Blog Wolkenfische: Das Trauern wird zu meiner Lebensaufgabe
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Wolkenfische (13)

Wir sind Schattenmenschen (2. Teil)

Schattenmenschen zwei Susanna Erlanger

Die Zeit: Im Zwielicht des Schnees sind uns die Hände gebunden – und beiden.

Marc hat sich den Oberschenkelhals gebrochen. Im Spital hat er einen weiten Unfall. Trauern, und trotzdem in der Welt bleiben, ist zu meiner Lebensaufgabe geworden.

Fotografien: In der Rekrutenschule springst du mit Anlauf in die Sandbahn, in Leibchen und Turnhose. Dein Gesicht springt mit. Auf dem zweiten Bild lehnst du dich an deine erste Frau mit der Selbstverständlichkeit der Nähe. Dann sehe ich den reifen Mann, gesetzt und selbstbewusst an einer Festtafel sitzend. Und auf dem vierten Bild kauerst du, verloren Suchender, in einer Runde im Wald, das Selbst erkundend. Du hast dich zum zweiten Mal scheiden lassen.

Ich erkenne sie alle in deinem Gesicht, im Gesicht des Greises. Du liegst auf dem Bett, die Augen geschlossen. Und als du sie öffnest, bist du der, der du jetzt bist. Ich beginne eine Liebe zu mir – und das ist kein Verrat an dir.

Die Nachtwache ruft morgens um fünf Uhr an: Oberschenkelhalsbruch. Um sechs Uhr bin ich im Spital. Am Abend liegst du im Aufwachraum und röchelst im Schlaf. Ich verbringe die nächsten fünf Tage bei dir. Die Pflegenden wissen wenig über Alzheimerdemenz und sie haben noch weniger Zeit für deine Bedürfnisse. Ich übernehme Arbeiten, die in der Krankenhausroutine nicht vorgesehen sind: Füttern, Trösten, Beruhigen. Du kannst nicht mehr sprechen und hast tagelang die Augen geschlossen. Ich übersetze den Pflegenden, was deine Abwehrreaktionen bedeuten, weil sie deine Ängste als bösen Willen lesen.

Nun liegst du im Pflegeheim hinter einem hohen Gitter in deinem Bett und sprichst wieder: „Es ist traurig, weil man etwas bekommt und damit etwas machen kann, und zum Schluss muss man es zurückgeben.“ Und dann sagst du: „Ich wusste, was kommt…“ – Trauern, und trotzdem in der Welt bleiben, ist zu meiner Lebensaufgabe geworden.

Winter

Durch deinen Unfall bin ich in Zorn geraten. Man hat dir deine Turnschuhe nicht mehr gegen die Pantoffeln gewechselt, und in besagter Nacht bist du auf dem Weg zur Toilette über die Schuhbändel gefallen, die du nicht mehr schnüren kannst (Auskunft der Nachtwache). Nun wirst du die nächsten sechs Wochen im Rollstuhl sitzen, weil du nicht begreifst, was es heißt, das gebrochene Bein nur mit zwanzig Kilo zu belasten.

Das Heim informiert mich seit Tagen nicht offiziell über den Unfall. Die Stationsleiterin im Erdgeschoss trifft mich in der zweiten Woche zufällig im Flur an und wirft mir unter der Tür vor, dass sich die Tagesstruktur von mir kritisiert fühle. Ich müsse eine andere Lösung für dich suchen, wenn ich kein Vertrauen mehr hätte.

„Man hat nicht alles richtig machen können. Es gibt Sachen, die man falsch gemacht hat.“ Das sagst du nicht im Zusammenhang mit deinem Unfall. Den hast du längst vergessen. „Der Dunkle, der Schwarze wird kommen, und dann werde ich gehen.“ Ich frage: „Hast du Angst zu gehen?“ – „Nein, nicht unbedingt. Nein, eigentlich nicht.“ Und dann rufst du: „G’tt macht alles, nur G’tt macht alles.“ – „Dich getroffen zu haben, war das Beste, was mir passieren konnte“, sage ich beim Weggehen. „Mach’, was du tun musst!“ rufst du mir nach.

Himmel hilf, dass ich den Abschied von diesem Menschen verkrafte –, alles andere ist unwichtig. Im Rückblick denke ich, dass du mehr über mich und unsere Ehe wusstest, als mir bewusst war.

Die Klärung des Unfalls

Die Dame von der Schlichtungsstelle für Pflegeberufe begleitet mich zur Stationsleitung, um den Unfall zu klären. Ich habe keine Kraft, diesen Schritt allein zu tun. Es wird ein langes Gespräch. Die Stationsleiterin entschuldigt sich dafür, was dir passiert ist. Sie habe sich gescheut mich anzusprechen. Sie habe darauf gewartet, dass ich auf sie zukäme.

„Es bricht alles zusammen“, sagst du. „Alles geht kaputt.“ Und ich weiss nicht, was das ist, was kaputt geht. „Es ist alles in Ordnung“, beruhige ich dich. – Wieder eine meiner hilflosen Beschwichtigungen! – Dein Blick wartet darauf, dass ich dir sage, dass du ein guter Mann, ein guter Mensch bist. Und ja: das bist du!

»Die Peer-to-Peer-Videos der demenzworld sind äußerst wertvoll. Ich verwende sie in meinem Demenz-Modul, da sie die Perspektive von Menschen mit Demenz veranschaulichen und ein differenzierteres Bild vermitteln.«

Prof. Dr. Anne Roll, Hochschule Bochum

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Was sind ‚lebensverlängernde Massnahmen‘? Ist es lebensverlängernd, wenn man die Maschinen im Spital nicht abschaltet? Oder ist es lebensverlängernd, wenn du Anti-Bluthochdruck- und Herz-Tabletten oder Anti-Cholesterin-Mittel jahrzehntelang einnimmst, jeden Tag? Gehört dieses behandelte Alter, diese hinausgezögerte Vergänglichkeit auch zu den ‚lebensverlängernden Massnahmen‘?

Ohne die Pharmazie, ohne das einträgliche Geschäft der Chemie, – es fällt mir schwer, das zu sagen, ja, Himmel! es fällt mir schwer! – würden die wenigsten Menschen so alt, dass sie, in solchen Massen, pflegebedürftig würden (was ja wiederum ein gutes Geschäft ist…). Du hast dich, schon bevor wir uns kannten, für die Einnahme der vielen Medikamente entschieden. Dies ist mir Auftrag genug, es so zu belassen, auch im Heim. Nur dort, wo seither medikamentöse Eingriffe vorgenommen werden, dort mische ich mich ein, ich versuche dies aber in deinem Sinn zu tun.

Traumbotschaft: Alte Gräber, schon überwachsen, und die Nachricht: Da ist etwas weg, und da gibt es einen Weg.

Ich habe den Hochzeitstag vergessen

Vor fünfundzwanzig Jahren haben wir uns zum ersten Mal in die Arme genommen, und morgen vor fünfundzwanzig Jahren bin ich zu dir gefahren, um zu bleiben. Und gestern hatten wir Hochzeitstag: zweiundzwanzig Jahre. Ich habe ihn vergessen, obwohl ich bei dir war.

Was für ein Glück für mich, dass ich so lange auf meinem Lebensweg neben dir gehen konnte. Bei meinem Abschied hältst du dich an deinem Memory-Spiel fest und schaust nicht mehr hoch. – Und ich gehe wieder in mein Leben zurück, als ob ich wüsste, was mein Leben ist.

Leben im Heim

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Leben im Heim

Menschen mit schwerer Demenz brauchen viel Betreuung und Pflege. Dies können die Angehörigen oft nicht mehr leisten. In diesem Navi erfährst du, wie … weiterlesen

Ich nahm nie wahr, was um mich herum geschah. Fast blind vor Angst, jedenfalls kurzsichtig, bin ich der Bedrohung ausgewichen – nicht umhergeirrt, nicht gestolpert, – ich bin ihr ausgewichen, und habe sie beruhigt, indem ich ihre in sich gefangenen Klagen still über mich ergehen liess.

Doch wie könnte ein Kind das Unberechenbare, in das es hineingeboren wird, anders ertragen, als zu versuchen, das Richtige zu sagen, das Richtige zu tun? Wie könnte es anders als das Fremdsein anzunehmen und zu erspüren, was von ihm erwartet wird? Es war seiner eigenen Spekulation ausgeliefert, und hoffte, dass es dann schon verschont werde, – was es nie wurde… –, dass es verschont werde, wenn es sich nur bemühte, sich einzufühlen und dem Gegenüber gerecht zu werden. Diese Arglosigkeit… Und all die Demütigungen, die in seinen Knochen, in seinem Fleisch seither feststecken.

Die Tragödie eine Entlarvung

Dies ist die Abrechnung mit dem Leben, von dem ich meinte, es sei meins, weil es sich so angefühlt hat, als ob es meins wäre. Doch ich habe mich verirrt in der Weite der Jahre. Ich wollte über die Tragödie einer Demenz schreiben, und nun steht da die Tragödie einer Entlarvung – wenn es nicht etwa gar eine Komödie ist! Ent-larvung: ein aus der Larve sich herauszwängendes Etwas, das – hoffentlich –  ein Ich wird. Metamorphose ist am ehesten das Wort, das zu dieser Zeit passt. Ich wünschte es mir wenigstens: ‚Verwandlung‘. Dann könnten diese Jahre noch zur Rettung führen, denn ich warte auf den Moment, in dem der Schmerz mich von der langsamen, zähen Entwöhnung befreit, die ausgeblutet, aber immer noch verklebt ist mit dem verlorenen Selbst dieser, meiner, Tarnung, die mich bisher immer nur den Ort wechseln liess. Ich warte auf den Moment, in dem sich meine Wirklichkeit fügt und mich trägt. Doch werde ich in meiner Larve ausharren müssen, – wenigstens bis zum nächsten Frühling!

Im Gericht der Mütter
Ach du kleines Monster,
du Tran- und Heulsuse,
du Schwimmbrett über Stromschnellen.
Lass dich doch treiben von den Wassern
und sträub dich nicht dagegen,
du Grauslichte,
die du Leben zerstörst – vor allem deins.

Und dann die Frage am Ende:
Was wurde nicht getan, was jetzt
als Abgrund des Versäumnisses sich auftut?
Was war mit dir nicht möglich,
weil du es nicht zugelassen hast?

Die Schuld, diese nicht mehr gut zu
machende, menschliche kleine,
kleinliche Schuld, die du aushalten musst,
da du mein kleines Monster bist…

demenzwiki

Personzentriert

Den Patienten nicht nur als Träger einer Diagnose, sondern als einzigartigen Menschen wahrnehmen und pflegen: Dieses Ziel verfolgt die personzentrierte Pflege. weiterlesen

Ich nehme wieder ein grosses Wort in den Mund: Nichts bleibt mehr übrig, als im ständigen Gebet zu sein. Jedes Tun, jedes Vergessen ist sinnlos geworden, wie auch die Versuchung sinnlos geworden ist, dem eigenen Weg aus dem Weg zu gehen, und mich an einen Anderen anzulehnen, – an dich.

Damals, in unseren ersten gemeinsamen Ferien vor fünfundzwanzig Jahren, – ich glaube, es war Weihnachten/Neujahr , – damals bist du mit mir gekommen in diese Wohnung, die ich für mich allein gebucht hatte. Ich habe dir am zweiten Tag in der Boutique unter den Arkaden dieses wahnsinnig verrückte, wahnsinnig teure Versace-Hemd gekauft, das dir so umwerfend stand. Heute habe ich gesehen, dass die Boutique Totalausverkauf hat. Sie wird geschlossen. Fünfundzwanzig Jahre nach diesem tollen Kauf für meinen Geliebten.