«Er lachte, wenn ich ein Problem hatte» - demenzjournal.com

Frontotemporale Demenz

«Er lachte, wenn ich ein Problem hatte»

Lena und ihre beiden Brüder haben ihren Vater als «perfekten Papa» in Erinnerung: fürsorgliche und immer zu Scherzen aufgelegt. privat

In ihrer Erinnerung ist ihr Vater der coolste Papa von allen. Dann verändert eine Demenz seine Persönlichkeit. Eine Herausforderung für die Jugendliche Lena und ihre Familie.

«Hallo! Ich bin Lena Stühlinger. Diesen Text habe ich im Rahmen meiner Maturaarbeit geschrieben. Darauf gekommen bin ich, weil mein Vater eine Frontotemporale Demenz hat und ich gemerkt habe, wie viele Hürden eine solche Krankheit mit sich bringt.»

So beginnt der Erlebnisbericht von Lena, deren Vater Mitte Fünfzig an Demenz erkrankt ist. Als sich erste Symptome zeigen, ist Lena mitten in der Pubertät. Sie braucht ihren Vater, doch der benimmt sich plötzlich ganz anders. Lacht, wenn Lena frustriert ist. Dass die Frontotemporale Demenz daran schuld ist – eine Erkrankung, bei der sich die Persönlichkeit verändert – weiss die Familie damals noch nicht.

Berührend, traurig, aber auch humorvoll schildert Lena, wie sich das Familienleben durch die Demenz ihres Vaters verändert hat und wie sie damit umgeht. Leichtigkeit ist ihr dabei wichtig:

«Ich schreibe diesen Text so, wie ich mein Leben zu leben versuche: Humor ist immer gut, Humor hilft immer.»

Ihr Bericht erscheint bald auf alzheimer.ch. Vorgängig haben wir uns mit Lena via Skype unterhalten.

alzheimer.ch: Liebe Lena, ich sehe da einen Holzschrank hinter dir. Wo bist du gerade?

Lena Stühlinger: In einer Wohngemeinschaft in Kreuzlingen. Meine Schule – eine Kombination aus Gymnasium und dem ersten Jahr Pädagogikstudium – stellt Unterkünfte zur Verfügung für Schüler:innen, die von weit weg kommen. Übers Wochenende fahre ich dann nach Hause zu meinen Eltern. Wie meine beiden älteren Brüder, die in Zürich wohnen.

Jetzt wo deine Matura in greifbare Nähe rückt: Was willst du danach machen?

Ich will Lehrerin werden, wie meine Eltern. Das wollte ich schon, als ich klein war. Aktuell bereite ich mich auf das Advanced-Diplom vor, damit ich auch Englisch unterrichten darf.

Heute ist Freitag. Also fährst du morgen heim?

Ja. Wenn ich heimkomme, liegt mein Vater meistens auf der Couch und macht Mittagsschlaf. Danach essen wir zu Abend. Es ist ziemlich routiniert.

Welche Beziehung hast du jetzt zu deinem Vater?

Er ist definitiv nicht mehr der Papa für mich, den ich früher hatte. Ich nenne ihn zwar noch so, aber ich nehme ihn eher als krankes Geschwisterchen wahr.

Wie war er früher?

In meiner Erinnerung ist mein Vater der coolste Vater überhaupt! Wenn ich dann mit meiner Mutter spreche, merke ich, dass er (wie jeder) natürlich auch seine Launen hatte.

Aber es ist, als ob mein Hirn alles Schlechte aussortiert und den perfekten Papa konstruiert.

Ich habe mich sehr gut mit ihm verstanden und zu ihm aufgesehen. Er war Lehrer an derselben Schule, an der ich jetzt bin.

Kannst du dich an einen schönen Moment erinnern, den ihr gemeinsam hattet?

Mein Papa war sehr musikalisch. Er spielte in zwei Bands, hatte viele Gigs. Es beeindruckte mich, dass er Gitarre spielen und dazu singen konnte. Am fünfzigsten Geburtstag meiner Mutter sind wir zusammen aufgetreten. Das war was – mit ihm auf der Bühne stehen!

Wie hat sich die Erkrankung angebahnt?

Papa ging immer begeistert zur Arbeit – und irgendwann nur noch widerwillig. Nach den Lektionen ist er sofort heimgekommen und hat sich aufs Sofa gelegt. Ihm war alles egal. Meine Mutter musste ihn zwingen, die Prüfungen zu korrigieren.

War dir das bewusst?

Von meinem Bruder, der bei ihm Schule hatte, und auch von Mama habe ich erfahren, dass mein Vater Probleme mit der Arbeit hat. Zuhause mussten wir oft leise sein, weil Papa schlafen wollte. Wie es am Arbeitsplatz wirklich aussah, habe ich erst im Nachhinein begriffen.

Hat kein Schüler etwas gesagt?

Doch, einmal. Als Papa schon krankgeschrieben war, sagte eine Mitschülerin zu mir: Gell, dein Papa hat Alzheimer?

Ein Merkmal von Frontotemporaler Demenz ist die fehlende Krankheitseinsicht. Hat dein Vater gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist?

Tatsächlich ja. Ganz am Anfang sagte er zu meiner Mutter, er habe das Gefühl, er vergesse Wörter und die Namen der Kinder. Sie liessen ihn dann in der Memory Clinic abklären. Aber anfangs vermuteten die Ärzte eine Depression oder ein Burnout, weil die Symptome so ähnlich sind.

Dann wurde dein Vater krankgeschrieben.

Bald war klar, dass er so nicht mehr arbeiten kann. Er wurde immer nervöser und hatte Schwierigkeiten, länger an einem Ort zu bleiben.

Je stärker Papas Rastlosigkeit wurde, desto mehr vermuteten die Ärzte eine Demenz.

Ausserdem war er teilnahmslos. Man konnte kaum noch mit ihm reden, weil er in seine eigene Welt abdriftete. Es war, als fehlte ihm wegen seiner Nervosität die Kraft zur Interaktion.

Wie ist dein Vater mit der Rastlosigkeit umgegangen?

Als er krankgeschrieben war, war Papa oft mit dem Auto unterwegs. Dabei hat er nicht selten seine elterlichen Pflichten vergessen. Zum Beispiel hätte er mich vom Reiten abholen sollen und ist einfach nicht aufgetaucht. Damals wussten wir noch nicht, woran das lag.

Auf dem Pferd kann Lena alle Sorgen vergessen.privat

Als die Krankheit schlimmer wurde, machten wir uns irgendwann Sorgen, wie sicher er noch fährt. Der Arzt liess ihn einen Eignungstest machen, den er bestand. Aber irgendwann kam Papa mit einer Beule im Auto zurück. Wir hatten keine Ahnung, was passiert war – und er auch nicht.

Später erfuhren wir, dass er bei meinem Paten in einen Anhänger gefahren war. Damit nichts Schlimmeres passiert, hat Mama die Autoschlüssel versteckt. Sie kaufte Papa stattdessen ein E-Bike.

Und das hat funktioniert?

Eine Weile ja. Unangenehm war, wenn Papa bei Bekannten geklingelt hat und sie gefragt hat, ob sie ihn heimfahren – samt E-Bike. Er ist auch einige Male am Arbeitsplatz einer Kollegin aufgetaucht oder einfach in die Wohnungen seiner Bandmitglieder reingelaufen.

Deshalb haben wir ihn in der Folgezeit auf seinen Streifzügen begleitet. Als er einen Unfall mit dem E-Bike hatte, ging Radfahren nicht mehr. Und irgendwann war ihm auch das Laufen zu viel.

Wie haben denn die Nachbarn reagiert?

Sie haben sich schon genervt. Ist ja blöd, wenn einfach jemand in dein Haus eindringt. Aber sie sind alle sehr verständnisvoll damit umgegangen und haben uns nie bedrängt, das zu unterbinden. Alle hatten grosses Mitleid mit uns.

Unterstützt euch euer Umfeld?

Verwandte und Nachbarn zeigen viel Verständnis. Dafür bin ich sehr dankbar. Wenn jemand gefahren werden muss oder jemand bei Papa daheim sein muss, helfen sie. Und die beiden Schwestern von Papa sind da und übernehmen, wenn wir eine Auszeit brauchen.

Wie organisiert ihr denn Betreuung und Pflege?

Mama arbeitet noch und wir gehen zur Schule. Am Montag hat Mama frei und passt – wie am Wochenende – auf Papa auf. Am Dienstag kommt die Spitex. Für die restlichen Tage haben wir eine private Pflegerin gefunden. Alle machen ihren Job perfekt!

Kommen manchmal Freunde vorbei?

Es tat allen furchtbar leid, was passiert ist. Trotzdem sind viele Kontakte abgebrochen.

Aber das verstehe ich auch. Ein paar wenige Freunde haben uns besucht. Sie haben Papa nach längerer Zeit zum ersten Mal wiedergesehen und waren sehr erschüttert. Gespräche mit meinem Vater waren auch nicht mehr möglich.

Wie war das für dich und deine Familie, als ihr endlich wusstet, was dein Vater hat?

Es war eine Erleichterung. Davor haben wir uns über sein Verhalten aufgeregt. Wir sind davon ausgegangen, er müsse sich einfach mal am Riemen reissen und seine Pflichten wahrnehmen. Als wir wussten, dass er das nicht kann, hat das sehr geholfen.

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Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Du warst damals in dem Alter, wo die Eltern schwierig werden. Was hat dich auf die Palme gebracht?

Papas Teilnahmslosigkeit. Er wollte nur noch Autofahren, alles andere war ihm egal. Er hat nicht getan, was man von einem Vater oder Ehemann erwartet – im Haushalt helfen, füreinander da sein … Wenn Papa überfordert war, hat er gelacht. Das hat mich verletzt, dass er einfach nur gelacht hat, wenn ich ein Problem hatte.

Du schreibst in deiner Maturarbeit, dass du deshalb oft auf 180 warst. Wünschst du dir heute, dass du anders reagiert hättest?

Ich war dauernd sauer auf Papa, weil er keine Sekunde mehr so war, wie ich ihn kannte. Das machte mich traurig.

Ich habe ihn oft angefahren, er solle sich mal zusammenreissen. Heute frage ich mich, ob er das noch mitbekommen hat.

Es ist unfair, ihm das an den Kopf zu werfen, wenn er nichts dagegen tun kann. Aber ich habe meinen Frieden damit geschlossen durch den Gedanken, dass auch ich mit der Situation überfordert war.

Eure Rollen haben sich vertauscht.

Genau. Plötzlich war ich diejenige, die auf ihn aufgepasst hat.

Redest du mit deinen Freund:innen darüber?

Mit meiner besten Freundin und meinen WG-Mitbewohnerinnen. Das hilft. Als ich meine Maturarbeit geschrieben habe, kamen auch andere auf mich zu. Vielen ist nicht bewusst, wie ernst diese Krankheit ist. Die stellen sich das wie beim Film Honig im Kopf vor. Man ist halt ein bisschen vergesslich …

Wie reagieren deine Gesprächspartner:innen, wenn du ihnen erzählst, was diese Demenzform ausmacht?

Sie finden es krass, sind aber auch interessiert. Ich freue mich, wenn Leute sich ein Bild machen wollen und nachfragen. Das zeigt auch mir neue Aspekte auf. Was man ihnen kaum zum Vorwurf machen kann: Alle haben furchtbar Mitleid und denken, ich bin ständig traurig, wenn ich meinen Papa anschaue. Das ist nicht so.

Das sagt Young Carer Sofia Jüngling auch: Es gibt durchaus schöne Momente. Erinnerst du dich an einen solchen Moment?

Die gibt es immer wieder. Papa hat meistens denselben Gesichtsausdruck. Wenn er dich dann wie aus dem Nichts mit einem direkten Blick anschaut, ist das wunderschön. Ich geniesse es, wenn er mich bei der Hand nimmt oder umarmt. Er macht das nicht mit dem Bewusstsein: Ich umarme jetzt meine Tochter. Aber es ist schön, seine Nähe zu spüren. Letzten Freitag, als ich ihn zur Begrüssung in den Arm genommen habe, hat er sogar zurückgedrückt.

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Wie geht es dir und deiner Familie jetzt?

Papas Demenz hat uns alle zusammengeschweisst. Wir reden offener miteinander, arbeiten enger zusammen. Wir wissen, dass wir einander jederzeit verlieren könnten, und schätzen uns deshalb umso mehr.

Ich habe die Situation angenommen. Meistens geht es mir gut. Nur wenn ich darüber nachdenke, wie es sein könnte, werde ich traurig. Andererseits ist es auch schön, mich aktiv an meinen gesunden Papa zu erinnern. So kann ich diese Momente mehr schätzen.

Hast du Strategien, wie du damit umgehst?

Manchmal schaue ich Papa einfach nur zu. Zum Beispiel wenn wir am Tisch sitzen und er noch den letzten Rest von seinem Teller aufputzt. Das ist wie meditieren. Wenn mich etwas stark belastet, schreibe ich Tagebuch. Und reiten hilft immer – wenn ich auf dem Pferd sitze, vergesse ich alles andere!

Für deine Maturarbeit bist du tief in das Thema Frontotemporale Demenz eingetaucht. Hat dir das geholfen, Erlebtes zu verarbeiten?

Ich konnte mir ein Bild davon machen, was im Gehirn passiert und warum Papa ein bestimmtes Verhalten zeigt. Immer wieder wurde ich damit konfrontiert, was wir als Familie eigentlich durchgemacht haben. Einiges hatten wir schon verdrängt.

Was willst du anderen Young Carers auf den Weg geben, die ähnliches erleben wie du?

Ich bin vorsichtig mit Tipps. Es ist wichtig, dass man sich individuell überlegt, was für einen passt. Man sollte sich Zeit lassen, das herauszufinden. Und sich nicht gezwungen fühlen, darüber zu reden.

Vielen Dank für das Gespräch, Lena. Wir freuen uns, dass wir deinen Erlebnisbericht bald auf alzheimer.ch veröffentlichen dürfen!


Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.