Du kennst ja meine Unruhe». Das hat er zu allen gesagt, egal ob es gepasst hat oder nicht. Dieser Satz kam immer als Ankündigung, dass er jetzt wieder Autofahren gehen muss. Zu seinen Bestzeiten blieb er an keinem Ort länger als ein paar Minuten.

Während Gesprächen mit seiner Ärztin und Mama musste er jede Minute wieder raus, um spazieren zu gehen.

«Du kennst ja meine Unruhe» war aber nicht der einzige Satz, den er immer wieder gesagt hat. Es gab da noch: «Der hat aber eine grosse Nase», «Die ist aber auch ziemlich dick», «Du bist aber alt geworden», «Ich sehe überall Gesichter, weisst du?».

Hier gehts zum zweiten Teil

Papa hat Demenz (2)

Ein Vater, der nicht duschen will

Noch weiss Schülerin Lena nicht, dass ihr Vater eine Frontotemporale Demenz hat. Er ist nicht mehr derselbe, lacht, wenn sie traurig ist, und … weiterlesen

Die verletzenden Standartsätze hat er den betreffenden Personen direkt ins Gesicht gesagt. Seiner Schwester hat er jedes Mal, wenn er sie gesehen hat, vorgehalten, wie alt sie geworden sei. Der Freundin meiner Mutter sagte er, wie gross ihre Nase doch sei und unser Nachbar musste sich immer anhören, wie dick er sei. Manche haben das besser ertragen als andere. Ihn störte es hingegen überhaupt nicht, wenn ihn jemand anschnauzte.

Er lachte dann nur, sagte «Jaja» und ging.

Das mit den Gesichtern, also dass er anscheinend immer überall Gesichter sehen würde, sagte er eine Zeit lang pausenlos. In Bäumen, am Boden, in Wolken, im Gras, in Stoffen und so weiter, er sah sie überall. Meistens waren es, glaube ich, böse Gesichter. In dieser Zeit hat ihn das ziemlich beschäftigt.

Je nach betroffener Hirnregion können bei Demenzen auch Halluzinationen auftreten.Unsplash

Wenn er Nachrichtensprecher im Fernsehen sah, die er nicht einmal kannte, sagte er zu uns: «Oh, der ist aber alt geworden». Mit jedem Tag verlor er mehr und mehr seine Hemmungen. Diese Standardsätze haben mich so genervt. Ich habe mir immer gedacht, wie lustig Papas Sprüche früher waren und was jetzt aus ihm geworden ist.

In der Öffentlichkeit habe ich mich sehr geschämt wegen seines Benehmens. Ironischerweise wurde ich aber immer sehr wütend, wenn seine alten Bekannten ihn respektlos behandelt haben oder ihn irgendwie dumm dastehen liessen. Gesagt habe ich nie etwas, aber in diesen Momenten hätte ich denen am liebsten den Hals umgedreht.

Die Sache mit dem Autofahren

Das mit dem Autofahren wurde auch immer schwieriger. Papa kam erst nach Stunden nach Hause und wusste nicht mehr, wo er war. Hatte keine Ahnung mehr, wen er besucht hatte, wo er was gegessen hatte, wo er durchgefahren war. Er wusste es nicht oder konnte es Mama nicht sagen, weil er kein Gespräch zu Ende führen konnte.

Ich glaube, schon lange bevor er verstummt ist, hat er eigentlich nichts mehr mitbekommen von dem, was man ihm sagte. Oder er hat es doch mitbekommen, aber irgendwie eben auch nicht, weil es ihn einfach nicht interessierte. Vielleicht hat er aber auch alles mitbekommen. Wie ihr seht, spekuliere ich und weiss selbst nicht, wie es wohl für ihn war.

Mama hat oft überlegt, ob Papa eine Gefahr auf der Strasse ist. Sie hat das auch mit Papas Ärztin besprochen.

Es war schwierig, den richtigen Moment zu finden, wo man Papa das Fahren verbieten kann. Autofahren war sein Lebensinhalt.

Es war das Einzige, das ihm noch wirklich Spass gemacht hat. Papas Ärztin und Mama haben sich aber immer grössere Sorgen gemacht. Deshalb entschieden sie sich, Papa eine Fahrprüfung machen zu lassen. Da kommt eine Expertin und macht quasi noch einmal eine Fahrprüfung und entscheidet, ob er noch fahrtauglich ist oder nicht.

Autofahren war während Papas Rastlosigkeit das Einzige, das half.privat

Papa konnte noch gut fahren, rein mechanisch, aber er hatte den Überblick nicht. Die Expertin liess ihn aber bestehen, obwohl er sogar in ein Fahrverbot gefahren ist. Jede:r 18-Jährige wäre in dieser Situation durchgefallen. Papa durfte also nach wie vor Autofahren und niemand ausser er fühlte sich wohl dabei.

Das Ende seiner Autofahrkarriere war, als er mit einer Beule im Auto nach Hause kam und keine Ahnung hatte, wo das passiert war.

Wir haben uns alle grosse Sorgen gemacht. Er hätte jemanden an- oder überfahren können und wäre höchstwahrscheinlich einfach weggefahren. Nach ein paar Minuten hätte er es nicht mal mehr gewusst.

Immer wieder haben wir gerätselt, wie diese Beule wohl ins Auto gekommen ist. Später haben wir herausgefunden, dass Papa bei meinem Paten war und beim Rückwärtsausparken in einen Anhänger gefahren ist. Dann ist er weggefahren, als wäre nichts gewesen.

Nach diesem Vorfall entschied Mama, dass es Zeit sei, ihm das Fahren zu verbieten. Nur wollte Papa das auf keinen Fall. Wir mussten alle Autoschlüssel verstecken, auch die der Gäste. Einmal liess mein Grossvater seinen Schlüssel bei uns auf der Kommode liegen. Papa hat ihn geklaut und ist, ohne dass es jemand gemerkt hat, mit Grossvaters Auto abgehauen. Zum Glück ist ihm nichts passiert und er hat das Auto wieder heil nach Hause gebracht.

Wie prüft man die Fahrtauglichkeit?

Fahrtüchtigkeit

Soll man sie einfach aus dem Verkehr ziehen?

Einem Menschen mit Demenz mitzuteilen, dass er nicht mehr Auto fahren darf, ist eine heikle Angelegenheit. Nicht immer sind die Betroffenen einsichtig. Auch … weiterlesen

Papa suchte am Anfang noch nach den Schlüsseln und hat immer gejammert, weil er nach Frauenfeld wollte. Er forderte von uns, dass wir die Schlüssel jetzt rausrücken. Zum Glück wurde er aber nie aggressiv oder handgreiflich. Mama kaufte Papa schliesslich ein E-Bike, damit er zum Bus fahren konnte, der ihn nach Frauenfeld bringt. Papa liebte es! Das E-Bike war sein neues Auto, er war ständig damit unterwegs.

Leider tauchten damit neue und alte Probleme auf. Auf seinen Velotouren fuhr Papa wie schon früher bei allen möglichen Leuten vorbei, was sie natürlich nervte. Dazu kam, dass er zu Bekannten fuhr und sich von ihnen nach Hause fahren liess, weil entweder der Fahrrad-Akku leer war oder er einfach nicht mehr konnte. Oft hat er auch Mama angerufen und sie musste ihn irgendwo mit dem Auto abholen.

Aber das Schlimmste war, dass er einfach irgendwann losgefahren ist und dann an der Bushaltestelle noch lange auf den nächsten Bus hätte warten müssen. Warten war aber gar nicht seine Stärke, «ihr kennt ja seine Unruhe». Also hat er im Lebensmittelgeschäft neben der Bushaltestelle Leute gefragt, ob sie ihn mit nach Frauenfeld mitnehmen können. Oder er hat sich mitten auf die Strasse gestellt, um Autos anzuhalten. Das ging natürlich gar nicht, aber wir wussten nicht, was wir dagegen hätten tun sollen.

Gullydeckel und Coldplay

Das Fahrrad-und-Autostopp-Abenteuer von Papa nahm schlussendlich aber ein ganz anderes Ende als das Autofahren. Wir machten einen Familienausflug mit unseren Fahrrädern. Beim Fahren hatte Papa so seine Rituale.

Er fuhr immer Linien auf der Strasse nach, bei Kreuzungen hielt er nicht an mit der Begründung: «Wenn ich dort durchfahre, kommt nie ein Auto».

Und das letzte Ritual war, dass er immer rechts an Gullys vorbeifuhr. Dies tat er dann auch bei unserem Ausflug. Dummerweise kam nach dem Gully aber eine hohe Strassenbelag-Kante, sodass Papa volle Kanne hinfiel.

Papas Fingernagel sah gar nicht gut aus und er hatte eine Wunde auf der Stirn. Beides musste im Krankenhaus genäht werden. Das hat Papa gut mitgemacht, was uns alle überrascht hat. Sein Gesicht war nach dem Sturz ganz gelb und geschwollen, dass sah krass aus, aber auch ein wenig witzig. Nach diesem Unfall war’s das mit dem Fahrradfahren.

Papa war dann immer zu Hause und schaute fern. Er liebte den Musiksender MTV. Ein Video von Coldplay fand er super, weil dort Affen tanzten; das hat er dann allen hundertmal erzählt, wenn es lief. Sein zweitliebstes war eines von Harry Styles, indem er flog, das fand er einfach klasse. Also Harry, falls du das liest: Das mit dem Fliegen war ne coole Idee.

«Ich muss gehen!»

Jetzt konnte Papa weder Auto noch Fahrrad fahren. Wir schlossen Autos und Fahrräder ab und versteckten die Schlüssel an verschiedenen Orten. Aber die Unruhe war nach wie vor da, also ging Papa eben zu Fuss – und alles ging von vorne los.

Wenn Papa mit dem Bus ins Nachbardorf fuhr, konnte er dort den Bus nach Frauenfeld nehmen. Sein geliebtes Frauenfeld. Das Warten auf den zweiten Bus ging ihm aber zu lange. Nun was tut man dann? Richtig, man stellt sich mitten auf Hauptstrasse und stoppt die Autos: Vielleicht fährt ja einer nach Frauenfeld.

Papas Ausflüge führten ihn von unserem Dorf aus meistens nach Frauenfeld.Wikipedia

Ausserdem kann man auch im ganzen Quartier in verschiedenste Häuser reinlaufen, ohne zu klingeln. Es dauerte nicht lange, bis alle in unserem Umkreis die Haustür stets verschlossen hielten. Wir wollten Papa nicht den ganzen Tag einsperren, aber irgendetwas mussten wir tun.

Immer wenn Papa spazieren ging, musste jemand mitgehen und schauen, dass er keinen Unsinn macht.

Wer zu Hause war, musste Papa stets im Auge behalten. Denn wenn er sich vom Acker machte, musste man schnell sein, um hinterherzukommen. Ein paar Mal waren wir nicht schnell genug und mussten ausschwärmen, um ihn zu suchen. Meistens haben wir ihn an einer Bushaltestelle gefunden, weil er versucht hatte, nach Frauenfeld zu kommen.

Diese Phase war wahnsinnig anstrengend. Dieses ständige «Ich muss gehen!» von Papa war ermüdend. Man konnte ihn aber auch nicht im Haus einsperren, dafür war er noch zu gesund. Deshalb waren wir alle in der Familie irgendwie erlöst, als er zur nächsten Phase überging. Er wurde stiller, sprach nur Satzfetzen von anderen nach und verstummte irgendwann vollends.

Wie dieser Übergang genau verlief, kann ich nicht sagen. Ich erinnere mich, dass Papa noch ein bisschen sprach und alles noch einigermassen gut allein konnte – und ein wenig später sagte er nichts mehr und wurde zum 24-Stunden-Pflegefall.

Man kann es sich vorstellen, wie wenn man versucht herauszufinden, seit wann man wieder lange Haare hat. Logischerweise ist man nicht eines Morgens aufgewacht und hatte – puff – wieder langes Haar. Und obwohl man weiss, dass es einen Verlauf gab, kann man ihn im Nachhinein nicht mehr erkennen. So geht mir das bei Papas Verlauf bezüglich des Sprechens.

(Fortsetzung folgt.)


Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.