Marc zeigt Anzeichen von Alzheimer - demenzjournal.com

Wolkenfische (1)

Wenn ich dich sehe, bist du ein Anderer

Paar läuft am Strand entlang.

»Die Wolkenfische sind ein altes Bild in mir: Ich sah es einmal, als ich am Strand war und in den Himmel schaute.« – Susanna Erlanger. Symbolbild Dalle

2013 zeigten sich bei meinem Mann erste Symptome von Alzheimer. In diesem Blog begebe ich mich auf die Suche – nach ihm, nach mir, nach dem Sinn hinter der Krise.

Dieser Blog handelt von der Alzheimer-Krankheit meines Mannes. Er handelt von Veränderung, von Verzweiflung und Hader, aber auch von Nähe und dem Erkennen, dass die Krise, in die wir gestürzt wurden, uns auf einen Weg bringt, den wir als wahr empfinden.

Das klingt jetzt vielleicht verrückt, vor allem im Hinblick auf den Erkrankten selbst. Was soll ihm diese Krankheit noch bringen, da er ja ›seinen Verstand verliert‹?

Aber die Erfahrung und unsere Gespräche zeigen, dass er etwas findet, das über den Verstand hinausgeht. Und das mehr ist als das, was sein Selbst vor der Krankheit war.

Der Abschied zieht sich über Jahre hin und ist noch nicht vorbei. Doch wir nehmen die Veränderung an, die diese Krankheit für unser Leben bedeutet, und dadurch verändern wir uns selbst.

Dieser Blog ist ein eher literarischer Text. Aber er ist vor allem ein Text der Schonungslosigkeit mit sich selbst, ein Text, der einen inneren Wandel, eine Entwicklung aufzeigt. Er beschreibt den Weg der Stationen zur Befreiung und zur eigenen Wahrheit. Und die Krise – in diesem Fall die Demenz – bekommt einen Sinn.

Susanna Erlanger im Interview:

Demenz und Sinnhaftigkeit

»Alles, was geschieht, ist gut«

2013 zeigen sich erste Symptome. Doch Marc will davon nichts wissen. Seine Frau Susanna, Dichterin und Verlegerin, pflegt ihn zuhause, bis es nicht … weiterlesen

Geschichte einer Beschwörung

Dies ist die Geschichte einer Beschwörung, die Geschichte vom Festhalten an dem, was schon verloren ist, von ewig vergänglicher Liebe, von erreichten Glückshöhen und dem Absturz in die eigene Hölle; es ist die Geschichte von Selbstbetrug und der Suche nach Wirklichkeit.

In dieser Geschichte werden Bilder hervorgeholt und wieder verworfen, weil das Sein hinter ihnen verborgen bleibt oder am Namenlosen scheitert und unter den Schichten der Zeit, den Schichten des Wandels, nicht zu fassen ist. Doch der Schimmer des Seins dringt aus dem Empfinden hoch bis zu den Worten.

Meine Hand hält deine vor der Zeit und danach.

Du –
Im Gebet
der Seide
Ich leg‘ mich neben dich
Windbraut geworden
trag‘ ich das Blau
deines Morgens

Wir –
In Kalkrosen
und Karden
umschlungen vom Salzstrom der Zeit
netzen mit Wergspitzen
Kristallwirbel
zum Abendstern

Du begegnest den Menschen mit Klarheit und Offenheit und siehst mehr als nur ihre Erscheinung. Einmal sagst du: »Es gibt wenig ›Menschen‹.« Und: »Je weiter sich die Menschen von der Natur entfernen, desto kränker handeln sie.«

Und ich sage: »Wir haben das Paradies der Materie anstelle des Himmels gesetzt. Wir finden das Göttliche nicht mehr in uns und auch nicht in einer Blume, in keinem Baum, in keinem Tier, und auch nicht in einem anderen Menschen, ja, nicht einmal in einem Stern. So sind sie uns ausgeliefert, und wir können sie uns zunutze machen.«

Alzheimer-Demenz

– oder: Du sollst dir kein Bildnis machen.
Wir brauchen einen Sinn, um unseren Geist mit dem Dasein zu versöhnen.

Das Kind, das du einst warst

Auf der Suche nach dir finde ich in meinem Notizbuch Anekdoten, – kleine, kleinliche Begebenheiten, von denen ich selbst nicht weiß, weshalb sie mir soviel bedeuten.

Einmal sagst du: »Ich will dich nicht ablenken …« – »Dann lenk mich nicht ab!«, antworte ich von meinem Schreibtisch her. Und wir lachen beide.

Einmal sagst du: »Ich hab‘ ja so geschwitzt!« – »Ich auch«, sage ich. Gespielt empört sagst du: »Kann man hier eigentlich mal etwas allein machen!?«

Wir taten so, als ob wir lebten. Doch hielten wir uns nur an Ereignissen fest, die uns herumschubsten, und unterdessen wurden wir alt.

Auf der Suche nach dir finde ich letzte Fetzen von Bildern, die, über Jahre verstreut, noch Erinnerung sind.

Im Notizbuch steht:

»Ich sitze am Ufer, und du gibst dich den Wellen hin: ›Damit ich zufrieden bin‹, sagst du, – ohne Anspruch an die Welt. Und wenn du am Schluss deines Bads den Kopf ins salzige Wasser eintauchst und beim Luftholen triumphierend mich ansiehst, meine ich das Kind zu erkennen, das du einmal warst.

Später streichst du den Sand aus den Zwischenräumen deiner Zehen, ganz in dich vertieft. Und ich schreibe, auf meinem Klappstuhl sitzend, dass ich jeden unvermittelt liebe, der ganz bei seiner Sache ist, denn ich selbst bin selten ohne Distanz zu mir.

Könnte ich mich doch auch auf die unruhigen Wellen legen wie du, ich würde mich tragen lassen, vom Salzwasser überspült, das ich mir aus den Augen riebe. Ich würde in den Himmel schauen und hoffen, dass am nächsten Tag weniger Wind wäre.«

Ich meinte ein Leben zu leben, wie es mir aufgetragen sei, und lebte nur in Bildern der Sicherheitszone.

Im Notizbuch steht: »Du schwimmst aus dem Schatten des großen Felsen, in dessen Höhle ich sitze. Ihr Vorsprung über mir begrenzt den Himmel kaum. Von Süden her schwankt ein Fischkutter im Nordwind, und ein weißer Schmetterling tanzt über den Sand ihm entgegen.«

Was heißt schon »normal«?

Ein halbes Jahr später stürze ich mich mit selbstvernichtender Lust in die Welt der Kollektive der Mütter, die es mir anfangs immer einfach machen, denn ich bin gefragt und gesucht.

Doch auch dieses Mal lassen sie mich bald nach der Anstellung fallen, weil ich eine andere bin und weil ich schon immer eine andere war. Es ist, als ob alle etwas wüssten, was ich über mich nicht wissen darf. Es ist, als ob die Worte, mit denen sie die Sätze verbauen, sich mir nur von weitem entziffern.

Hätte ich je von mir behaupten können, ich sei »normal«, wie sie es von sich behaupten, wäre alles in Ordnung – auch die Unordnung.

»Wer bist du?«, schreibe ich. Und: »Ich lerne dich auswendig.« Aber was will ich auswendig lernen? Du bist immer mit mir, aber auch du schweigst.

Das Unglück dauert nur eine Sekunde

Beim Besuch meines Bruders verrate ich dich – und merke es erst später.
Beim Abendessen mit Freunden verrätst du mich – und ich merke es auch erst später.

Doch manchmal durchfährt mich die Wahrheit, und ich schreibe: »Wenn ich dich sehe, bist du ein Anderer.« – Und ich erkenne deine Trauer.

Wir sitzen am Küchentisch, und das Schwere steht zwischen uns, wie unsere leergegessenen Teller, die wir nicht abräumen. Ich sage: »Es ist die Angst vor dem Alter. Es ist die Angst vor der Angst vor dem Alter. Wir bleiben an Bildern hängen aus den Jahren, die wir meinen verloren zu haben. Aber diese Bilder rauben uns das Jetzt.« 
Und plötzlich weicht das Schwere von uns, und du stehst auf und spülst die Teller.

Doch ist mir, als wenn ich schon üben müsste, allein zu sein.

Und ich schreibe ohne Einsicht, aber mit rationaler Idealisierung: »Ein Unglück dauert vielleicht eine Sekunde. Von da an sehen wir das künftige und das vergangene Leben unter seinem Einfluss.« Aber wenn ein Unglück wirklich eintrifft, ist man erstaunt darüber, welchen Einfluss es hat.

(Fortsetzung folgt.)

Ursula Kehrli schildert offen ihren Weg mit Paul durch eine Demenz

Das Tagebuch (2)

Untrügliche Anzeichen

Frau Kehrli macht mit ihrem Ehemann eine Donaufahrt. Der heftige Zwischenfall in der Schiffskabine ist nur einer von vielen in letzter Zeit. Langsam beginnt … weiterlesen


Wir bedanken uns herzlich bei Susanna Erlanger, dass sie uns in vertrauensvoller Weise diese sehr persönlichen Texte zur Verfügung stellt.