Sechs erste Schritte für ein gutes Leben mit Demenz

Unser Törn ins Vergessen (8)

Sechs Schritte und ein Dauerdialog

Bernd Martens am Wattenmeer

Was bringt die Zukunft? Bernd Martens hat die Diagnose Alzheimer erhalten. Bild privat

Ein neues Handy mit Ortungsfunktion, der Besuch beim Hausarzt, Beratungen, Therapien, Pflegegradeinstufung und sehr viele Broschüren: Birgit Rabisch macht sich bereit für das Leben an der Seite ihres demenzkranken Partners Bernd Martens.

16. September 2022

Dein letztes Logbuch ist geschrieben. Jetzt schreibe ich das Logbuch über unsere Reise ins Vergessen. Und wie bei jeder Reise hängt viel von guter Planung und angemessener Ausrüstung ab und da kann man viel von anderen Reisenden lernen. Ich las, was die Deutsche Alzheimergesellschaft ins Netz gestellt hat, ließ mir diverse Broschüren schicken, informierte mich über die Kommunikation mit Demenzkranken, über Beschäftigungsmöglichkeiten, über ein sicheres Wohnumfeld, über technische Hilfsmittel etc.

Als erstes kaufte ich dir ein sündhaft teures, einfach zu bedienendes Handy. Ein Tastendruck und du wärest mit mir verbunden. Und ich könnte notfalls deinen Standort mit meinem Smartphone lokalisieren. Stichwort: drohende Orientierungslosigkeit.

Zweiter Schritt: Wir suchten unseren Hausarzt auf. Ich dachte an die guten Ratschläge aus den Broschüren, man solle sich in der Behandlung eng mit dem Hausarzt abstimmen. Dr. D. hatte zwar den Bericht mit der Diagnose von der Uniklinik erhalten, wunderte sich aber, warum ich deshalb mit dir zu ihm kam.

Der Arzt der Uniklinik hatte dir Donepezil verschrieben, ein Medikament, das für ungefähr ein Jahr die Verschlechterung der Erkrankung aufhalten kann, und dazu hatte er 10 x Hirnleistungstraining verordnet, das sei sehr wichtig, um die kognitiven Fähigkeiten möglichst lange zu erhalten. Donepezil würde er weiter rezeptieren, meinte Dr. D, das Hirnleistungstraining, na ja, sowas könne man natürlich machen, man könne es aber auch lassen. Ansonsten: »Gehen Sie die Sache optimistisch an. Das Leben geht weiter. Das wird schon werden.«

Ein halbes Jahr auf einen Termin warten

Damit waren wir aus der Sprechstunde entlassen. Ich rief gleich am Nachmittag bei der physiotherapeutischen Praxis an, die mir von der Uniklinik empfohlen worden war. Der früheste Termin war in einem halben Jahr. Da es bei den beiden anderen auf Hirnleistungstrainings für Demenzpatienten spezialisierten Praxen in Hamburg nicht besser aussah, machte ich den Termin fest.

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Behandlung

Demenz ist nicht heilbar, aber es gibt Behandlungen, die das körperliche und seelische Leid lindern. Medikamente spielen dabei eine untergeordnete Rolle. weiterlesen

Dritter Schritt: Wir ließen uns im Pflegestützpunkt für unseren Stadtteil beraten. Die Tipps, die ich dort bekam, brachten nicht viel Neues. Wir verließen die Beratung mit einem weiteren Stapel an Broschüren.

Vierter Schritt: Wir gingen zur Sozialstation, die vom Roten Kreuz betrieben wird. Dort empfahlen sie uns, einen Pflegegrad zu beantragen, um Pflegegeld zu erhalten.

Fünfter Schritt: Ich rief bei der Krankenkasse an, um einen Termin für die Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen abzumachen. Die Gutachterin kam schon nach einer Woche. Die etwa vierzigjährige Frau war mir sehr sympathisch und sie schien uns wohlgesonnen. Sie ratterte nicht nur einfach ihre Fragen runter, sondern hakte nach, zum Beispiel bei der Frage, ob du dich noch allein an- und auskleiden könntest. Das sei kein Problem, antwortete ich.

»Und zieht ihr Mann sich dann auch der Jahreszeit angemessen an?«

Gutachterin der Krankenkasse

Ich lachte und erzählte ihr, dass ich dir die Kleidungsstücke am Vorabend raussuche, weil du sonst tagein tagaus in deiner Lieblingshose und deinem Lieblings-T-Shirt herumläufst. Dass im Winter auch ein Pullover sinnvoll sein könne, sei dir zwar theoretisch klar, du würdest es aber nicht in eine entsprechende Handlung umsetzen. Außerdem zöge ich dir sowieso die Kompressionsstrümpfe an und aus, die du wegen deiner Venenschwäche tragen müsstest. Das habe ja aber nichts mit deiner Alzheimer-Erkrankung zu tun.

Die Strümpfe liefern die entscheidenden Punkte

Die Augen der Gutachterin leuchteten auf. Das sei egal, konstatierte sie. Die Hilfe beim Anlegen von Kompressionsstrümpfen zähle als pflegerische medizinische Maßnahme und das bringe deutlich mehr Punkte als nur die Hilfestellung bei der Auswahl der Bekleidung.

Am Ende ihres Fragenkataloges rechnete sie ihre Punkte zusammen. Das Ergebnis dürfe sie uns zwar noch nicht mitteilen, aber wir dürften optimistisch sein. Die Punkte für die Kompressionstrümpfe hätten uns über die magische Grenze gehievt, ab der die Kassen den Pflegegrad 2 zuerkennten.

Sechster Schritt: Wir mussten über unsere Wohnsituation nachdenken. Ich hatte uns schon vor ein paar Jahren auf die Warteliste für eine Wohnung in einem Projekt setzen lassen, das sich Service-Wohnen nannte. Die Namensgebung war offensichtlich vom Gedanken geleitet, dass es sich nicht nach dem anhören sollte, was es war: Betreutes Wohnen. Die Wohnungen waren behindertengerecht gebaut und mit einem Notruf ausgestattet, der Arbeiter-Samariter-Bund hatte einen Stützpunkt seines ambulanten Pflegedienstes im Haus und betrieb dort auch eine Tagespflege.

Lies Teil 1 von Birgits und Bernds Geschichte

Partnerschaft und Demenz

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Man konnte sog. Service-Leistungen buchen wie Fußpflege, medizinische Bäder, Wohnungsreinigung, Fensterputzen etc. Ein unschätzbarer Vorteil war in meinen Augen, dass die Wohnanlage nicht weit von unserer jetzigen Wohnung entfernt lag. Wir würden in der uns vertrauten und geliebten Umgebung bleiben können. Das waren meine Überlegungen in der seligen Zeit gewesen, als ich zwar schon an unser Alter dachte, auch wusste, dass es unweigerlich kommen würde, wie wir alle es wissen, als es aber noch ein theoretisches Wissen war.

Die Diagnose zertrümmerte alle Beschönigungen

Für diese unbestimmte Zukunft wollte ich Vorsorge treffen. In meiner Vorstellung war das Alter ein langsam voranschreitender Prozess gewesen, der Änderungen mit sich brachte, mit denen man sich nach und nach auseinandersetzen musste. Es würde kommen, natürlich, aber doch jetzt noch nicht!

Das änderte sich schlagartig, als deine Alzheimer-Diagnose feststand. Es war tatsächlich wie ein Schlag, der alle Beschönigungen zertrümmerte.

Wenn auch sonst meine Gedanken oft konfus sind, formte sich an diesem Tag in meinem Kopf konkret der Satz: Heute beginnt für uns das Alter.

Natürlich fand ich diesen Gedanken gleich darauf schräg, doch im Nachhinein hat er sich bestätigt. Man ist so alt, wie man sich fühlt, heißt es. Und seit dem 27.11.2019 fühle ich mich alt. Also bin ich es.

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Wohnen

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Du fühlst dich allerdings keineswegs alt, auch heute noch nicht, obwohl du neun Jahre älter bist als ich. Und so siehst du auch nicht den geringsten Grund, warum wir unsere schöne Dreieinhalb-Zimmer-Altbauwohnung mit Balkon, in ruhiger Nebenstraße und in Südostlage in Hamburg-Eimsbüttel aufgeben sollten. Warum solltest du irgendwann nicht mehr in den vierten Stock hochkommen? Im Gegenteil, das hält uns doch fit. Unser Dauerdialog. Und was sollen wir in einer Seniorenwohnung unter lauter alten Leuten? Nicht mit dir! Auf gar keinen Fall!

Birgit Rabisch und Bernd Martens in Greetsiel.
Das waren sie noch jung und gesund: Birgit Rabisch und Bernd Martens frisch verliebt in Greetsiel.Bild privat

Wir bedanken uns herzlich bei Birgit Rabisch und Bernd Martens, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte und Fotos zur Verfügung stellen.