Das innere Leuchten des Herrn Fock - demenzjournal.com

Weihnachtsgeschichte

Das innere Leuchten des Herrn Fock

«Schliesslich gelangten sie nach unten, die Elbe lag ruhig im Nebel da. Noch ein paar Schritte, und sie waren am Schiffsanleger.» Was Kapitän Fock und Kater Timo dort wohl erwartet? Joakim Honkasalo, Unsplash

Früher war Herr Fock Kapitän grosser Hochseeschiffe. Jetzt ist er alt und vergesslich geworden, die Erinnerungen an seine Reisen verblassen. Doch an Heiligabend erlebt er – begleitet vom weltenbummlerischen Kater Timo – sein ganz eigenes Weihnachtswunder …

Überall in den Bäumen hingen kleine glitzernde Segelschiffe. Sie tanzten in der Luft gegen den dunklen Winterhimmel. Auch die Backstein-Kirche am Markt war geschmückt, über dem Eingang hing ein heller Stern, der schon von weitem zu sehen war.

Wenn es dämmerig wurde, kam Herr Fock fast jeden Tag in die Blankeneser Marktkirche. Vor zwei Jahren war seine Frau gestorben, er blieb nicht gern allein zu Hause. In der Kirche schaute er sich immer die beiden Schiffsmodelle an, die über seinem Kopf an der Wand hingen und den Besucher daran erinnerten, dass die Elbe nicht weit war.

Nach dem Tod seiner Frau war Herr Fock dürr geworden. Früher hiess es immer, kein Wind könne ihn umpusten, jetzt war das nicht mehr so sicher, sein Gang war leicht tapsig. Auf dem Kopf trug er eine rote Pudelmütze, die er auch in der Kirche nicht absetzte, seine ehemals dichten schwarzen Haare waren jetzt dünn und grau.

Seit einiger Zeit war Herr Fock ein bisschen seltsam geworden. Gelegentlich vergass er, nach Hause zu gehen.

Dann bat ihn eine Dame vom Kirchenbüro freundlich, die Kirche zu verlassen, weil sie absperren wollte. Manchmal wurde er auch übersehen, wenn er sich oben, nicht weit von der Orgel, in eine Ecke verzogen hatte. Dann blieb er die ganze Nacht. Mitunter dachte er, er sei im Bauch eines Walfisches, so wie Jonas aus der Bibel, der in einem Walfisch gelandet war, nachdem er sich geweigert hatte, einem Befehl Gottes zu folgen und zur Strafe ins Meer geworfen worden war. Für Herrn Fock war es jedoch keine Strafe, wenn er im Kirchenbauch bleiben musste ­­– im Gegenteil.

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Viele Jahre war er als Offizier über die Weltmeere gefahren. Wenn er in der Kirche sass, dachte er an Guadeloupe, vielleicht war es auch Sansibar, er wusste es nicht mehr genau. Oder er dachte an das Kreuz des Südens, er hatte sich nicht satt sehen können an den vier unglaublich hellen Punkten am Himmel. Viel schöner als das strenge Kruzifix hier in der Kirche, fand er. Wie hiess noch der hellste von den vier Sternen, Alpha, Acrux oder Crux?

Seit einiger Zeit hatte Herr Fock in der Kirche regelmässig Besuch. Es war Timo, ein schwarzer Kater mit ein paar hellen Flecken um die Augen.

Er ging gern seine eigenen Wege, Herr Fock kannte ihn schon länger. Nur dass Timo in die Kirche kam, war neu. Der Kater gehörte Antonio, dem Besitzer des italienischen Restaurants, das direkt an der Bahnhofstrasse lag. Ab und zu trank Herr Fock am späten Vormittag einen Cappuccino bei ihm.

Antonio hatte immer viel zu tun und vergass darüber, Timo zu kraulen. Manchmal, wenn er eine Zigarette rauchte, erzählte er von Sizilien, wo er geboren war, dem mare meraviglioso, dem grossartigen Meer unter dem satten Himmelsblau. Antonio trank gern, und wenn er am späten Morgen aufwachte, hat er einen Kater, wie er sagte. Herr Fock dachte dann, dass Timo sympathischer war als der andere Kater, der Antonio den Kopf vernebelte.

Immerhin bekam Timo gut zu fressen bei Antonio, mal gab es Arancini, frittierte Reisbällchen, mal gebratenen Schwertfisch und zum Nachtisch süsse Cannoli, mit Ricotta gefüllte Teigrollen. Das Streicheln übernahm dann Herr Fock, wenn er am Tresen über seinem Cappuccino sass. Er fühlte sich wohl in Timos Nähe. Keiner, der ihn argwöhnisch ansah, wenn er nicht mehr wusste, ob er schon Zucker in seinen Kaffee gestreut hatte oder warum alle Leute vor Heiligabend so hektisch durch die Gegend liefen. Timo wiederum war froh, dass Herr Fock niemals sagte, er habe zum Kraulen keine Zeit. Der alte Mann hatte eine Menge Zeit.

Herr Fock liebte die Orgel in der Marktkirche. Wenn er wieder einmal in der Kirche eingesperrt war, setzte er sich an das Instrument. Er konnte zwar nicht richtig spielen, nur Akkordeon, aber es machte ihm Spass, seine Finger über die Tasten gleiten zu lassen.

Timo legte sich dann auf seine Füsse und hörte zu, Herr Fock mochte das, Timo war wie eine lebende Wärmflasche.

Manchmal liess er allerdings seine Hände mit voller Wucht auf die Tasten fallen, das war wie ein Sturm, der plötzlich losbrach. Dann verschwand Timo im hintersten Winkel der Kirche, er hasste es, so zugedröhnt zu werden, Herr Fock vergass das leider immer wieder. Der alte Mann musste lange suchen, bis er Timo gefunden hatte. Es konnte passieren, dass Timo ihn dann einmal kräftig am Unterarm kratzte – Kralle gegen Krach!

An einem nebligen Tag im Dezember drängten sich auf dem Kirchenvorplatz die Leute. Die Glocken läuteten länger als sonst, und bald strömten alle in die Kirche. Herr Fock folgte ihnen, Timo trottete hinterher. Die Menschen trugen elegante dunkle Mäntel, die Schuhe glänzten frisch poliert, goldene Armreifen klimperten. Im Inneren der Kirche baumelte ein grosser Stern von der Decke, die Kerzen des Tannenbaums im Altarraum waren entzündet.

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Herr Fock wunderte sich, dass so viele Leute die Kirche belagerten. Eigentlich war es doch ein bisschen seine Kirche, fand er. Er setzte sich ganz hinten in eine Bank, Timo sprang auf seinen Schoss, er hatte ebenfalls keine Lust auf das Gewühl. Herr Fock hoffte, dass die Menschen bald abziehen würden, aber es sah nicht danach aus.

Sie sangen mit weit geöffneten Mündern und roten Wangen, standen auf, brabbelten etwas vor sich hin und setzten sich wieder. Dann stieg ein Mann mit schwarzem Umhang auf ein Podest und hörte gar nicht mehr auf zu reden. Ungeduldig rutschte Herr Fock auf seiner harten Bank hin und her, und schliesslich beschloss er zu gehen. Er stand auf, ging schnell in Richtung Ausgang, Timo heftete sich an seine Fersen. Ein paar Leute schauten ihnen missbilligend hinterher.

Als sie auf dem leeren Kirchenvorplatz standen, atmete Herr Fock tief durch, sein Atem blies kleine Wolken in die Luft. Ihm war kalt, und er trat von einem Bein auf das andere, Timo musste aufpassen, dass er nicht aus Versehen einen Tritt abbekam. Vorsorglich maunzte er laut, und als Herr Fock nach unten schaute, fiel sein Blick auf kleine Leuchtbilder am Boden.

Es waren Boote, die genauso aussahen wie die Schiffe, die in den Bäumen hingen.

Die Boote am Boden bildeten einen Lichterpfad, Herr Fock und Timo mussten ihm nur folgen. Sie durchquerten die Bahnhofstrasse, bogen rechts ab, wo sie zum Treppenviertel kamen. Auch auf den Stufen der unzähligen Treppen, die zur Elbe führten, waren Leuchtbilder am Boden. Sie kamen vorbei an winterlichen Gärten, sahen durch die Fenster Tannenbäume und Menschen, die Pakete in den Händen hielten. Schliesslich gelangten sie nach unten, die Elbe lag ruhig im Nebel da. Noch ein paar Schritte, und sie waren am Schiffsanleger. Kaum jemand war um diese Zeit unterwegs, sie hatten den Anleger für sich allein, das Wasser unter ihnen gluckerte leise.

Als sie länger standen, sahen sie, wie aus dem Nebel Schiffe auftauchten, hell erleuchtet, manche hatten auf dem Deck einen Tannenbaum stehen. Ab und zu glitt ein Containerschiff vorbei, am Heck konnte man den Namen des Heimathafens lesen. Herr Fock versuchte, die Namen zu entziffern und sich zu erinnern: Port Louis, Stone Town, Pointe-à-Pitre …

Ein kühler Wind blies ihm von der Elbe ins Gesicht, und er zog seine Mütze tiefer in die Stirn; Timo versuchte, in eines seiner Hosenbeine zu kriechen. In diesem Moment näherte sich eine Barkasse dem Anleger, Herr Fock winkte, und das Schiff hielt tatsächlich auf sie zu. Schliesslich machte es am Anleger fest, und der Kapitän rief ihnen zu, ob sie am Heiligabend nicht Besseres zu tun hätten, als am Anleger zu frieren.

Dann gab er ihnen ein Zeichen, an Bord zu kommen.

Im Innern der Barkasse war es warm, die Wände waren mit Holz ausgeschlagen. In einer Ecke stand ein etwas schiefer Tannenbaum, der leicht hin und her schwankte, als das Schiff sich in Bewegung setzte. Eine kleine Krippe gab es auch, und Timo steckte neugierig seinen Kopf hinein. Vielleicht hatte er gehofft, dort ein Katzenbaby zu finden, aber es war bloss Jesus. Durch das Schwanken rollte das Jesuskind von einer Seite auf die andere, irgendwann würde es seekrank werden.

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Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Auf einem grossen Tisch standen Teller mit Matjes, Lachs und Kartoffelsalat. «Bedient euch», sagte der Kapitän und grinste ihnen freundlich zu, viele Worte machte er nicht. Er war hochgewachsen, trug einen akkurat gestutzten Bart und war deutlich älter als sein Kollege, der jetzt am Steuerrad stand. «Tee?» Der Kapitän reichte Herrn Fock eine Tasse und goss ein bisschen Rum dazu, Timo bekam heissen Kakao. Das Boot schwankte leicht, und nach dem Essen wurde Herr Fock schläfrig. War er auf der Barkasse schon mal mitgefahren, vor Jahren, und wohin?

Plötzlich hörten sie ein lautes Tuten. Ein Containerschiff glitt an ihnen vorbei, voll beladen, es sah aus wie ein riesiges Haus. Die Barkasse tutete zurück, und bald verschwand der Koloss im Nebel. Wohin er wohl fuhr? Timo rollte sich am Boden zusammen, vielleicht dachte er an Sizilien, die Heimat von Antonio, an das mare meraviglioso, das tiefblaue Meer, und die Fische, die darin herumschwammen.

Herr Fock dachte an Südamerika. Er stellte sich vor, dass das Containerschiff nach Buenos Aires fuhr oder nach Santos oder Colón. War er schon einmal dort gewesen? Die Namen klangen fern und vertraut, ein sehnsüchtiger Laut, der sanft in seinem Kopf nachhallte.