Für einen Moment Königin sein - demenzjournal.com

Konfetti im Kopf

Für einen Moment Königin sein

Eine ausgelassene Stimmung, jede Menge Musik, Tanz und Kulinarisches – im Konfetti-Café treffen sich Menschen mit und ohne Demenz. Michael Hagedorn

Das Konfetti-Café in Hamburg ist offen für jeden – für Menschen mit und ohne Demenz. Die fröhliche Stimmung wirkt auf alle ansteckend.

Bunte Luftballons fliegen durch die Luft, und Nena singt ihren Klassiker «99 Luftballons». Manche Leute, die eben noch am Tisch gesessen haben, springen auf und versuchen, die Ballons zu fangen.

Eine ältere Frau mit grauen Haaren und schwarzem Pullover bekommt mehrere Ballons zugespielt. Sie lächelt zufrieden und sagt: «Ich bin so reich!». Eben noch sass sie etwas verhalten am Tisch, unsicher, was auf sie zukommen würde.

Hast du etwas Zeit für mich?
Dann singe ich ein Lied für dich
von neunundneunzig Luftballons
auf ihrem Weg zum Horizont.

Das knapp 40 Jahre alte Lied, das aus dem Lautsprecher tönt, ist ein Anti-Kriegs-Song. Vermutlich weiss die Frau mit dem dunklen Pullover, die an Demenz erkrankt ist, das nicht mehr. Aber in diesem Moment spielt das keine Rolle, wichtiger ist, dass die Musik ihr Herz geöffnet hat.

Rund 20 Menschen sind heute ins Konfetti-Café in Hamburg-Altona gekommen, viele von ihnen leiden unter Demenz. Das Café liegt an einer belebten Einkaufsstrasse, die Tür ist offen, jeder ist willkommen. Einige Neugierige stossen von draussen dazu, essen ein Stück Kuchen und schauen sich die Fotos von Michael Hagedorn an, die an den Wänden hängen und alle mit dem Thema Demenz zu tun haben.

Mit dem Café sollen Berührungsängste abgebaut werden, Demenz gehört zum Alltag, Einbettung statt Ausgrenzung.

Mehrmals im Monat veranstaltet der Verein «Konfetti im Kopf» diese Treffen, darüber hinaus organisiert er für Betroffene Schreibwerkstätten oder Klangräume mit verschiedenen Musikinstrumenten, auf denen sich die Besucher ausprobieren können. Oder eine bunte Konfetti-Parade, bei der viele Leute durch Städte wie Hamburg und Berlin ziehen – Menschen mit Demenz, Angehörige, Musiker, Clowns, Schaulustige.

Wild und bunt darf es sein – im Konfetti-Café sind Jung und Alt willkommen.Michael Hagedorn

«Konfetti im Kopf» ist hervorgegangen aus einem umfangreichen Foto-Projekt. «Ich wollte authentische Bilder von Menschen mit Demenz zeigen», sagt Michael Hagedorn, der zum Vorstand des Vereins gehört und heute ebenfalls im Café dabei ist.

«Wichtig war mir, einen Perspektivwechsel zu erreichen: Dass man Demenz nicht nur für tragisch und beklagenswert hält, dass man die Betroffenen nicht mental auf ein Abstellgleis schiebt, sondern sieht, dass sie erreichbar sind, offen sein können. In vielen dieser Menschen lässt sich eine Menge Poesie, Tiefgang und oft auch Unkonventionelles finden.»

Einmal, erzählt Hagedorn, habe er eine Frau mit einer Demenzdiagnose kennengelernt und einen Blick auf ihren Kalender werfen können. Bei einem Tag fand sich der Eintrag: «Ist es schon heute?» Das habe ihn sehr angerührt, solche scheinbar unbedeutenden Details mag er, weil sie einen unverstellten Blick ins Innenleben dieser Menschen ermöglichen.

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Auch im Konfetti-Café ist Michael Hagedorn immer wieder beeindruckt. Er freut sich über die befreiende Wirkung der Musik, «darüber, was sie im Herzen von Menschen mit Demenz bewegen kann. Selbst manche Menschen, die nicht mehr sprechen können, fangen plötzlich an zu singen».

Vertraute Musik, Lieblingslieder, wirken als Türöffner.

Sie wecken positive Emotionen, bringen Menschen zum Lachen, machen Lust, sich zu bewegen, können helfen, sich lebendig zu fühlen. Musik als Brücke, die Erinnerungen an früher, an die eigene Kindheit wachruft.

An diesem Nachmittag gibt es viele solcher Türöffner. Dazu gehören auch die typischen Hamburger Shantys, alte Seemannslieder, die die Matrosen einst gesungen haben, während sie auf ihren Segelschiffen harte Arbeit verrichten mussten.

Zum Beispiel: «An der Eck steiht ’n Jung mit’n Tüddelband». Der Text ist Plattdeutsch, die meisten Menschen, die hier am Tisch sitzen, kennen das Lied und singen begeistert mit. Manche trällern auch ein bisschen falsch, aber das stört keinen. Eine Clownin mit rosa Pappnase und gestreiftem Kleid nimmt jetzt eine hagere Frau an die Hand, die ein Band mit zwei Schlüsseln um den Hals trägt. Nach kurzer Zeit lässt sich auch diese Frau von dem Seemannslied mitreissen.

Musik und Demenz

Musik hat auf Menschen mit Demenz eine erstaunlich positive Wirkung, wie verschiedene Studien belegen. Sie wirkt beruhigend und vertraut, aber auch anregend. Zudem kann sie helfen, Stimmungsschwankungen, Ängste, Apathie und Aggressionen abzubauen.

Deshalb verbessert Musiktherapie oft entscheidend die Lebensqualität von Demenzpatienten. Selbst wenn Betroffene vieles aus ihrer Vergangenheit vergessen haben, können sie sich an Lieder aus ihrer Kindheit und Jugend oft noch gut erinnern – in dieser frühen Phase werden die prägenden musikalischen Erfahrungen gemacht.

Forschungen zeigen, dass die Bereiche im Gehirn, in denen das Langzeit-Musikgedächtnis gespeichert ist, länger erhalten bleiben als andere Hirnregionen, wo deutlich mehr Nervenzellen verlorengehen und Stoffwechselstörungen auftreten. Wenn Betroffene die Erfahrung machen, dass sie ein vierstrophiges Lied noch auswendig können, während sie ihren eigenen Namen schon vergessen haben, wirkt sich das positiv auf ihr Selbstwertgefühl aus.

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«Das Publikum hier ist sehr dankbar, es ist ein Geben und Nehmen“, sagt die Clownin mit dem Künstlernamen Fräulein Clotilde. Bürgerlich heisst sie Hilga Maria Pees, ist ehrenamtlich dabei und auch in Kliniken unterwegs. «Als Clownin kann man direkt auf Leute zugehen, darf sich auch mal einen Fehler leisten, was sonst in unserem Alltag nicht so gern gesehen wird. Man kann auf fast kindische Weise Freude zeigen, ohne dass man dabei dumm angeschaut wird. Ich gehe gut gelaunt nach Hause.»

Austausch ohne Hemmungen ist die Devise.Michael Hagedorn

Auch die Menschen mit Demenz, die heute hier sind, verabschieden sich am Ende gut gelaunt. «Mein Herz hat gehüpft», sagt die hagere Frau, die jetzt von ihrer jungen Begleiterin zurück ins Heim gebracht wird. Vielleicht erinnert sie sich später noch daran, dass sie heute den Kanon «Froh zu sein bedarf es wenig» mitgesungen hat. Und dass sie sich dabei für einen Moment wie eine Königin fühlen durfte.

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