Während sie eine Scheibe nach der anderen verschlingt, redet sie einfach weiter: «Du siehst, ich bin nicht zum ersten Mal hier. Es macht Spass, Weihnachten von zu Hause auszubüxen. Die Geschenke gibt es sowieso erst morgen. Und ich habe nicht die geringste Lust auf die Mitternachtsmesse.
Wenn ich mich am Eingang nicht sofort bekreuzige, schauen mich die Omis gleich vorwurfsvoll an. Im Gottesdienst erzählen sie einem dann, dass wir alle arme Sünder sind und der Typ am Kreuz für uns gestorben ist. Alles total düster!» Carlo überlegt, was wohl ein Sünder ist und ob es etwas damit zu tun hat, dass er und das Mädchen sich in Signora Bardolinis Laden den Bauch vollschlagen.
«Gut, dass du da bist», sagt Elena, «jetzt ist es richtig gemütlich hier.»
Genüsslich leckt sie sich die Fingerspitzen ab und faltet das leere Küchenpapier zusammen. «Warum muss man Weihnachten immer so viele Dinge tun, die man nicht mag: zu allen lieb und freundlich sein, feuchte Küsse verteilen, sich adrett anziehen. Meine Mutter meint, das gehöre Weihnachten nun mal dazu, aber ich finde es total anstrengend.»
Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und nimmt Carlo auf ihren Schoss. «Am liebsten würde ich dich mit nach Hause nehmen, aber das wäre nichts für dich. Meine jüngeren Schwestern würden dich ständig kraulen und ,che sei bello, che sei bellissimo’ rufen. Das würde dir schnell auf die Nerven gehen!»
Carlo hat das Gefühl, dass Elena recht hat. Wenn er durch den Ort streunt, bleiben häufig Mädchen stehen und strecken die Hand nach ihm aus. Dann sucht er schnell das Weite.
Elena zieht jetzt eine Mundharmonika aus der Tasche und spielt.
Es klingt etwas schräg, auf jeden Fall nicht nach Weihnachten und völlig anders als die Lieder, die im Advent auf der Piazza della Vittoria gegenüber dem Schiffsanleger zu hören sind. Carlo läuft häufig dort entlang, er mag die kleine Eisbahn, auf der die Kinder herumsausen.
Die Weihnachtslieder, die aus den Lautsprechern tröpfeln, klingen honigsüss und passen gut zu der Zuckerwatte, die die Kinder in sich hineinstopfen. Gelegentlich hat er gesehen, wie eine Mutter oder ein Opi eine Träne verdrückt, wenn das Lied «Tu scendi dalle stelle» über den Platz weht. Das könnte Carlo nicht passieren. Elena bestimmt auch nicht, denkt Carlo. «Hatschi!» Jemand niest mitten in Elenas Mundharmonika-Quietschen hinein.
In der Tür steht eine Hexe mit wirren grauen Haaren.
Sie trägt einen schwarzen, abgetragenen Mantel und auf der Nase eine Nickelbrille, die Bügel sind mit Klebeband an den Gläsern befestigt. Der Stiel ihres Besens ist vom vielen Fliegen ziemlich dünn geworden. «Scusate, ich bin erkältet», sagt die Hexe mit einer Stimme, die wie Raben-Krächzen klingt. «Darf ich reinkommen und mich aufwärmen?»
Die Hexe betritt den Laden und stellt ihren spillerigen Besen in die Ecke. Neugierig beobachten Carlo und Elena die Frau, die sich jetzt mit einem Seufzer auf den Jutesack fallen lässt, von dem der Kater gerade runtergesprungen ist. «Ich heisse Marina», sagt die Hexe und nickt den beiden zu. «Ich hatte auch mal eine Katze, aber eines Tages habe ich sie aus Versehen weggezaubert. Ich war untröstlich!» Dumm wie Stroh, denkt Carlo, verzieht aber keine Miene.