«Mrs. Fang» ist ein typischer Film für Wang Bing. Mit einfachsten filmischen Mitteln und einem kleinen Budget taucht er in das Leben seiner Protagonisten ein. Es ist die Geschichte einer an Alzheimer erkrankten Frau, die – nachdem sich ihr Zustand rapide verschlechtert hatte – aus dem Krankenhaus entlassen und zurück zu ihrer Familie geschickt wurde.

Wir sehen zum Teil minutenlange Grossaufnahmen der fast regungslos daliegenden Frau. Um sie herum die Familie, die versucht, mit der ausweglosen Situation umzugehen. Sie redet darüber, was man noch für die Sterbende machen könnte und was nicht; wer sich von den Kindern und Enkeln um sie kümmert und wer es ja eigentlich noch mehr tun sollte.

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Die Verwandtschaft schaut fern, diskutiert, raucht, und manchmal weint jemand angesichts des bevorstehenden Todes. Daneben begleitet Wang auch einige Familienmitglieder bei ihrem Beruf als Fischer – was dem Zuschauer aber kaum Erleichterung verschafft, denn sie fischen nicht mit Rute oder Netz, sondern mit Starkstromschlägen.

Auch in diesen Szenen wird uns nur gezeigt: Das Leben geht weiter, und Mrs. Fang ist als Leerstelle darin immer mitzudenken. Eine weitere Leerstelle bildet der chinesische Staat, der der Familie keinerlei Unterstützung leistet.

Bei Mrs. Fang ist ein dramaturgischer Bogen vorgegeben: Der Hauptfigur wird es zunehmend schlechter gehen, und irgendwann wird sie sterben…

Wang Bing: Das stimmt, das war Ende vorgegeben. (Überlegt lange.) Trotzdem lag der ganze Film im Ungewissen, ich konnte eigentlich nicht abschätzen, worauf ich mich einlasse. Was würde der zentrale Punkt sein? Wie kann man diese Entwicklung, das langsame Verenden der Frau darstellen?

Wang Bing hat Mrs. Fangs Angehörige beim Fischen begleitet.Bild PD

Wieso sieht man eigentlich so oft Familienmitglieder beim Fischen?

Weil sie halt oft fischen gehen. Auch wenn Frau Fang im Zentrum steht, ist auch ihr Umfeld von Bedeutung. Es ist die Geschichte ihrer ganzen Familie, auch die anderer älterer Menschen, vielleicht sogar einer ganzen Dorfgemeinschaft. Man kann sie nicht isolieren.

Eigentlich war ich… ich will nicht sagen enttäuscht, aber zumindest überrascht, als ich sie das zweite Mal mit der Kamera besucht habe, denn ich wollte noch mehr Entwicklung zeigen. Doch zu diesem Zeitpunkt war die Krankheit schon sehr fortgeschritten, und ich wusste, dass ich eigentlich gar keine Zeit mehr hatte, den Film zu drehen.

Vor allem war es mir gegenüber der Familie auch peinlich. Ich wusste gar nicht mehr, ob ich den Film fertig drehen solle oder nicht.

Und wie haben Sie es als Aussenstehender geschafft, in so einem intimen Moment von der Familie akzeptiert zu werden?

Das war selbstverständlich nicht einfach für mich. Ich bin durch die Tochter, die ich gut kenne, auf die Familie gestossen. Sie hatte schon lange eingewilligt, dass ich einen Film über die kranke Mutter machen darf. Vielleicht war es am Schluss auch so, dass sie nicht mehr Nein sagen konnte, ich weiss es nicht.

Doch auch der Rest der Familie war immer freundlich zu mir, und die meiste Zeit haben sie zum Glück sowieso keine grosse Notiz von mir genommen. Aber ich muss zugeben, dass es einer der schwierigsten Filme für mich war. Ich habe viele innere Konflikte aushalten müssen und war mir nicht sicher, ob ich den Film wirklich zu Ende führen kann.

Mrs. Fang auf dem Sterbebett.Bild PD

Und wann ist Ihnen die filmische Form klargeworden?

Irgendwann kam die Inspiration von dem leeren, doch zugleich starken Blick der sterbenden Frau. In ihrem Gesichtsausdruck, in der Mimik oder auch im Fehlen ihrer Mimik lässt sich viel erkennen. Ich wollte mit den vielen Grossaufnahmen der Frau auch ihre Würde und ihre Person respektieren, ihr im wahrsten Sinn des Wortes ein Gesicht geben.

Ausserdem habe ich gehofft, in den Grosssaufnahmen die kleinen Veränderungen einzufangen, die von Tag zu Tag stattfinden und die die Familie auch kommentiert. Da sieht man ganz subtil, wie die Lebenskraft schwindet, all diese kleinen Reaktionen, die sich am Körper noch abspielen.

Trotzdem war es nicht meine Absicht, einfach nur die grosse Trauer, die schreckliche Ohnmacht angesichts eines Todes zu zeigen. Ich suche in meinen Filmen eigentlich nie die extremen Situationen.

Ist es für Sie wichtig, das Leben mit Ihren Protagonisten zu teilen, eine Zeit lang sogar das gleiche Schicksal mit durchzumachen? In Ihrem Film «Ta’ang» schliessen Sie sich einer Flüchtlingsgruppe an, die sich im chinesisch-burmesischen Grenzgebiet befindet… in der Ferne hört man noch die Granaten detonieren. In „San zimei“ haben Sie sich wochenlang in einem entlegenen Bergdorf aufgehalten…

Ja, tatsächlich teile ich sehr oft den Alltag mit den Menschen, die ich porträtiere. Ich pflege dann schon eine «full immersion» (volles Vertiefen, Eintauchen). Bei «San zimei» habe ich zwar bei einer anderen Familie in der Nachbarschaft gewohnt, doch ich war immer ganz in der Nähe.

Ist diese «full immersion» wichtig für die dokumentarische Wahrheit?

In gewisser Weise schon: Du machst zwar nicht das Gleiche durch wie deine Protagonisten, doch indem du mit ihnen lebst und ihren Alltag teilst, kannst du besser nachfühlen, was sie aushalten müssen. Ich glaube, es erlaubt mir auch, eine grössere Sensibilität für die Feinheiten gewisser Situationen zu entwickeln.

Wenn man nur vorbeischaut, kann man diese empathische Ebene nicht erreichen. Wenn man nicht am Ort eines Geschehens lebt, ist die Gefahr gross, die Situation zu verfälschen.

Obwohl Sie Teil ihrer Wirklichkeit sind, wenden sich die Protagonisten Ihrer Filme aber selten an Sie und Ihre Kamera. Sagen Sie ihnen, es zu unterlassen, oder schneiden Sie solche Momente bei der Montage nachträglich raus?

Weder noch, es scheint seltsam, aber diese Situationen kommen tatsächlich selten vor. Meistens lassen mich meine Protagonisten einfach machen, und ich rede auch nicht gerne mit ihnen, wenn ich filme. Ich finde ausserdem, dass ein Dokumentarfilm über Bilder und nicht über Worte seine Geschichte erzählten sollte. 

Ich bin auch im Allgemeinen gegen Interviews: Wenn man viele Fragen stellt, können die Personen auch genervt sein, weil sie nicht ständig über ihr Leben oder ihre Situation reflektieren wollen. Ich finde, mit der Fragerei bedrängt man Menschen nur, dabei sollte man als Dokumentarfilmer sie besser in Ruhe lassen.

Jede Interviewsituation ist auch ein Moment der Manipulation. Ich befinde mich lieber in der Position einer Zeugenschaft.

Sie haben also auch noch nie jemanden gebeten, eine Szene, die Sie beobachtet, aber nicht gefilmt haben, nochmals zu wiederholen?

Nein, bestimmt nicht. Denn die schönste Erfahrung beim Filmen ist, diesen ganz besonderen Moment zu erwischen, der einen selber überrascht. Das zieht mich als Filmemacher an: eine plötzlich gezeigte Emotion, eine kleine Geste, ein Gesichtsausdruck, irgendeine unerwartete Nuance.

Ich bin in solchen Momenten hinter der Kamera immer vollkommen von der Realität absorbiert, geradezu magnetisiert. Als Kameramann und Regisseur bist du zwar anwesend, du gehst deiner Arbeit nach, doch du bist nie ein Gott, der bestimmen sollte, was jetzt zu geschehen hat oder worüber man reden müsste. So etwas interessiert mich nicht.

Wang Bing gewann mit «Mrs. Fang» am Festival von Locarno den Goldenen Leoparden.Bild PD

Immerhin haben Sie mit «He Fengming» (Fengming, a Chinese Memoir) zumindest einen Film gedreht, der nur aus einem etwa drei Stunden langen Interview besteht…

Das ist wahr, doch selbst da stand im Grunde die Beobachtung im Vordergrund: Ich habe die alte Dame sehr lange und ausführlich reden lassen und das Interview nur sehr wenig geschnitten.

Es gibt sogar einen Moment, wo sie kurz auf die Toilette geht: Da bleibt der Kamerablick einfach auf dem leeren Sofa stehen und wartet die Minute, bis die Frau zurückkommt und weitererzählt …

…ja genau. (Lacht.) Selbst bei diesem Film habe ich versucht, so stark wie möglich Zeuge einer Situation und einer fortdauernden Erzählung zu sein, ohne die Sache zu steuern oder in der Montage zu manipulieren.

Geht es bei Ihrer hier dargelegten filmischen Methode eigentlich nur um eine persönliche Präferenz, oder fühlen Sie als Dokumentarfilmer auch so etwas wie eine ethische Verpflichtung?

Ja, ich fühle eine, allerdings weiss ich nicht, ob das wirklich etwas mit meinem Beruf zu tun hat. Ich finde eher, dass alle Menschen eine moralische Verpflichtung gegenüber anderen haben, nicht nur Filmemacher. Wir sind schliesslich keine Tiere.

…und Sie würden sich auch als einen politischen Filmemacher definieren?

In gewissem Sinne schon, denn ich bin ein politischer Mensch. Doch ich würde nie behaupten, dass ich Filme drehe, die dezidiert politisch sind. Es sieht eher so aus: Wir alle leben in einem politischen System, und ich versuche, die Zusammenhänge zwischen diesem System und dem alltäglichen Leben der Menschen zu verstehen und auszudrücken. Wenn man sich als Filmemacher der politischen Umstände nicht bewusst wäre, ginge etwas verloren, man würde die Sachen durcheinanderbringen.