Grosses Schauspiel und (zu) viel Biografie - demenzjournal.com
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Grosses Schauspiel und (zu) viel Biografie

Javier Bardem spielt in «The Roads Not Taken» einen Schriftsteller, der an einer Frontotemporalen Demenz erkrankt ist. Er tut es so grossartig, dass wir dem Film gewisse Schwächen verzeihen.

Der Film beginnt so wie so viele Filme, in denen eine Hauptfigur eine Demenz hat: mit einer Fehlleistung, die das Umfeld in Unruhe versetzt. Bei «The Roads Not Taken» reagiert Leo (Javier Bardem) weder auf das Klingeln seiner Haushälterin und Pflegerin Xenia (Branka Katic), noch auf die Anrufe seiner Tochter Molly (Elle Fanning). Als die besorgten Frauen endlich in die Wohnung stürmen, liegt Leo im Bett und sagt: «Alles ist offen.»

Im Laufe des Films wird sich herausstellen, dass der Tag auch ohne die morgendliche Hektik alle Beteiligten vor Herausforderungen stellt. Molly will mit ihrem schwer dementen Vater zum Zahnarzt und zum Augenarzt. Die Hektik hält an, als Xenia und Molly den gut 50-Jährigen für den «Ausflug» bereit machen.

Zu allem Überfluss rattern direkt vor dem Fenster der heruntergekommenen Wohnung U-Bahn-Züge vorbei. Und vor der Haustür lauert die ganz normale New Yorker Reizüberflutung: Autos, Sirenen, umhereilende Menschen, Hupen und eben die U-Bahn, die ausgerechnet hier nicht im Tunnel, sondern auf einer Brücke fährt.

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In kurzen Abständen führt uns die Drehbuchautorin und Regisseurin Sally Potter auf teilweise surreal anmutende Reisen in die Vergangenheit: Leo will nicht mit Dolores (Salma Hayek) zum «Zirkus» fahren. Dann begleitet er sie doch, schlägt aber bei einer Abzweigung den falschen Weg ein.

Leo eilt zu Fuss durch die Wüste. Leo ist in Griechenland, wo er eine junge Touristin verfolgt, um ihr seine Sünden zu beichten. Leo sitzt vor einem leeren Blatt und weiss nicht, was er schreiben soll. Leo rudert einer grossen Motoryacht hinterher, auf der getanzt wird.

Quelle Youtube

Bei der Zahnärztin will Leo seinen Mund nicht aufmachen, dann trinkt er das Spülwasser und pinkelt in die Hose. Später entführt er einen Hund – offenbar, weil er seinen eigenen vermisst, der vor Jahren gestorben ist. Beim Augenarzt kooperiert er kaum, die Resultate des Sehtests dürften wenig aussagekräftig sein.

Molly steht ihrem Vater tapfer und empathisch bei. Dann und wann muss sie telefonieren, um einen ungeduldigen Kunden bei Laune zu halten. Wir sehen immer wieder Momente, in denen Leo überfordert ist und damit seine Mitmenschen überfordert.

Was wir aber vor allem sehen: einen grossartigen Javier Bardem. Im Gegensatz zu weniger begabten Kollegen spielt er nicht den schusselig-lustigen Opa, den wir auch schon im Kino gesehen haben. Bardems Blicke, seine Bewegungen, seine kargen und manchmal poetischen Sätze wirken sehr realitätsnah.

In einem Interview sagte Bardem, er habe zur Vorbereitung auf diese Rolle sehr viel zugehört. Er habe sich von Potter (ihr Bruder war früh an einer Frontotemporalen Demenz erkrankt) sozusagen an die Hand nehmen lassen. Er habe aussergewöhnlichen Respekt davor gehabt, in dieser Hommage an ihren Bruder die Hauptrolle spielen zu dürfen.

Interessant ist auch Bardems Zusammenspiel mit Salma Hayek: Sie ist ihm als beste Freundin seiner Ehefrau Penelope Cruz sehr vertraut. Apropos Vertrautheit: Zwischen Vater und Tochter ist sie ist zu Beginn des Filmes wenig spürbar. Gegen das Ende hin kommen sich die beiden näher. Die anfängliche Distanz scheint biografisch bedingt, denn bei einer Rückblende erfahren wir, dass Leo seine Tochter und ihre Mutter kurz nach der Geburt verlassen hat.

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In diesen biografischen Rückblenden und Aufklärungen liegt das Problem dieses Films. Die reizvolle Frage, welche schicksalshaften Wendungen wir unserem Leben geben, wenn wir uns für diesen oder jenen Weg entscheiden, wird kaum ergründet. Offenbar will uns Potter weismachen, dass Menschen mit frontotemporaler Demenz geistig abwesend sind, weil sie der Vergangenheit und verpassten Chancen nachsinnen.

Doch verzeihen wir Potter diese Griffe in die Trickkiste der Dramaturgie, die den Film mitunter unnötig schwülstig machen. Potter hat grossartige Schauspieler zusammengetrommelt und mit Leo (und Bardem) die authentischste demente Figur der Filmgeschichte erschaffen. Und der anstrengende und aufschlussreiche Tag im Leben von Leo und Molly vermittelt ganz beiläufig, wie man sich Menschen mit Demenz gegenüber verhalten sollte – oder eben nicht.


The Roads Not Taken – Wege des Lebens, 2020, UK/USA: Sally Potter (Regie), Javier Bardem, Elle Fanning, Salma Hayek.