Aus dem Lachen wurde ein Schreien - demenzjournal.com

Papa hat Demenz (4)

Aus dem Lachen wurde ein Schreien

Die Frontotemporale Demenz hat Lenas Vater komplett verändert. Véronique Hoegger

Mit Fortschreiten der Erkrankung ist Lenas Vater ruhiger geworden. Und obwohl es schmerzhaft ist, ihn so zu sehen, geniesst Lena die Momente, in denen sie sich zu ihm legen und seine Nähe spüren kann.

Von Lena Stühlinger

Heute braucht Papa bei allem Hilfe. Nur wenige Dinge kann er selbst machen. Er macht diese Dinge aber eher selten. Trinken kann er zum Beispiel sehr gut allein, er tut es aber nur manchmal. Beim Duschen, Anziehen, Zähneputzen, Essen und auf die Toilette Gehen braucht er Hilfe. Doch Mama arbeitet und wir drei Kinder sind in der Schule.

Engel und andere Helferinnen

Deshalb kommt an einem Tag jemand von der Spitex und an drei Tagen eine Frau, die selbständig in der Pflege und Betreuung arbeitet. Diese Frau ist ein riesiges Geschenk für meine Familie. Papa und sie kommen super miteinander klar.

Erlebnisbericht

Als Lena 15 war, zeigte ihr Vater erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz. Was das bedeutet, hat sie in ihrem sehr persönlichen Erlebnisbericht festgehalten. Wer sich mit Lena austauschen möchte, darf sie per Mail kontaktieren.

Sie kocht für uns, wenn wir da sind, und erledigt Verschiedenes im Haushalt, für das niemand Zeit hat, obwohl sie das eigentlich nicht müsste. Sie ist eine wahnsinnig grosse Entlastung und ich kann nicht sagen, wie froh ich bin, dass wir sie gefunden haben. Meine Tante pflegt zu sagen, dass sie ein Engel ist.

Ich bin froh, dass wir jemanden so Tolles gefunden haben. Denn die Leute, die uns unterstützen kommen, sind ständig in unserem Haus und irgendwie auch in unserem Leben. Am Anfang war das komisch, mittlerweile ist es aber Alltag geworden.

Papa kann noch sicher gehen. Aufstehen eigentlich auch, meistens benötigt er aber Hilfe. Er kann mehr oder weniger selbst essen, nur manchmal bringt er das Essen nicht auf die Gabel. Aber man muss ihn trotzdem beobachten, denn er stopft sich das Essen oft einfach rein. Zwischendurch muss man dann den Teller wegnehmen, damit er nicht erstickt.

Das Lachen wird zum Schreien

Ganz ist die Unruhe bei Papa noch nicht verschwunden. Obwohl es mittlerweile nicht mehr ganz Unruhe ist, sondern eher Unsicherheit.

Wenn er zu Hause ist und umhergeht, habe ich oft den Eindruck, als ob er nicht wirklich weiss, was er mit sich anfangen soll.

In diesen Momenten läuft er ohne Ziel durch das Wohnzimmer und schreit. Schreien, das ist das Einzige, was er wirklich macht, um sich zu verständigen. Sein Lachen wurde zu einem Schreien. Das ist oft nervig und wahnsinnig laut und man kann nichts dagegen tun.

Papa kann noch gehen, ist aber inzwischen stark pflegebedürftig.privat

Papa ist aber schnell müde und dann setzt oder legt er sich hin. Dann ist er ruhiger. Was jetzt angenehmer ist als in den Phasen vorher, ist, dass er jetzt nicht mehr selbständig ist. Man muss kein schlechtes Gewissen mehr haben, wenn man ihn nicht wie eine erwachsene Person behandelt.

Zu Hause schliessen wir alle Türen ab. Auch Fenstertüren haben wir mit Schlössern versehen. Die Damen von der Spitex können seinen Tag gestalten, er sagt nichts mehr und macht eigentlich fast alles mit.

Da er nicht mehr selbst auf die Toilette geht, trägt er Windeln. Das ist schon komisch, einen Vater zu haben, der eigentlich wie ein Baby ist. Es ist auch echt krass, wenn man ihn heute ansieht und ihn mit seinem alten Ich vergleicht. Er hat sich wahnsinnig verändert.

Neben den Windeln ist der Speichelfluss das mit Abstand Ekligste. Papa sabbert unendlich viel, weil er im Alltag den Speichel nicht mehr herunterschluckt und es auch zur Krankheit gehört, dass der Mund mehr davon produziert. Wenn Papa den Mund öffnet, platschen manchmal ganze Wasserfälle daraus hervor. Das ist ein Problem, das man leider nicht beheben kann.

Ich hasse diese Momente, wenn man mit den Kuschelsocken durchs Haus geht, um sich einen Tee zu machen, und plötzlich die ganze Socke klitschnass ist, weil man in einen Sabbersee mit Apfelstückchen getreten ist. Oder wenn man aufs Sofa sitzt und in ein Speichel-Bad greift.

Eklig, aber auch unterhaltsam ist, wenn man beim Abendessen ans Tischende blickt und Papa sitzt da mit unschuldigem Blick und verschmiertem Mund, Joghurtreste kurz vor dem Absturz und vereinzelte Brotkrümel im Haar.

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Ein Kind als Vater

Auch wenn es nicht einfach ist, einen demenziell veränderten Vater zu haben, gibt es wie bei jedem Schicksalsschlag trotzdem schöne Momente. Bei mir und meinem Papa ist das zum Beispiel, wenn alle etwas zu tun haben, im Wohnzimmer sitzen und Mama Papa auf dem Sofa platziert hat, wo er ganz still sitzt mit seinem Tüchlein oder Plüschtier in der Hand.

Es herrscht eine schöne und entspannte Atmosphäre, wenn Papa Ruhe gefunden hat.

So sitzt er auf dem Sofa, hebt die Füsse und senkt sie wieder in einem schnellen Rhythmus. Er faltet das Tuch in seinen Händen, hält es vors Gesicht und senkt es wieder. Dabei schaut er allem zu, was um ihn herum passiert. Trotzdem ist er ganz bei sich. Falls er das Plüschtier in den Händen hält, streichelt er es oder nimmt es in den Mund mit ausdruckslosem, aber irgendwie interessiertem Blick.

In solchen Momenten, wo er ganz bei sich ist und nicht bemerkt, dass die ganze Familie ihn beobachtet, ist er ganz eindeutig wieder wie ein Kind, oder eher wie ein Säugling. Es sind auch die Momente, die am schönsten und gleichzeitig am traurigsten sind.

Wenn er so ruhig dasitzt, lege ich mich oft zu ihm und suche seine Nähe.

Und obwohl er mich nicht wahrzunehmen scheint oder sich jedenfalls nicht für mich persönlich interessiert, ist es schön. Ich glaube auch, dass er die Gesellschaft geniesst.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Diese entspannenden Momente machen mich aber auch am traurigsten. Wenn man Zeit hat, seinen sogenannten Vater anzuschauen, zu sehen, was noch von ihm übrig ist. In denen man versuchen kann sich zu erinnern, wie er war und wie er jetzt ist. Es ist nichts mehr von meinem ehemaligen supercoolen Papa übrig.

Nicht einmal das Äussere ist geblieben. Sein Gesicht ist wie ein alter Helium-Ballon zusammengefallen, sein Mund meistens weit geöffnet. Er geht nicht mehr aufrecht und mit kleineren Schritten. Sein Körper ist wie erstarrt und seine Hände bewegen sich nervös. Einen richtigen Gesichtsausdruck hat er schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gehabt. Ich denke, vor allem dieser leere Blick ist es, den ihn so sehr verändert hat.

(Fortsetzung folgt.)


Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.