Menschen mit Frontotemporaler Demenz vernachlässigen die Körperpflege.
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Noch weiss Schülerin Lena nicht, dass ihr Vater eine Frontotemporale Demenz hat. Er ist nicht mehr derselbe, lacht, wenn sie traurig ist, und sucht sie in der Schule. Lena erzählt, wie sie den Krankheitsbeginn erlebt hat.
Von Lena Stühlinger
Papa fing an, masslos viele Süssigkeiten zu essen. Alles, was zu Hause herumstand, hat man einfach mal gegessen. So zum Beispiel auch meine Lieblingskekse, die ich nach Jahren endlich in einem Laden gefunden hatte. Und nicht einfach nur einen oder zwei – nein, Papa hat gegessen, bis die Packung leer war oder sie ihm jemand weggenommen hat. Im Falle meiner Kekse: bis es keine mehr hatte. *Schnief*.
Es war aber auch ganz cool, wenn man sich eigentlich nur eine Schüssel aus dem Schrank holen wollte und dann aber eine ganze Packung Schoko-Taler gefunden hat, die jemand um Weihnachten herum im Gestell versteckt hatte. Zum Glück wird Schokolade nicht schlecht. So konnte man die neu entdeckte Weihnachtsschokolade auch noch im Sommer essen.
Hier gehts zum ersten Teil
Papa hat Demenz (1)
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Kindische Aktionen machten für Lena ihren «Super-Papa» aus. Dann veränderte sich seine Persönlichkeit durch eine Frontotemporale Demenz radikal. Lesen Sie den ersten Teil … weiterlesen
Masslosigkeit, aber nicht in der Hygiene
Aber nicht nur Süsses fiel Papa zum Opfer. Später waren es auch Früchte und leider auch Alkohol. Jeden Abend hat er ein, zwei, drei oder auch mehr Gläser getrunken und ohne Ende Chips gegessen. Bevor er zum Alkoholiker wurde, hat er aber zum Glück von allein aufgehört, Alkohol zu trinken. Früchte mussten wir fortan aber verstecken. Er ass sie einfach eine nach der anderen auf.
Erlebnisbericht
Als Lena 15 war, zeigte ihr Vater erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz. Was das bedeutet, hat sie in ihrem sehr persönlichen Erlebnisbericht festgehalten. Wer sich mit Lena austauschen möchte, darf sie per Mail kontaktieren.
Seine eigene Körperhygiene hat Papa dagegen nicht mehr interessiert. Mama musste ihn erpressen, damit er duschen ging, und rasiert hat er sich gar nicht mehr. Wenn Mama ihm sagte, es wäre mal wieder an der Zeit, sich zu rasieren, sagte er immer, er wolle sich einen Bart wachsen lassen.
Das war schon echt seltsam, einen Vater zu haben, der nicht duschen gehen will. Ich meine, wem passiert das schon, dass er oder sie zu Gesicht bekommt, wie die Mutter den Vater mit den Autoschlüsseln in der Hand erpresst, duschen zu gehen? Das mit den Autoschlüsseln versteht ihr, wenn ihr weiterlest.
Bald war Papa so unzuverlässig, dass es nicht mehr ging in der Schule. Sein Arbeitgeber stellte ihn vor die Wahl: entweder lässt er sich krankschreiben oder er (der Arbeitgeber) ist gezwungen, ihn freizustellen.
Papa war zu diesem Zeitpunkt schon länger in psychiatrischer Behandlung, da man eine Depression oder ein Burn-Out vermutete. Seine Psychiaterin schrieb ihn also krank. Eine Weile lang trauerte Papa der Arbeit noch nach, aber ich weiss nicht, wie ernst es ihm wirklich war.
Der nervenaufreibende Hausmann
Papa war plötzlich immer so nervös, getrieben von einer unsichtbaren Kraft, die ihn nicht zur Ruhe kommen liess. Das hat er auch immer wieder gesagt. Ständig musste er herumlaufen, spazieren oder Auto fahren gehen.
Manchmal war er Stunden lang mit dem Auto unterwegs, ohne ein Ziel zu haben. Wir wussten nicht, wo genau er war oder was er gerade machte.
Irgendwann fing er an, Freunde zu besuchen. Bei einem alten Kumpel aus der Band lief er ohne zu klopfen immer wieder ins Haus rein. Auch bei unseren Nachbarn hat er das gemacht. Alle mussten die Haustür abschliessen, damit Felix nicht wieder reinstürmt.
Das wohl Peinlichste, das er gemacht hat – und in dieser Phase ist die Liste lang und voll mit Klassikern – war, dass er häufig in die Schule fuhr, wo er gearbeitet hatte und wo ich damals zur Schule ging. Er lief im Gebäude herum, ging in Klassenzimmer und suchte mich. Und das alles nur, um mich zu fragen, ob ich zum Mittagessen nach Hause kommen würde. Ich ass immer zu Hause Mittag, wirklich immer. Zum Glück hat er mich nicht gefunden, das wäre echt unangenehm gewesen. Wie ihr vielleicht merkt, wurde mir mein Vater mehr und mehr peinlich in der Öffentlichkeit.
Diese Phase war schwierig, weil niemand wusste, was mit ihm los war. Er war wahnsinnig seltsam und nicht mehr er selbst. Ich vermute, zu diesem Zeitpunkt hat er noch mitbekommen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Auch später noch. Das hat man an Sprüchen gemerkt, die er immer wieder gebracht hat. Dazu später.
Trotzdem war er immer noch eine erwachsene Person. Man konnte ihm also nicht einfach das Autofahren verbieten. So konnten wir auch nichts gegen seine unerwünschten Besuche bei seinen alten Freunden machen. Einen seiner Freunde besuchte er sogar regelmässig bei der Arbeit und das ging einfach nicht. Aber egal wie oft man ihm gesagt hat, er solle wenigstens klingeln und schon gar nicht die Süssigkeiten dieser Freunde essen (ja, das hat er wirklich gemacht), er gehorchte nicht.
Inzwischen konnte man kein richtiges Gespräch mehr mit Papa führen. Entweder lief er davon oder er hörte nicht richtig zu. Seine Teilnahmslosigkeit war krass.
Wenn ich vom Training für meine Reitprüfung zurückkam und es nicht gut lief und ich bei Mama sass und weinte, kam er und lachte mich aus.
Naja, er lachte mich nicht aus, er lachte einfach, aber es fühlte sich danach an. Wenn ich ihn dann anschnauzte, ging er einfach wieder. Dass er lachte, kam wohl daher, dass er einfach überfordert war.
Lesen Sie das Interview mit Lena Stühlinger
Frontotemporale Demenz
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Auch als Hausmann versagte er kläglich. Oft war ich über Mittag mit ihm allein. Er «kochte». Das Wort steht hier aus folgenden Gründen in Anführungszeichen:
Wirklich jeden Tag kochte er das Gleiche: Gemüse aus der Dose zu Pouletbrust mit Kartoffelbei aus dem Beutel.
Das Dosengemüse war immer kalt, das Fleisch ungewürzt und trocken oder noch nicht durch.
Den Kartoffelbei machte er mit diesen Beuteln, die mit Flocken gefüllt sind. Er goss einfach etwas Milch in die Pfanne, kommt ja nicht darauf an wieviel. Dann kippte er den Beutelinhalt hinein und fertig war’s. Umrühren ist überbewertet, Leute! Wenn man sich also einen Löffel nehmen wollte, fand man mit etwas Glück richtigen Kartoffelbrei, aber meistens nur pampige oder noch ganze Flocken.
Abgesehen von Kochen machte Papa nichts für den Haushalt. Die einzige Aufgabe, die er immer erfüllte, obwohl sie eigentlich unerwünscht war, war es, mich auf meinem Schulweg abzuholen. Ich glaube, alle können sich vorstellen, wie toll ich es als Sekundarschülerin fand, dass mein Papa mich von der Schule abholte. Zum Glück haben das meine Mitschüler:innen nie gesehen, sonst wäre ich zu Hause wirklich komplett ausgerastet.
«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»
Wenn ich und mein treuer «Abholer» dann zu Hause ankamen, war der Herd meistens auf höchster Stufe, die Sauce vom Fleisch schon verdunstet und ein zarter Wasserdampfnebel schwebte um den Herd herum.
Hier muss man anmerken, dass Papa früher sehr gut kochen konnte. Und auch putzen und all das eben. Nachdem ich die Sauce nochmal neu gemacht hatte (so habe ich gelernt, Bratensauce zu machen), assen Papa und ich, ohne ein Wort zu sagen. Obwohl ich es langweilig fand und es mir keinen Spass machte, baute ich die schönsten Brunnen aus Kartoffelbrei, die die Welt je gesehen hat. Nur damit Papa sah, dass ich beschäftigt war, und ich nicht mit ihm reden musste.
Damals war ich nicht gut auf ihn zu sprechen. Wenn er immer und immer wieder die gleichen Dinge sagte, eine Zeit lang war das wirklich schlimm, nervte er mich so sehr.
Dass Papa seine Pflichten vergass und plötzlich nur noch seltsam war und mich blamierte, nahm ich ihm sehr übel.
Oft habe ich ihn in meiner Rage auch angeschrien. Dieses Verhalten war damals zwar verständlich, aber es gehört zu den Dingen, die ich am meisten in meinem Leben bereue. Für solche Handlungen muss man sich aber nicht schlecht fühlen. Nicht nur Papa war überfordert, auch ich. Er zeigte es mit Lachen und ich wurde eben wütend, weil ich einfach nicht anders konnte.
Heute kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie wir das alles ausgehalten haben. Papa war so seltsam und nicht mehr er selbst und niemand wusste wieso. Wie ich damit fertig wurde, weiss ich nicht mehr genau. Ich glaube aber, dass meine Wut auf ihn die Trauer überdeckt hat oder vielleicht gar keine Trauer vorhanden war, da Papa ohne Grund seltsam war und ich davon ausging, dass er sich nur zusammenreissen müsste.
(Fortsetzung folgt.)
Hier gehts zum dritten Teil
Papa hat Demenz (3)
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Seit der Demenzdiagnose weiss Lena, warum ihr Vater so anders ist. Warum er andere beleidigt und böse Gesichter in den Wolken sieht. Trotzdem … weiterlesen
Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.
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