«Ich breite die Arme aus» - demenzjournal.com

Trauerrednerin

«Ich breite die Arme aus»

Persönliche Gegenstände sind mit vielen Erinnerungen an den Verstorbenen verbunden. Véronique Hoegger

Louise Brown ist Trauerrednerin. Sie weiss, was Menschen hilft, die einen Verlust erlitten haben, und was das Leben wertvoll macht.

alzheimer.ch: Sie haben viele Jahre als Journalistin gearbeitet. Wie kommt es, dass Sie dann ausgerechnet Trauerrednerin geworden sind?

Louise Brown: Das hat wohl mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Meine Eltern sind beide 2011 innerhalb von drei Monaten gestorben. Ich habe die Trauer zunächst verdrängt, in meiner Familie wurde nie über den Tod gesprochen. 

Meine Eltern stammten aus der Kriegsgeneration, sie haben sich hochgearbeitet, und für sie galt immer: Mit harter Arbeit schafft man alles. Ich habe nach ihrem Tod weiter hart gearbeitet und mich um meinen Sohn gekümmert, anstatt zu trauern. In der Zeit habe ich allerdings schlecht geschlafen und spürte eine grosse innere Leere. 

Ein Jahr nach dem Tod meiner Eltern habe ich angefangen, Bücher über Trauer und Tod zu lesen, Radiobeiträge zu hören.

Schliesslich habe ich mit eine Trauerbegleiterin gesprochen, das hat mir sehr geholfen. Der entscheidende Antrieb, Trauerrednerin zu werden, kam durch ein Interview, das ich als Journalistin mit einem Bestattungsunternehmer geführt habe: Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, als Trauerrednerin zu arbeiten. So bin ich in den Beruf hineingerutscht, als Quereinsteigerin.

Louise BrownPD

Bei Ihrer Arbeit haben Sie immer wieder mit grossem Leid zu tun, Sie gehen ja nach Hause zu den Hinterbliebenen, sprechen mit ihnen. Wie kommen Sie psychisch damit klar?

Die Frage bekomme ich häufig gestellt, auch aus dem Freundeskreis. Wenn ich eine Familie besuche, höre ich erst mal einfach zu. Ich versuche, die Arme auszubreiten und den Schmerz aufzunehmen. Für die Angehörigen ist das oft eine grosse Erleichterung, einfach zu reden, zu erzählen, wie es ihnen geht. 

Aber wir reden ja nicht nur über den Tod, sondern auch über das Leben, ich erfahre viel aus der Biografie der Verstorbenen. Die Gespräche mit den Angehörigen sind oft so lebendig, dass ich beschwingt nach Hause gehe. Die Trauer öffnet Menschen, dadurch entsteht eine enge Verbindung zwischen ihnen und mir. Normalerweise reissen wir uns im Leben ja meist zusammen. 

Können Sie Trauernden Trost spenden?

Ich hoffe das. Ich bin ja von Anfang bis zum Ende dabei, von den Gesprächen bis zur Abschiedsfeier. Ich kann den Trauernden ihren Schmerz nicht nehmen, aber es kann ihnen viel Kraft geben, wenn der Abschied für sie tröstlich war. Zumindest sagen mir oft Familien hinterher, dass ihnen die Abschiedsfeier und auch die Rede in dieser Zeit geholfen haben.

https://www.youtube.com/watch?v=kHTqG7StA-I
Quelle YouTube

Sind Sie noch aufgeregt vor einer Trauerfeier?

Immer. Wenn die erste Musik ertönt, klopft mein Herz wie wild. Mitunter schaue ich dann zur Urne oder zum Sarg und halte ein kurzes Zwiegespräch mit dem Verstorbenen und sage ihm: Ich mache das jetzt für dich. Dann legt sich die Aufregung wieder.

Erst Journalistin, dann Trauerrednerin

Louise Brown wurde 1975 in London geboren und ist in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Nach dem Studium arbeitete sie als Journalistin, seit 2015 ist sie auch Trauerrednerin. Louise Brown lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Ihr Buch «Was bleibt, wenn wir sterben» (256 Seiten, 30,- sFr) ist im Diogenes Verlag erschienen.

Wenn eine Familie zerstritten ist, hoffe ich, dass ich den richtigen Zugang zu der verstorbenen Person gefunden habe. Ich versuche immer, den roten Faden in einem Leben zu finden. Dabei ist völlig unwichtig, ob ein Mensch Karriere gemacht hat und wie viele Autos in seiner Garage stehen.

Häufig sprechen Sie über Menschen, die an Demenz verstorben sind. Wie offen reden Sie in Ihrer Trauerrede über die Krankheit? Was wünschen die Angehörigen?

Ich habe tatsächlich viele Reden geschrieben, in denen die Demenz ein Thema ist, und spreche stets offen davon. Nach meiner Erfahrungen wird das von den Angehörigen auch gewünscht. Man kann ja gar nicht über das Leben des Verstorbenen und über die gemeinsame Zeit sprechen, ohne die Krankheit zu benennen.

Ein Beitrag von Michael Schmieder über die Vergänglichkeit

Institution

Das partnerschaftliche Wirken mit dem Erkrankten

Palliative Care bedeutet, in verschiedenen Dimensionen zu denken und mehr als das medizinisch Machbare anzubieten. Palliative Care bedeutet auch, eine palliative Haltung in … weiterlesen

Ich bin oft sehr berührt, wie es die Angehörigen geschafft haben, die Demenz einer geliebten Person in ihren Alltag zu integrieren. Oft haben sie diesen Menschen über Jahre gepflegt.

Können Sie von einer Familie erzählen, die Ihnen aus Ihren Gesprächen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Vor einigen Jahren habe ich die Trauerrede für einen Herrn gehalten, dessen Frau an Demenz erkrankt war, beide waren über 70. Im Trauergespräch erzählte der Sohn, dass sein Vater lange versucht habe, seiner Frau die Dinge zu erklären, die sie nicht verstanden oder vergessen hatte.

Zitate aus dem Buch von Luise Brown

Es ist merkwürdig: Erst die Erfahrung mit dem Tod meiner Eltern hat mir die Kraft geschenkt, die Trauer von anderen anzunehmen und auszuhalten.

Das eigene Sterben beunruhigt mich weniger, seit ich weiss, dass man trotz Krankheit und Schwäche friedlich und würdevoll sterben kann.

Als Trauernde ist man nicht von dieser Welt, man befindet sich vielmehr in einer Art Zwischenwelt; körperlich präsent, aber seelisch wie ein Ballon, der einst festgebunden war, nun aber über eine stürmische und düstere Landschaft driftet.

Als sie ins Pflegeheim kam, hat er sie jeden Tag besucht. Oft sagte er zu ihr: «Ob Alzheimer oder nicht, ich bin bei dir.» Dieser Satz hat mich sehr bewegt. Es war eine schwere Zeit für den Ehemann; aber es war auch sein Ziel, seine Frau zu überleben und bis zum Ende für sie da zu sein.

Angehörige von Menschen mit Demenz sprechen oft von einem «Abschied auf Raten». Immer wieder bricht etwas weg, verliert man einen Teil von dem, was man geliebt hat. Der Trauerprozess setzt also schon lange vor dem Tod ein. Wie können Angehörige damit umgehen?

Nach meiner Erfahrung trifft es die Angehörigen trotz dieser vielen kleineren Abschiede immer gewaltig, wenn der Mensch dann stirbt. Möglicherweise gerade deshalb, weil sie bis zu seinem Lebensende viel Zeit mit ihm verbracht haben. Oder weil sie ihn erstmals mit der Demenz in seiner Hilflosigkeit oder mit einer veränderten Persönlichkeit kennengelernt haben – der Tod ist dann der traurige Schlusspunkt.

Ich glaube, dass man das Loslassen tatsächlich nicht üben kann. Aber ich sehe auch, dass die Hinterbliebenen sich von einer geliebten Person in mehr Frieden verabschieden können, wenn sie in der Zeit der Demenz für ihn da sein konnten.

Wie weit kommt Zärtlichkeit bei den Menschen mit Demenz in ihrer letzten Lebensphase noch an?

Von dem, was mir die Angehörigen schildern, ist Zärtlichkeit sehr wichtig, gerade in dieser Zeit. Und damit meine ich nicht nur eine körperliche Zärtlichkeit, sondern eine Zärtlichkeit in Form von Worten, Gesten, eines behutsamen, respektvollen und aufmerksamen Umgangs.

Haben Sie eine persönliche Erfahrung mit jemandem gemacht, der an Demenz erkrankt ist?

Meine Grosstante leidet an Demenz, und wenn sie mich sieht, erkennt sie mich mitunter nicht. Sie ist nicht mehr die Frau, wie ich sie früher gekannt habe. Gleichzeitig erlebe ich bei ihr eine andere Offenheit und Ehrlichkeit.

Angehörige

Das Schwierigste ist die Einsamkeit

Für den Ausweg aus einer Lebenskrise gibt es keine Richtzeiten und Rezepte. Erst wenn das Bewusstsein vorhanden ist, dass alles gut ist, lässt … weiterlesen

Unsere Begegnungen zeigen mir, dass es oft die kleinen Dinge und Momente sind, die uns daran erinnern, was im Leben von Bedeutung ist.

Wie weit hat sich Ihr Verhältnis zum Leben verändert, seit Sie als Trauerrednerin arbeiten?

Das hat sich sehr verändert. Früher habe ich alltägliche Dinge selbstverständlicher genommen, auch meine Gesundheit. Heute sage ich oft: Ich bin gesund, ich bin dankbar dafür.

Der Alltag ist wertvoller geworden.

Meine kleine Tochter geht in die Kita, und wenn ich sie abhole, brauchen wir lange für den Weg. Sie bleibt immer wieder stehen, um in den Blättern zu rascheln, einer Katze hinterher zu schauen. Ich kann diese gemeinsamen Momente heute besonders geniessen. 


Wie können wir mit Trauer umgehen?

Trauer ist immer individuell, jeder trauert anders und unterschiedlich lange. Trauer wird meist in mehreren Phasen erlebt, von Benommenheit oder Verleugnung über Traurigkeit und Verzweiflung bis zu Akzeptanz und Genesung. Die Gefühle können sich aber auch ganz anders entwickeln, es gibt keinen «lehrbuchhaften» Verlauf.

Folgende Tipps können helfen, den Tod eines geliebten Menschen zu verarbeiten:

  • Sich Zeit lassen, sich nicht selbst unter Druck setzen oder von anderen unter Druck setzen lassen («Allmählich müsstest du aber mal damit durch sein»).
  • Die eigenen Gefühle akzeptieren, auch wenn sie einem manchmal fremd erscheinen, etwa wenn Wut, Groll oder Schuldgefühle auftreten.
  • Sich mit Menschen austauschen, bei denen man sich gut aufgehoben fühlt; über die eigenen Gefühle sprechen, wenn einem danach ist.
  • Mit Familienangehörigen Erinnerungen über den verstorbenen Menschen austauschen. Auch körperliche Nähe – Umarmungen, Hände drücken – kann gut tun.
  • Persönliche Gegenstände des Verstorbenen – etwa Fotos oder ein Kleidungsstück – an sich nehmen, um sich zu erinnern. 
  • Rituale können wohltuend sein: Für den verstorbenen Angehörigen eine Kerze anzünden, Tagebuch schreiben, genau die Musik hören, die er gern mochte.
  • Vor besonderen Daten – Geburtstag, Todestag oder Weihnachten – sich vorher überlegen, was einem selbst gut tut, damit einen der Schmerz nicht überrollt.
  • Dinge tun, die man immer gern gemacht hat, Hobbys pflegen. Bewegung, regelmässige Mahlzeiten und Schlafenszeiten nicht vernachlässigen. 
  • Nicht an negativen Gedankenschleifen festhalten wie «Ich hätte den Tod verhindern können, wenn ich da gewesen wäre» oder «Ich möchte ohne sie/ihn nicht weiterleben». Stattdessen eher Gedanken suchen, die Erleichterung bringen, zum Beispiel «Er/sie würde wünschen, dass ich wieder glücklich werde».
  • Wenn man sich sehr hilflos oder überfordert fühlt: eine professionelle Trauerbegleitung suchen. Auch eine Selbsthilfegruppe kann hilfreich sein.