Kater Carlo feiert weisse Weihnachten - demenzjournal.com

Weihnachtsgeschichte

Kater Carlo feiert weisse Weihnachten

Dank der freundlichen Hexe Marina schneit es am heiligen Abend. Carlo findet das toll. Bild Shutterstock

Carlo ist froh, dass Signora Bardolini so zerstreut ist. Wenn sie abends ihren Laden verlässt, denkt sie manchmal nicht daran, die Tür abzuschliessen. Carlo kennt das schon. Kaum ist die Tür angelehnt, schlüpft er hinein. Klar, er ist ein gefrässiger Kater, aber in Signora Bardolinis Feinkostladen in Salò würde jeder Vierbeiner, der auch nur ein paar Geschmacksknospen im Maul hat, schwach. 

In der Auslage türmen sich Fenchelsalami, Parmaschinken, sardischer Pecorino, Gorgonzala, Caciocavallo, der die Form einer Birne hat, ausserdem Cicchetti, appetitliche Häppchen, wie es sie in Venedig in jeder Bar gibt; am liebsten mag Carlo davon die Thunfischkroketten und die eingelegten Sardinen. 

In der Weihnachtszeit baumeln rote Kugeln von der Decke, überall im Geschäft blinkt und glitzert es.

Die Lichterketten, die über der Theke hängen, lassen die dicken Salamis und die fetten Käselaibe wie seltene Kostbarkeiten erscheinen. An einem Parmesan-Rad lehnt eine kleine Holzleiter, auf der ein Weihnachtsmann herumklettert. 

Carlo liebt die Vorweihnachtszeit, wenn der Laden der Signora zur Schatztruhe wird. Auch tagsüber schleicht er jetzt oft hier herum. Er inhaliert die würzigen Düfte, die auf die Strasse wehen, kaum hat ein Kunde die Tür geöffnet. Manchmal hört er zu, wie sich die Signora mit ihren Kunden unterhält. 

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Früher war sie nicht so zerstreut, aber jetzt, mit dem Älterwerden, habe sie mit ihrem Kopf ein paar «problemini», wie sie sagt. Manchmal vergisst sie zu kassieren, während sie ihren Kunden die dicken Wurst- und Käsepakete in die Hand drückt. Die Stammkunden kennen das schon und halten der Signora dann ihr Portemonnaie unter die Nase. 

Oder eine ihrer beiden jüngeren Angestellten stossen sie ganz sanft in die Seite. Viele Kunden meinen, Signora Bardolini sei «die Seele des Geschäfts». Carlo weiss nicht, was das bedeutet, aber auf jeden Fall nichts Schlechtes, sonst würde die Seele nicht so oft die Tür für ihn offen lassen.

An diesem Tag ist besonders viel los, es ist der 24. Dezember, vor dem Eingang hat sich eine lange Schlange gebildet.

Carlo schleicht neugierig an den Menschen entlang, die wegen der Kälte von einem Bein auf das andere treten. Sie erzählen sich, was sie am ersten und zweiten Weihnachtstag alles kochen, braten, dünsten und backen werden. 

Carlo wäre schon gern dabei, wenn es bei den Rossis gefülltes Perlhuhn gibt oder bei den Mantovanis ein Bollito misto mit sieben verschiedenen Fleischsorten. Aber da er ein Streuner ist, muss er mit dem Laden von Signora Bardolini vorlieb nehmen, was auch nicht übel ist.

Quelle alzheimer.ch/Youtube

Gegen Abend, es ist schon dunkel, wird die Schlange kürzer. Als die letzte Kundin mit zwei prall gefüllten Tüten aus dem Laden geht, macht Signora Bardolini die Lampen aus, nur die Lichterketten dürfen weiter blinken. Dann verlässt sie in ihrem dicken schwarzen Wintermantel den Laden. Bitte bitte, denkt Carlo und schickt ein Gebet zum Himmel, könnte ja helfen, es ist schliesslich Weihnachten. Dann stösst er einen Seufzer aus: Die Tür bleibt angelehnt! 

Carlo schlüpft hinein, vorher hat er sich schon sein Festessen zurechtgelegt: Trüffelsalami, eingelegte Auberginen, Forelle und zum Abschluss Gorgonzola mit Mascarpone.

Im Abstellraum hinter dem Laden stehen mehrere Kühlschränke, die er mit einiger Mühe öffnen kann. Er versucht, nicht allzu zu viele Spuren zu hinterlassen, damit sich die Signora später nicht ärgert.

Dann schleppt er alles nach vorn in den Laden, setzt sich auf die Fussmatte und macht sich über die Schätze her. So gut hat er lange nicht gefressen. Irgendwann geht kein einziger Forellenkopf mehr in ihn hinein. Ermattet legt er sich auf den Jutesack, der in einer Ecke steht und mit Nüssen gefüllt ist. Wenn er sich bewegt, knackt es ein bisschen unter ihm.

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Plötzlich hört er ein Geräusch an der Tür. Ein Mädchen mit lila Haaren schlüpft in den Laden, in der Nase trägt sie einen silbernen Ring. Carlo hat sie schon einmal auf der Seepromenade gesehen, aber nur von weitem. Er ärgert sich, keiner ausser ihm hat im Laden etwas zu suchen. «Ich heisse Elena», sagt das Mädchen und lächelt ihn freundlich an. Dann setzt sie sich neben ihn auf den Fussboden und fängt an, ihn zu streicheln. 

Eigentlich lässt sich Carlo von Fremden nicht anfassen, andererseits ist es auch nicht ungemütlich, gestreichelt zu werden.

Nach einer Weile fängt Elena an zu erzählen: Sie habe keine Lust auf den ganzen Weihnachts-Kram. «Unser Haus ist voll gestopft mit Tanten und Cousins, die ich nicht mag. Ausserdem gibt es an Heiligabend immer so viel Fischzeugs zu essen, das geht schon los mit den Spaghetti, die mit fies riechenden Venusmuscheln garniert sind. Ich hasse Meeresgetier!»

Unvermittelt steht sie jetzt auf und verkündet: «Ich habe Hunger!» Dann geht sie in den Abstellraum und kommt mit Trüffelschinken, Fenchelsalami und Büffel-Mozzarella wieder. Zügig breitet sie alles auf mehreren Lagen Küchenpapier vor sich auf dem Boden aus. 

Während sie eine Scheibe nach der anderen verschlingt, redet sie einfach weiter: «Du siehst, ich bin nicht zum ersten Mal hier. Es macht Spass, Weihnachten von zu Hause auszubüxen. Die Geschenke gibt es sowieso erst morgen. Und ich habe nicht die geringste Lust auf die Mitternachtsmesse. 

Wenn ich mich am Eingang nicht sofort bekreuzige, schauen mich die Omis gleich vorwurfsvoll an. Im Gottesdienst erzählen sie einem dann, dass wir alle arme Sünder sind und der Typ am Kreuz für uns gestorben ist. Alles total düster!» Carlo überlegt, was wohl ein Sünder ist und ob es etwas damit zu tun hat, dass er und das Mädchen sich in Signora Bardolinis Laden den Bauch vollschlagen. 

«Gut, dass du da bist», sagt Elena, «jetzt ist es richtig gemütlich hier.»

Genüsslich leckt sie sich die Fingerspitzen ab und faltet das leere Küchenpapier zusammen. «Warum muss man Weihnachten immer so viele Dinge tun, die man nicht mag: zu allen lieb und freundlich sein, feuchte Küsse verteilen, sich adrett anziehen. Meine Mutter meint, das gehöre Weihnachten nun mal dazu, aber ich finde es total anstrengend.» 

Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Wand und nimmt Carlo auf ihren Schoss. «Am liebsten würde ich dich mit nach Hause nehmen, aber das wäre nichts für dich. Meine jüngeren Schwestern würden dich ständig kraulen und ,che sei bello, che sei bellissimo’ rufen. Das würde dir schnell auf die Nerven gehen!» 

Carlo hat das Gefühl, dass Elena recht hat. Wenn er durch den Ort streunt, bleiben häufig Mädchen stehen und strecken die Hand nach ihm aus. Dann sucht er schnell das Weite.

Elena zieht jetzt eine Mundharmonika aus der Tasche und spielt.

Es klingt etwas schräg, auf jeden Fall nicht nach Weihnachten und völlig anders als die Lieder, die im Advent auf der Piazza della Vittoria gegenüber dem Schiffsanleger zu hören sind. Carlo läuft häufig dort entlang, er mag die kleine Eisbahn, auf der die Kinder herumsausen.

Die Weihnachtslieder, die aus den Lautsprechern tröpfeln, klingen honigsüss und passen gut zu der Zuckerwatte, die die Kinder in sich hineinstopfen. Gelegentlich hat er gesehen, wie eine Mutter oder ein Opi eine Träne verdrückt, wenn das Lied «Tu scendi dalle stelle» über den Platz weht. Das könnte Carlo nicht passieren. Elena bestimmt auch nicht, denkt Carlo. «Hatschi!» Jemand niest mitten in Elenas Mundharmonika-Quietschen hinein.

In der Tür steht eine Hexe mit wirren grauen Haaren.

Sie trägt einen schwarzen, abgetragenen Mantel und auf der Nase eine Nickelbrille, die Bügel sind mit Klebeband an den Gläsern befestigt. Der Stiel ihres Besens ist vom vielen Fliegen ziemlich dünn geworden. «Scusate, ich bin erkältet», sagt die Hexe mit einer Stimme, die wie Raben-Krächzen klingt. «Darf ich reinkommen und mich aufwärmen?»

Die Hexe betritt den Laden und stellt ihren spillerigen Besen in die Ecke. Neugierig beobachten Carlo und Elena die Frau, die sich jetzt mit einem Seufzer auf den Jutesack fallen lässt, von dem der Kater gerade runtergesprungen ist. «Ich heisse Marina», sagt die Hexe und nickt den beiden zu. «Ich hatte auch mal eine Katze, aber eines Tages habe ich sie aus Versehen weggezaubert. Ich war untröstlich!» Dumm wie Stroh, denkt Carlo, verzieht aber keine Miene.

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«Wieso bist du eigentlich schon unterwegs?», will Elena wissen. «Die Befana kommt doch erst am Dreikönigstag.» – «Das stimmt», meint die Hexe, «aber ich habe mich etwas allein gefühlt in meiner Hütte, ist ja schliesslich Weihnachten. Deshalb wollte ich noch eine Runde über den Gardasee fliegen.»

«Kannst du denn überhaupt fliegen, wenn dir ständig die Nase läuft?», fragt Elena.

«Klar, das geht immer, selbst wenn ich todkrank wäre», sagt Marina und lacht. Dann zieht sie eine tote Maus aus ihrer linken Manteltasche und legt sie Carlo vor die Nase. Carlo will nicht unhöflich sein, aber prinzipiell frisst er keine toten Mäuse, die er nicht selbst erlegt hat, ausserdem hat er überhaupt keinen Hunger. Unbemerkt kickt er das tote Tier in eine Ecke. Hoffentlich stolpert Signora Bardolini nicht darüber, wenn sie ihren Laden wieder aufmacht.

«Für dich habe ich auch etwas», sagt die Hexe zu Elena. Aus ihrer rechten Manteltasche zieht sie einen langen Zahn und reicht ihn ihr. «Damit kannst du dir etwas wünschen, du darfst nur nicht verraten, was es ist. Du musst dreimal auf den Zahn spucken und dabei sagen: calafumate, calabrumate, calavigorate. Dann geht dein Wunsch in Erfüllung.» 

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«Hoffentlich vergesse ich den Spruch nicht gleich wieder», meint Elena und murmelt vor sich hin. «Du musst dich nur gut konzentrieren», antwortet Marina lächelnd und zeigt dabei ihre nicht sonderlich weissen Zähne. So ein Quatsch, denkt Carlo, während er die beiden Frauen beobachtet. Bestimmt wünscht sich Elena, ihre Familie auf den Mond zu schiessen, zumindest für Weihnachten. Na gut, vielleicht klappt es ja.

Nach einer Weile sagt Marina: «Ich muss mich demnächst losmachen, ich muss am 6. Januar fit sein. Am Dreikönigstag will ich den Kindern nicht mit Triefnase begegnen, wenn ich ihnen die Geschenke bringe. Aber vorher möchte ich noch etwas für euch tun. Vielleicht habt ihr eine Idee?» 

Elena denkt eine Weile nach, dann sagt sie unvermittelt: «Schnee! Den habe ich seit Jahren nicht gesehen.» Carlo überlegt, dass das eine gute Idee ist. Wenn er den Kopf schief hält und das Maul öffnet, kann er die Flocken direkt auf seiner Zunge zergehen lassen.

Die Flocken schmecken grossartig, so ganz frisch aus dem Himmel, er hat das schon einmal vor Jahren ausprobiert.

«Pazienza – einen Moment Geduld!» Marina nimmt ihren spillerigen Besen und geht nach draussen, Elena und Carlo bleiben auf der Türschwelle stehen. Marina zieht eine kleine Klangschale aus der Tasche, kippt dicke Salzkörner hinein und schlägt den hölzernen Klöppel gegen das Metall. Es ist ein warmer, heller Klang, der durch die kalte Luft schwingt. Dazu murmelt sie unverständliches Zeug. Jetzt bloss nicht niesen, denkt Carlo, dann wird es nichts mit dem Schnee. 

«Es geht los!», ruft Marina. Tatsächlich tanzen ein paar Schneeflocken vom Himmel herab. Nach kurzer Zeit werden es mehr und mehr, ein dichtes Gestöber aus Flocken, fast so gross wie Christbaumkugeln. Elena streckt die Hände aus, lacht ungläubig und macht ein paar Luftsprünge, während Carlo mit schiefem Kopf die Flocken in sein Maul gleiten lässt. 

Quelle alzheimer.ch/Youtube

«Wir gehen jetzt zum See!» Marina klemmt ihren Besen unter den Arm. Zusammen laufen sie zur Promenade, die verlassen da liegt. Nur wenige Menschen flanieren an diesem Abend hier, zwischendurch schauen sie erstaunt zum Himmel.

Der Schnee legt sich auf die Olivenbäume, auf die blinkenden Lichterketten vor den Bars, auf die vertäuten Boote, die jetzt eingepackt sind und sanft auf dem Wasser schaukeln. «Zu viel versprochen?», fragt Marina. Dann muss sie noch einmal kräftig niesen. «Na gut, ich muss los», sagt sie. 

Die Hexe steigt auf ihren Besen, dreht sich kurz um und hebt eine Hand zum Gruss. Dann schwebt sie hoch in die Luft, mitten hinein in das Schneegestöber, während unter ihr die Lichter der Fischerboote blinken. Elena und Carlo schauen ihr hinterher, wie sie immer kleiner wird und sich schliesslich in den Flocken verliert.