«Es ist legitim, um Hilfe zu bitten» - demenzjournal.com

Angehörige von Menschen mit Demenz

«Es ist legitim, um Hilfe zu bitten»

Älteres Paar auf einer Bank am Meer.

Gönnt euch etwas Schönes! Was eigentlich in jeder Lebensphase nicht zu kurz kommen sollte, ist für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen besonders wichtig. Bild Matt Bennett unsplash

Pflegende Angehörige leiden oft stark an der zusätzlichen Belastung. Was kann ihnen in dieser Situation helfen? Die Psychologin Gabriele Wilz hat darüber ausführlich geforscht. Das Interview mit elf wertvollen Tipps für Angehörige von Menschen mit Demenz.

Frau Wilz, ist es für pflegende Angehörige immer noch schambelastet, dem Nachbarn oder der Verkäuferin im Supermarkt zu sagen «Mein Mann hat Demenz»?

Gabriele Wilz: Das hat sich glücklicherweise verändert. Jeder kann betroffen sein, jeder kennt Betroffene, in den Medien ist das Thema deutlich präsenter als früher. Demenz ist nicht mehr so tabubelastet.

Pflegende Angehörige sind stark beansprucht. Holen sie sich heute häufiger Hilfe, weil mehr darüber gesprochen wird, wie wichtig Selbstfürsorge für sie ist?

Leider werden Hilfsangebote nach wie vor oft nicht in Anspruch genommen. 80 bis 90 Prozent der Pflegenden in unseren Projekten sind Frauen. In den Gesprächen, die wir für unsere Studien führen, erfahren wir, dass gerade die älteren Ehefrauen es meist allein schaffen wollen.

Sie haben bisher Haushalt und Kinder allein gemanagt, deshalb passt das Bitten um Unterstützung nicht zu ihrem Selbstkonzept, wird sozusagen als Angriff auf ihren Selbstwert erlebt. Wir versuchen ihnen zu vermitteln, dass es absolut legitim ist, um Hilfe zu bitten, wenn die Pflege allein nicht mehr zu schaffen ist. Manchen fehlt auch einfach die Energie, sich ein Netz an Unterstützung aufzubauen, weil sie so erschöpft sind.

demenzwiki

Organisationen

Wenn Menschen an Demenz erkranken, brauchen sie und ihre Angehörigen Rat und Hilfe. Es gibt Institutionen, Selbsthilfegruppen und Vereine, die über die Krankheit … weiterlesen

Wie weit greift das Leistungsdenken unserer Gesellschaft auch in den Pflegealltag hinein?

Perfektionismus spielt bei vielen pflegenden Angehörigen eine große Rolle. Sie meinen, immer funktionieren, liebevoll und geduldig sein zu müssen. Wenn sie im Stress einmal gereizt reagieren, fühlen sie sich gleich schuldig. Sollen dann auch noch der Haushalt und andere Aufgaben perfekt sein, erhöht das natürlich die Belastung.

Können Angehörige sich und anderen auch mal eingestehen, dass ihnen die Pflege zu viel wird, sie am Ende ihrer Kräfte sind?

In unseren Gesprächen reden sie schon darüber, sehen oft aber keine Möglichkeit, etwas zu verändern. Wir versuchen dann gemeinsam, Alternativen zu finden, etwa dass der Partner zumindest einmal in der Woche in die Tagespflege geht.

Außerdem ermuntern wir die Angehörigen, sich ganz genau zu fragen: Was ist meine Motivation, die anstrengende Pflege zu übernehmen? Welchen Wert hat die Aufgabe in meinem Leben? Kann ich sie mit meinen sonstigen Zielen vereinen? Wenn ich mir über meine Beweggründe klar bin, ist es etwas anderes, als wenn ich in die Situation hinein geschliddert bin und das Gefühl habe, keine Kontrolle über mein Leben zu haben.

Ganz konkret sollte sich jeder Pflegende dann fragen: Wie lange kann ich das leisten, worauf verzichte ich? Vielleicht merkt eine Frau, dass ihre Kinder und der Mann gerade zu kurz kommen, weil sie ihre Mutter pflegt. Dann ist es wichtig, über die eigenen Bedürfnisse und Prioritäten im Leben nachzudenken.

Gabriele Wilz: «Ganz konkret sollte sich jeder pflegende Angehörige fragen: Wie lange kann ich das leisten, worauf verzichte ich?»Bild Anne Günther

Zur Person

Prof. Dr. Gabriele Wilz ist Psychologische Psychotherapeutin und leitet an der Universität Jena die Abteilung klinisch-psychologische Intervention sowie die Hochschulambulanz und Weiterbildung für Psychotherapie. Sie hat ausführlich über die Situation der pflegenden Angehörigen geforscht und für sie ein online-Programm mitentwickelt. Derzeit betreut sie ein Projekt über die Rolle von Musik in der häuslichen Pflege von Menschen mit Demenz.

Wer die Partnerin oder den Partner umsorgt, hat eine Doppelrolle: Pfleger oder Pflegerin zu sein, aber eben auch Lebenspartner. Führt das manchmal zu Rollenkollisionen?

Auf jeden Fall. Die Ehefrau oder der Ehemann fühlt sich oft nicht mehr als gleichberechtigter Partner, sondern die Pflegerolle steht im Vordergrund. Dieses Gefühl kann mit Trauer verbunden sein, dem Erleben von Verlust, weil die Beziehung nicht mehr so ist, wie sie einmal war.

Man sollte diesen Gefühlen Raum geben. Manche Angehörige denken, sie dürften nicht trauern, weil die an Demenz erkrankte Mutter oder der Partner ja noch da ist. Manche haben dann auch eine Art inneres Verbot, mit anderen darüber zu sprechen.

Wer an Demenz erkrankt ist, möchte dennoch möglichst am Leben teilhaben und einbezogen sein. Wie können die pflegenden Angehörigen die Betroffenen darin unterstützen?

Im empfehle, sie so weit wie möglich einzubeziehen, etwa den Tisch decken zu lassen, ein paar Teller abzuspülen oder bei der Gartenarbeit und anderen Aufgaben zu beteiligen. Sicherlich müssen pflegende Angehörige häufig von den eigenen Standards ablassen und akzeptieren, dass die Teller mal nicht ganz sauber sind. Dafür verbessert sich die Stimmung für alle Beteiligten, denn die Betroffenen erleben sich als zugehörig und aufgehoben, sie werden gebraucht.

demenzwiki

Angehörige

Demenz kann Trauer und Konflikte auslösen – aber auch Beziehungen vertiefen. Angehörige sehen sich mit komplexen Fragen und Aufgaben konfrontiert. Dabei sind sie … weiterlesen

Menschen mit Demenz sind oft misstrauisch, meinen etwa, das Portemonnaie, das sie nicht wiederfinden, sei vom Sohn oder der Enkelin geklaut worden. Wie geht man als Angehöriger damit um?

Zunächst sollte man solche Anschuldigungen nicht persönlich nehmen, sondern sich klar machen, dass sie mit der Krankheit zu tun haben. Menschen mit Demenz sind orientierungslos, wissen nicht mehr, wo ihre Sachen sind, wo sie ihr Geld verwahrt haben. Gleichzeitig möchten sie ihren Selbstwert aufrechterhalten.

Die Vorstellung, dass jemand anderes das Portemonnaie weggenommen hat, ist möglicherweise leichter auszuhalten als wenn sie sich eingestehen müssen, dass sie selbst starke Defizite haben. Diese Prozesse laufen unbewusst ab, sind nicht strategisch geplant. Das zu erkennen kann für Angehörige entlastend sein.

Viele Angehörige leiden darunter, dass ihnen der erkrankte Partner den ganzen Tag hinterher läuft, sie fühlen sich in der eigenen Wohnung verfolgt.

Auch hier spielt das Gefühl von Orientierungslosigkeit eine Rolle: Menschen mit Demenz, die allein im Raum sind, sind oft hilflos. Wenn die Tochter sagt Ich komme gleich wieder, haben sie das gleich wieder vergessen. Das Hinterherlaufen hat also mit Ängsten zu tun. Wenn Angehörige sich das klar machen, können sie gelassener reagieren.

Lernvideo – Streit in der Familie

Eine Demenzerkrankung führt fast immer zu heftigen Diskussionen in der Familie alzheimer.ch/Marcus May

Wenn die erkrankte Partnerin oder der Vater ins Pflegeheim umziehen muss, haben die Angehörigen oft Schuldgefühle. Sie empfinden das als persönliche Niederlage, schämen sich, dass sie die Pflege nicht mehr schaffen. Wie kann man ihnen die Schuld- und Schamgefühle nehmen?

Indem man ihnen sagt, dass unter Umständen beide Seiten etwas von dem Umzug haben. Vielleicht erleben sie mit der Mutter oder dem Partner eine qualitativ wertvollere Zeit – durch regelmäßige Besuche, die mit freudvollen gemeinsamen Aktivitäten verbunden werden könnten wie Gesprächen, Spaziergängen – , weil der tägliche Stress, die ständigen Pflegeaufgaben wegfallen.

Viele pflegende Töchter haben Angst, dass die Mutter oder der Vater im Pflegeheim stark abbaut. Das ist vorab nicht vorhersehbar, manchmal kann auch das Gegenteil eintreten: Das erkrankte Elternteil verändert sich positiv, weil die Geselligkeit, die anderen Menschen im Pflegeheim wohltuend sind.


Elf Tipps für pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz

Auf Selbstfürsorge achten

Pflegende sollten sich immer wieder fragen: Wo kann ich mich entpflichten? Wo sind für mich Auszeiten denkbar, in denen ich mit einer Freundin einen Kaffee trinke oder spazieren gehe? Sie sollten gezielt Pausen einplanen, auch wenn sie glauben, dafür keine Zeit zu haben. Schon eine kurze Pause kann helfen, den eigenen Akku ein Stück weit aufzuladen.

Sich selbst Anerkennung geben

Menschen mit Demenz können Anerkennung in der Regel nicht mehr geben, man sollte sie also nicht von ihnen erwarten. Auch von der Familie kommt die gewünschte Wertschätzung manchmal nicht. Mitunter haben die Geschwister ein schlechtes Gewissen, weil sie sich zu wenig an der Pflege der Mutter oder des Vaters beteiligen und deshalb das Thema vermeiden.

Deshalb sollte man sich als Pflegender selbst immer wieder Anerkennung geben, sich mental oder ganz direkt auf die Schulter klopfen. Auch eine bewusste Belohnung, etwas, das einem Freude macht nach einem anstrengenden Pflegetag, kann helfen.

Erschöpfungssignale ernst nehmen

Weit über 50 Prozent der pflegenden Angehörigen sind deutlich belastet: Sie leiden unter depressiven Beschwerden, Erschöpfung, Grübeln, Schlafstörungen, Zukunftsängsten, wie es weiter geht, manche haben sogar Suizidgedanken. Ein Alarmsignal ist auch, wenn ich gar nicht mehr weiß, was mir selbst gut tut.

Diese Symptome sollten unbedingt ernst genommen werden, auch wenn sie noch nicht stark ausgeprägt sind, damit man als Pflegende gar nicht erst in ein Burnout kommt. Betroffene sollten Unterstützung durch Beratung oder psychotherapeutische Gespräche in Anspruch nehmen, um ausführlich Möglichkeiten der Entlastung und für den Umgang mit belastenden Gefühlen und Gedanken zu finden.

Geduld trainieren

Wenn eine Person mit Demenz sehr lange braucht, um sich die Jacke anzuziehen oder die Schuhe zuzubinden, sollte man nicht zur Eile antreiben. Angehörige können in der Zeit kleine Übungen für sich machen, etwa leichte Gymnastik- oder Balanceübungen. Auch Atemübungen als kurze Meditation können entlastend sein.

Möglicherweise hilft es, den Moment des Wartens umzuinterpretieren: Anstatt mich zu ärgern, dass es nicht vorangeht, kann ich das Warten begrüßen: Da ist sie wieder, meine Zwei-Minuten-Zeit. Mit etwas Training und Regelmäßigkeit werden diese Übungen von vielen Angehörigen als entlastend empfunden.

Negative Gedanken akzeptieren

Angehörige haben manchmal sehr belastende Gedanken wie Ach, wenn er doch bald sterben würde! und schämen sich dafür. Man sollte solche Vorstellungen zulassen – auch viele andere Angehörige haben solche Gedanken. Sie zeigen, wie enorm anstrengend die Situation für die Pflegenden ist, und signalisieren, dass sie unbedingt mehr für sich und ihr Wohlbefinden tun sollten.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

Jetzt spenden

Mit der eigenen Gereiztheit klar kommen

Pflegende Angehörige sind mitunter gereizt, wenn der erkrankte Partner oder die Mutter immer dieselbe Frage stellt, die eigenen Sachen nicht findet. Hier spielt die Emotionsregulation eine wichtige Rolle: Herunterfahren, Distanz zu den eigenen Gefühlen bekommen. Ich kann zum Beispiel kurz aus dem Zimmer gehen, damit sich die Situation nicht hochschaukelt. Oder mir im Bad kaltes Wasser ins Gesicht oder über die Hände laufen lassen.

Auf Aggressivität reagieren

Manche Menschen mit Demenz werden gelegentlich aggressiv. Dann keine Vorwürfe machen, nicht dagegen argumentieren, das können die Betroffenen nicht verstehen. Wichtig ist es zu deeskalieren, mit einer wohlwollenden Autorität. Ich kann mich aufrecht hinstellen, klar und bestimmt sagen: So nicht. Selbst wenn die Worte nicht mehr verstanden werden, kann der Ton eine Menge bewirken. Ich kann eventuell auch aus dem Zimmer gehen, Distanz schaffen, wenn die Situation es erlaubt.

Hilfreich ist es, mir die Frage zu stellen, warum der Vater oder der Partner wütend wird. Die Aggression ist kein Angriff auf die pflegenden Angehörigen, sondern eher eine Schutzreaktion, weil die Betroffenen mit ihren belastenden Gefühlen – etwa Angst, Überforderung, Hilflosigkeit – nicht zurecht kommen.

Kurt Richter malt Mandalas. Wut Aggression.

Fallbeispiel Kurt Richter

Aggression bei Demenz: Ein Mann sieht Rot

Kurt Richter malt Mandalas, raucht Marlboros und hat eine Korsakov-Demenz. Er reagiert mit grosser Wut auf alles, was seiner täglichen Routine in die … weiterlesen

Mit Ekelgefühlen umgehen

Menschen mit Demenz leiden ab einem bestimmten Krankheitsstadium unter Inkontinenz. Der Umgang damit ist für Angehörige besonders belastend. Praktische Maßnahmen können eventuell Erleichterung verschaffen, etwa einen Duft sprayen, Handschuhe anziehen. Wenn ich die Aufgabe bewältigt habe, sollte ich mir etwas gönnen.

Fühle ich mich außerstande, den Vater oder den Partner zu waschen und Toilette/Bad zu säubern, darf ich mir eingestehen, dass hier meine eigene Grenze ist und jemand anderes ­aus der Familie oder ein Pflegedienst übernehmen sollte. Ist eine Stuhlinkontinenz sehr schwerwiegend, ist die Pflege zu Hause vielleicht nicht mehr zu leisten.

Windel

Tipps und Hilfsmittel

Mit Inkontinenz bei Demenz umgehen

Inkontinenz stellt Menschen mit Demenz und ihre Betreuenden vor belastende Situationen. Doch es gibt eine ganze Reihe von Tipps und Hilfsmitteln, die den … weiterlesen

Einfühlung üben

Menschen mit Demenz sind manchmal auch sehr ruhebedürftig, wollen ein Nickerchen machen. Manche Angehörige denken, die Betroffenen beschäftigen zu müssen. Es kann jedoch auch sein, dass ein Ausruhen wichtig ist, weil viele Reize auf die Betroffenen einströmen, die sie nicht mehr verarbeiten können. Pflegende Angehörige sollten also möglichst einfühlsam auf die Bedürfnisse der Mutter oder des Partners eingehen.

Pflegedienste und Ehrenamtliche einbeziehen

Die Tagespflege, wo Menschen mit Demenz mehrmals die Woche hingehen können, ist oft entlastend, weil Angehörige mehr Zeit für sich haben. Wenn sie zögern, raten wir dazu, es auszuprobieren, zu experimentieren. Unter Umständen ist der erkrankte Partner froh, ein bisschen Abwechslung zu haben. Ambulante Pflegedienste sind ebenfalls zu empfehlen, auch wenn sie vielleicht manche Abläufe durcheinander bringen. Auch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer können einbezogen werden.

Die gemeinsame Beziehung stärken

Freudvolle Erfahrungen sind bedeutsam, indem man beispielsweise gemeinsam etwas Schönes unternimmt. Das kann, wenn das noch möglich ist, ein Spaziergang oder ein kleiner Ausflug sein. Oder man schwelgt in schönen gemeinsamen Erinnerungen, etwa an eine Reise, und schaut sich zusammen die Urlaubsfotos an. Auch Musik kann eine wichtige Rolle spielen, viele Studien zeigen, dass sie das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz erheblich steigert. Die individuelle Lieblingsmusik kann für Glücksmomente sorgen und auch gemeinsame freudvolle Momente schaffen.

Otto Spirig – Menschenbegleiter

Musiker und Musiktherapeut Otto Spirig auf Besuch in der Sonnweid. alzheimer.ch/Marcus May


«Familiencoach Pflege» der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK): Unter pflege.aok.de findet sich ein kostenloses Internet-Angebot, um die seelische Gesundheit der Angehörigen zu stärken. Es besteht hier auch die Möglichkeit, ein persönliches Coaching-Programm mit Übungen und Videos zusammenzustellen. Gabriele Wilz empfiehlt speziell das Modul Belastende Gefühle & Gedanken (z. B. Trauer, Sorgen  etc.).