Kinder-Demenz: Die Welt wird immer kleiner - demenzjournal.com

Kinderdemenz

Kinder-Demenz: Die Welt wird immer kleiner

Sarah leidet unter NCL, auch Kinder-Demenz genannt. Sie ist 15, in der Pubertät und blind. Von ihrer Familie wird sie liebevoll umsorgt. Dass ihre Lebenserwartung begrenzt ist, wissen alle – nur sie selbst nicht

Als Sarah die Diagnose bekam, war sie acht Jahre alt. Drei Buchstaben, die den Eltern damals überhaupt nichts sagten: NCL – umgangssprachlich Kinder-Demenz genannt. Die Ärztin im Hamburger Universitätskrankenhaus, die ihnen die Diagnose mitteilte, fügte hinzu: «Genießen Sie Ihre Tochter, so lange das noch möglich ist.»

In dem Moment wurde Yvonne und ihrem Mann Mika klar, wie ernst es mit der Krankheit war. Die betroffenen Kinder werden höchstens 20 bis 30 Jahre alt. Das Datum der Diagnose, es war der 8. Juli 2016, ein schöner Sommertag, haben die Marquards nicht vergessen.

«Mein Mann und ich haben wochenlang viel geweint. Dann haben wir uns gesagt: Wir verschwenden hier Zeit, Lebenszeit, und haben uns zusammengerissen. Das ist uns nicht leichtgefallen, aber nach ein paar Wochen haben wir es einigermaßen geschafft», sagt Yvonne Marquard.

Fynn, der älteste Sohn, der heute 17 ist, hat sich damals im Badezimmer eingeschlossen und ebenfalls geweint. Nach einiger Zeit kam er wieder heraus und meinte, er wolle Forscher werden, um seine Schwester zu heilen. Dann sagte er noch: «Aber ich werde nicht schnell genug erwachsen, Mama.» Seine Mutter hat ihm geantwortet, er könne später andere Kinder retten. Das hat ihn getröstet, etwas zumindest.

Als Yvonne Marquard damals die Diagnose ihrer Tochter erfuhr, war sie mit dem jüngsten ihrer drei Söhne schwanger, fünfter Monat. Nick, der heute sechs Jahre alt ist. Sie bekam Panik, ob auch Nick den Gendefekt haben könne, der bei Sarah für die Krankheit verantwortlich ist. Sie und ihr Mann haben beide dieses «schlechte» Gen, wie sie es nennt, das NCL auslösen kann, ohne aber selbst krank zu sein.

Was ist NCL?

NCL, auch Kinderdemenz genannt, ist eine erblich bedingte Stoffwechselkrankheit, bei der die Nervenzellen der Betroffenen allmählich absterben. Die Abkürzung steht für Neuronale Ceroid-Lipofuszinosen, es gibt verschiedene Ausprägungen. Die Krankheit kann bereits im Säuglingsalter beginnen, häufiger betroffen sind Klein- und Schulkinder, die Symptome sind ähnlich.

Meistens entwickeln sich die betroffenen Kinder zunächst normal. Erste Anzeichen der Krankheit sind Sehprobleme, die schließlich zur Erblindung führen. Die geistigen Fähigkeiten nehmen zunehmend ab, die Betroffenen haben Probleme mit dem Sprechen, stolpern, einige haben Krampfanfälle, das Kurzzeitgedächtnis lässt nach.

Bislang ist die seltene Krankheit wenig erforscht und nicht heilbar. Die jungen Patienten und Patientinnen werden mit verschiedenen Therapien unterstützt, z. B. Ergo- und Bewegungstherapie oder Logopädie.

Weil beide Eltern betroffen sind, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass das defekte Gen an ein Kind weitergegeben wird, bei 25 Prozent. Die Eltern haben bei Nick eine Fruchtwasser-Untersuchung machen lassen. Mehrere Wochen banges Warten, dann kam die erlösende Nachricht: Nick ist gesund.

Yvonne Marquard ist eine offene und herzliche Frau. Meist antwortet sie schnell und spontan, manchmal zögert sie kurz, ringt um ein Wort, wenn die Antwort schmerzlich ist. Mit ihrer Familie wohnt sie am Stadtrand von Hamburg, ein kleines, gemütlich eingerichtetes Haus, barrierefrei. Sarah hat mittlerweile Pflegestufe 4.

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Ihr Zimmer ist im Erdgeschoss, daneben das Bad, nur für sie. Noch schafft sie die meisten Wege unten im Haus allein, manchmal muss sie geführt werden, wenn sie eine Tür nicht findet. In den ersten Stock, wo ihre drei Brüder ihre Zimmer haben, geht sie nie. Sarah kann seit ein paar Jahren nicht mehr sehen. Erblindung ist eines der Symptome von NCL.  

Der Weg, bis die Marquards überhaupt wussten, was mit ihrem Kind los ist, war lang.

Als Sarah fünf war, fing sie an, Bücher ganz dicht an ihre Augen zu halten, konnte Farben nicht mehr gut erkennen. Die Eltern liefen von Augenarzt zu Augenarzt, keiner wusste, was Sarah hatte, einer meinte, das Kind würde um Aufmerksamkeit buhlen, weil die Eltern es vernachlässigten.

Ein Kinderpsychologe, der konsultiert wurde, war anderer Meinung: Sarah sei ein glückliches Kind, er könne ihr nicht helfen. Eine andere Diagnose lautete juvenile Makuladegeneration, bei der sich die Sehfähigkeit bereits im Jugendalter stark verschlechtert. Eine Fehldiagnose, wie sich später herausstellte.

Je weniger Sarah sehen konnte, je dunkler ihre Welt wurde, umso ängstlicher wurde sie. Das Radfahren, das sie immer geliebt hatte, war irgendwann nicht mehr möglich. Inzwischen sagte sie selbst, dass sie nicht mehr gut gucken könne, ihre Welt verengte sich. Sie hatte nur noch zehn Prozent Sehkraft auf beiden Augen.

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Einmal hat sie für ihre Mama ein Bild gemalt, der untere Teil war gelb. Die Mutter freute sich und sagte: «Oh, das ist ja ein toller Strand!». Sarah brach daraufhin in Tränen aus. Sie wollte doch eine grüne Blumenwiese für ihre Mama malen, aber hatte die Farben nicht mehr richtig erkannt. Die Mutter schlug dann vor, das Gelb mit Blau zu übermalen, so wurde es doch noch eine Wiese.

Bald kamen andere Auffälligkeiten hinzu. Sarah wirkte oft abwesend, schaute ihr Gegenüber nicht mehr richtig an, das Kurzzeitgedächtnis ließ nach. Die Eltern überlegten, ob vielleicht im Kopf ihrer Tochter etwas nicht stimmte, auf den Sehnerv drückte, und ließen ein MRT machen. Das Ergebnis war unauffällig. Gleichzeitig machten die Ärzte eine Blutuntersuchung. Dieses Mal war das Ergebnis auffällig: NCL.

Nach der Diagnose wurde Sarah schnell komplett blind. Die Familie musste umziehen. Das barrierefreie Haus, in dem sie jetzt wohnt, hilft – auch weil sich Sarah ein bisschen Autonomie bewahren kann. In ihrem Zimmer hört sie CDs, schaut – beziehungsweise hört – sich Fernseh-Sendungen an, am liebsten Das perfekte Dinner, wo Menschen für andere kochen und dabei bewertet werden. Beim Fernsehen braucht sie keine Hilfe. «Wir unterstützen sie beim Zähneputzen, mitunter auf der Toilette», sagt die Mutter. «Sie möchte noch so viel wie möglich allein hinkriegen. Sie hat auch ihr Schamgefühl.»

Sarah ist jetzt 15 Jahre alt, in der Pubertät – eine Zeit, in der sich Jugendliche normalerweise von den Eltern abgrenzen. Sarah ist das nur in Maßen möglich, sie verlernt zu leben, während andere in ihrem Alter ins Leben starten. Zunehmend vergisst sie die Namen ihrer Schulfreundinnen.

Mit anderen Mädchen losziehen, tanzen gehen, ins Kino, für Jungs schwärmen oder ablästern – Sarah kennt das nur vom Hörensagen, von ihren Brüdern.

«Als Eltern erklären wir ihr, was Pubertät bedeutet, aber sie vergisst meist, was wir ihr gesagt haben. Es ist sehr schwierig, einem blinden, dementen Kind die Welt zu zeigen.»

Tagsüber geht Sarah in eine Blindenschule, es gefällt ihr dort. Sie ist in einer Werkstatt-Klasse, in der viel gebastelt wird. Der Raum befindet sich im Erdgeschoss, Sarah will nicht mehr in die Klassenräume im ersten Stock gehen, sie hat Angst, aus dem Fenster zu fallen.

Sie würde gern mit den anderen die Blindenschrift üben, aber für Sarah war es zu spät, die Schrift zu lernen – ihr Kurzzeitgedächtnis konnte es nicht mehr leisten. Manchmal nimmt sie zu Hause ein Buch zur Hand und tut so, als würde sie ihrem jüngeren Bruder Nick vorlesen – bis er sie darauf hinweist, dass sie das Buch verkehrt herum hält. «Sarah sagt immer wieder, dass sie davon träumt, ihre Bücher lesen zu können», meint die Mutter. Es fällt schwer, die Tochter in dem Moment nicht trösten zu können.

Die 40-Jährige ist zu Hause, ihr Mann, kaum älter als sie, ist bei der Stadt angestellt. Früher war Yvonne Marquard Rechtsanwaltsfachangestellte, der Job machte ihr Spaß. Nach der Elternzeit mit Nick wollte sie eigentlich wieder arbeiten, aber Sarah brauchte viel Zuwendung.

Vergessene Jugend

Ein erschütterndes Zeitdokument, gefilmt im Auftrag der Familie. derfilmemacher/youtube

Dann kam Corona, und Sarah musste ganz zu Hause bleiben. Die Mutter gab ihre Arbeit auf, das Familieneinkommen verringerte sich deutlich. «Glücklicherweise sind meine Kinder bescheiden», meint sie. Durch Sarahs Krankheit sei sie gelassener geworden, rege sich weniger über Kleinigkeiten auf. «Unsere Familie hätte psychologische Hilfe in Anspruch nehmen können, aber bis jetzt hatten wir keine Zeit, uns darum zu kümmern, es geht auch so. Zum Glück habe ich gute Nerven und bin sehr belastbar.»

In diesem Moment klingelt es an der Tür, Sarah kommt nach Hause, ein Fahrdienst der Schule bringt sie und holt sie morgens ab. Amy, die Mischlingshündin, springt auf und begrüßt Sarah fröhlich. Seit der Hund da ist, lässt sich Sarah schneller beruhigen, wenn sie wütend oder traurig ist. Morgens lässt sie sich von Amy wecken, für beide ein schönes Ritual.

Yvonne Marquard legt den Arm um ihre Tochter und begleitet sie ins Wohnzimmer. Sarah freut sich, zu Hause zu sein, aber will nicht viel reden. Sie holt ihre Malsachen aus dem Ranzen, ein Buch zum Ausmalen mit lauter Katzen drin. Die Mutter dirigiert sanft ihre Finger, dorthin, wo der Katzenkopf ist, die Augen, die Schnurrhaare, reicht ihr die passenden Farbstifte. Man merkt, die beiden sind ein eingespieltes Team. Sarah spricht leise, hat Probleme mit dem Artikulieren, es klingt ein bisschen verwaschen.

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Nach und nach kommen auch die Brüder nach Hause, setzen sich kurz an den Tisch, dann verschwinden sie in ihren Zimmern. Mikko ist Sarahs Lieblingsbruder, erzählt die Mutter, als die Tochter in ihr Zimmer gegangen ist. Sie rufe immer wieder nach ihm, was den 12-Jährigen gelegentlich nerve, er habe das Gefühl, ständig in Rufbereitschaft zu sein. «Wir sagen Mikko dann, dass er nicht kommen muss und wir Eltern für Sarah da sind. Wenn mein Mann zu Hause ist, springt er sofort ein.»

Auch die anderen Brüder kümmern sich, führen Sarah herum, draußen vor dem Haus oder wenn die Familie mit ihrem VW-Transporter einen Ausflug macht.

«Ich bin froh, dass meine Söhne selbstverständlich helfen, sie kommen mit der Situation gut klar.»

Hat sie gelegentlich Angst, ihre Söhne zu vernachlässigen, weil Sarah so viel Aufmerksamkeit bekommt? «Manchmal schon, deshalb mache ich den Jungs gezielt Angebote, nur mit ihnen oder mit einem etwas zu unternehmen.» Mitunter fährt Sarah auf eine Freizeit, dann, sagen die Brüder, sei es wie Urlaub – und sie können das durchaus genießen.

Der Familienzusammenhalt ist Yvonne Marquard wichtig. Das Mittagessen in der Woche fällt meist auf den Nachmittag, wenn auch ihr Mann nach Hause kommt, die Familie isst nach Möglichkeit zusammen. Regeln sind wichtig, weil alle immer viele Termine haben, weil sie Verlässlichkeit geben, wenn schon so vieles unsicher ist.

Gelegentlich spricht Sarah vom Tod. Das bricht den Eltern jedes Mal fast das Herz. Ihr Mann, sagt Yvonne Marquard, würde zwar mitunter so tun, als ließe er die Dinge nicht so nahe an sich herankommen, aber er leide genauso wie sie. Manchmal sogar mehr.

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«Wenn Sarah vom Tod spricht, flüchtet er, bittet mich, dass ich ihr antworte.» Sarah fragt, ob sie ihre Puppen in den Himmel mitnehmen kann. Ob sie dort ein Engel sein werde oder ein Vampir – Sarah liebt den kleinen Vampir Rüdiger aus dem Fernsehen.

Oder sie fragt, ob es weh tut zu sterben. «Ich sage ihr dann, dass sie alles mitnehmen kann, was sie möchte, und keine Schmerzen haben wird.» Sie würde ihre Tochter niemals anlügen, sagt die Mutter, aber manchmal beantwortet sie eine Frage lieber nicht, sondern lenkt ab, etwa wenn Sarah wissen möchte, warum sie nicht mehr sehen kann.

Yvonne Marquard weiß nicht, warum Sarah überhaupt über den Tod spricht. Sie und ihr Mann haben das Thema nie vor ihrer Tochter erwähnt. Beide hoffen, dass es ganz bald einen Durchbruch in der Medizin geben wird, eine Therapie, die Sarah helfen kann. Mehr als ein Bruchteil Hoffnung ist es nicht. «NCL ist so selten, es wird leider viel zu wenig darüber geforscht», meint die Mutter. «Ich hasse diese Krankheit, sie macht mich wütend, weil wir nichts tun können, um unsere Tochter zu retten.»

Dass Sarahs Lebenserwartung begrenzt ist, weiß sie selbst nicht. Ihr größter Wunsch ist, wieder sehen zu können, so wie früher. Sie hat Zukunftspläne, sagt, dass sie später viele Kinder haben möchte, überlegt sich Namen, wie die Kinder heißen können, Annika, Elli oder Matti.

Auch konkrete Berufspläne hat sie schon, sie möchte Sängerin werden – sie hat eine gute Singstimme – oder Köchin. Manchmal sagt sie auch, dass sie Ärztin werden möchte. Wenn Yvonne Marquard und ihr Mann das hören, müssen sie schlucken.


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NCL-Stiftung, IBAN: DE50 2005 0550 1059 2230 30 oder Rautenherz e.V., IBAN: DE05 2007 0024 0515 0248 01, Betreff: Hilfe für Sarah