Es ist alles zu schaffen, aber nicht alleine - demenzjournal.com

Jung betroffen

Es ist alles zu schaffen, aber nicht alleine

Angebote für Menschen mit Demenz richten sich meist an ältere Betroffene. Junge schauen in die Röhre. Pixabay

Wer jung an Demenz erkrankt, steht noch mitten im Leben. Das bringt besondere Herausforderungen mit sich, vor allem da sich Angebote überwiegend an ältere Menschen richten. Ein Praxisbuch gibt Fachleuten Einblick in die Zusammenhänge und zeigt auf, wie Jungbetroffene besser begleitet werden können.

Mitten im Leben – da rechnet man nicht mit Demenz. Doch gerade das Mitten-im-Leben-Sein bringt zahlreiche Konflikte mit sich, wenn plötzlich die Diagnose Demenz im Raum steht. Arbeit, Familie, Hobbies, Mobilität – kaum ein Lebensbereich, in dem es nicht «knirscht». In unseren Beratungs- und Betreuungssystemen gibt es dafür wenig Wissen und Angebote.

Der Sammelband «Diagnose Demenz im jüngeren Lebensalter» benennt die Herausforderungen rund um die Diagnose bis hin zum Tod deutlich und zeigt in vielen Praxisbeispielen, was möglich ist, wenn …

An diesem Wenn kann man aber auch verzweifeln bei der Lektüre. Zuerst also: Wenn es überhaupt zu einer Diagnose kommt. Beim Lesen des langen Kapitels über Formen und Symptome der Frontotemporalen Demenz (FTD) ahnt man, vor welchen Rätseln Allgemeinmediziner hier stehen können. Und da sind die vielen anderen Erkrankungen, die zu einer frühen Demenz führen können, noch aussen vor.

Ein anderes Wenn steckt hinter der Empfehlung, sich «an eine psychologische Fachkraft [zu] wenden», die fast mantra-artig wiederholt wird. Aber woher nehmen? Wo finden sich solche Fachkräfte, die mit Wissen und Ressourcen ausreichend ausgestattet sind? Wer bezahlt die Begleitung von Familien, wie sie im Buch sehr differenziert und praxisnah beschrieben wird? Und wo finden sich Psychotherapeut:innen, die sich mit dem Thema Demenz auskennen und beschäftigen wollen?

Gerade angesichts der oft existenziellen finanziellen Bedrohung, die eine frühe Demenz mit sich bringt, klafft bei der Verfügbar- und Leistbarkeit solcher Beratungsleistungen eine grosse Lücke im System.

Die Finanzierungslogik, die auf Alter und Pflegebedarf abstellt und jüngere Menschen mit Demenz in guter körperlicher Verfassung aussen vor lässt, wird auch an mehreren Stellen im Buch angesprochen. Dass sich aber «immer noch eine Leistung [findet], die man nicht kannte», ist wenig glaubhaft, wenn am Ende dieses Kapitels die Notwendigkeit von Musterklagen zum Durchsetzen von Leistungen erwähnt wird.

Ein grosses Wenn liegt in der Bereitschaft von Betroffenen und Angehörigen, sich auf den Dialog, die aktive Beschäftigung mit der neuen Situation einzulassen.

Angst, Scham, Stigma und Verzweiflung müssen hier oft überwunden werden. Vielleicht sind jüngere Menschen offener für eine solche Begleitung – das Buch gibt dazu aber keine Anhaltspunkte.

Vernetzungstreffen

Eine frühe Demenz stellt Betroffene vor besondere Herausforderungen, denn sie stehen noch mitten im Leben. Angebote richten sich aber vor allem an ältere Menschen mit Demenz.

Wie können Jungbetroffene in Beratungssettings gut begleitet werden? Welche Entlastungsangebote sind sinnvoll? Um diese Fragen geht es am Vernetzungstreffen, das sich an alle richtet, die in der Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen tätig sind. Ergebnis ist ein Positionspapier, in dem Herausforderungen, Angebote und Lücken formuliert sind.

Wann: 15. September 2022, 9–15:30 Uhr
Wo: zoom
Veranstalter: Kardinal König Haus, Wien
Kosten: 40 Euro

→ Anmeldung und weitere Infos

Die Kapitel, die ganz konkret und mit vielen Zitaten zeigen, was gelingen kann, sind die stärksten Passagen im Buch. Und sie belegen, was wir aus der Selbsthilfe wissen:

Besonders überzeugend, authentisch und gut annehmbar ist Rat und Austausch auf Augenhöhe.

Daher ist es auch bedauerlich, dass Peer-Beratung, Selbsthilfegruppen und den Bedingungen, unter denen sie gelingen, wenig Platz eingeräumt wird. Sicher sind Einzelberatungen von Expert:innen wichtig und hilfreich, aber sie sind nicht der einzige Weg. Konkrete Tipps, etwa zum Aufbau und zur Begleitung von Peer-Gruppen wären eine gute Ergänzung für ein «Praxisbuch».

Und wenn es dann zuhause nicht mehr alleine geht? Hier bietet das Buch mehrere Insel-Lösungen an, die sogleich mit Einschränkungen vorgestellt werden: «Einzelne Organisationen bieten an» … Das umfangreiche Kapitel über die Betreuung durch den Verein wohlBEDACHT in München etwa liest sich zwar inspirierend und überzeugend. Das personalintensive und mit Stiftungsgeldern finanzierte Konzept wird aber aus Kostengründen kaum nachzuahmen sein.

Das Lebensende wird nicht ausgespart. Ein ganzes Kapitel widmet sich dem Wissen und praktischen Hinweisen dazu. Naturgemäss bleibt es oberflächlich, die gesamte palliative Sterbebegleitung wird auf wenige Seiten reduziert. Aber die deutlichen Hinweise, was in dieser Phase Lebensqualität bedeuten kann und dass diese anders sein kann als vielleicht vermutet, gibt gute Anregungen für Angehörige und Betreuungskräfte.

Teilhabe fördern im Konfetti-Café

Konfetti im Kopf

Für einen Moment Königin sein

Das Konfetti-Café in Hamburg ist offen für jeden – für Menschen mit und ohne Demenz. Die fröhliche Stimmung wirkt auf alle ansteckend. weiterlesen

Leider ist dieses Buch über längere Passagen nur hilfreich, wenn man in Deutschland lebt. Ganze Abschnitte zu Wohnformen, Rechtlichem und sozialen Leistungen sind für Österreich und die Schweiz nicht relevant. Hier wäre es hilfreich, über Links oder kurze Hinweisboxen auch für diese Länder Informationen zugänglich zu machen.

Was fehlt – wie bei vielen Sammelbänden – sind ein roter Faden und die Abstimmung der Inhalte. So wird etwa anfangs die FTD sehr ausführlich beschrieben, in späteren Kapiteln ist von anderen Demenzformen so die Rede, als wüsste man schon, worum es geht. Hier kommt man dann nur mit Internet-Recherche auf die Spur, was gemeint ist. Andere Inhalte wiederholen sich hingegen ohne zusätzlichen Nutzen.

Stark und lesenswert ist das Buch aus zwei Gründen:

  • Es gibt einen Einblick, wie Beratung und aktive Auseinandersetzung auf der individuellen Ebene, in Familiensystemen und in Einrichtungen wirksam werden. Die Fülle der Beispiele und Ideen macht Mut und bietet sehr konkrete Hinweise für die Praxis. Besonders einprägsam und authentisch sind die Berichte von Betroffenen, die zeigen, wie sie individuell neue Wege einschlagen und Lebensfreude finden konnten: «Wir haben uns wiedergefunden und wir flirten wieder miteinander.» (S. 114)
  • Es versammelt – nicht nur für Profis, sondern auch für Angehörige – sehr kompakt viele Informationen und Aspekte des Lebens mit früh auftretender Demenz und ist damit ein gelungener Einstieg ins Thema.

Was noch fehlt? Eine Gesellschaft, die Teilhabe ermöglicht und ein Sozialsystem, das die hier beschriebenen Hilfen auch finanziert. Aber das ist nicht Aufgabe des Praxisbuchs, sondern eine andere Geschichte …