Draussen lauern viele Gefahren für Menschen mit Demenz - demenzjournal.com

Das Tagebuch (82)

Draussen lauern viele Gefahren für Menschen mit Demenz

»Auch mit Siebenundsiebzig kann ich noch Neues lernen und mich neu orientieren, muss aber Gewohntes loslassen.« U. Kehrli

Was lange befürchtet wurde, ist eingetroffen: Paul ist aus dem Heim abgehauen. Während das Heim und das halbe Dorf in Aufruhr versetzt sind, bleibt Frau Kehrli ganz gelassen. Insgeheim freut sich mit ihrem Mann – sie stellt sich sein verschmitztes Lächeln vor.

16. August 2013 – Ausgebüxt

Nach dem Mittagessen mit den Angehörigen der Wohngruppe besuche ich Paul. Hochstimmung bei mir, Zufriedenheit bei Paul. Ein Lächeln hier, eins dort, Winken – schon lange habe ich ihn nicht mehr so ausgeglichen angetroffen. Gegen halb vier verabschiede ich mich, er ist fröhlich, winkt mir nach. Die Welt ist wieder mal in Ordnung.

Dann, gegen sieben Uhr abends, ein Anruf aus dem Pflegeheim: Schlechte Nachrichten! Paul ist weg! Seit halb sechs Uhr wird er vermisst, ist unauffindbar. Ich wusste sogleich: Paul ist ausgebüxt! Sein längst gehegter Wunsch geht in Erfüllung.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich sehe sein verschmitztes Lächeln vor mir, Glücksgefühle für ihn. Endlich! Irgendwie freue ich mich mit ihm. Ich habe auch keine Panik mehr, wie früher etwa, als er von zuhause ausriss. Damals packte mich das nackte Entsetzen und die Angst schnitt mir schier den Atem ab.

Die Polizei ruft mich an, will noch Angaben, wo man Paul am ehesten suchen muss. Ich erwähne Ostermundigen oder den Fussweg bei den Treibhäusern, der Bahn-Trasse entlang. Ich komme, helfe suchen in Ostermundigen, wo er früher lebte. Die Nachbarn hier sind orientiert, das Buschtelefon funktioniert. Man kennt Paul, falls er doch mit dem Zug kommen sollte. Ist aber eher unrealistisch.

Autobahn, Ausfahrt Ostermundigen. Absuchen, wo er aufgewachsen ist; zum Bahnhof, dann langsam Richtung Gümligen, dieser Weg ist ihm ja auch bekannt. Noch Benzin auffüllen, sicher ist sicher. Weiterer Anruf von der Polizei, sie wollen nähere Angaben, sie geben mir noch Tipps zum Suchen.

Suchhunde werden in Erwägung gezogen. Nicht nur auf den Spazierwegen suchen, auch daran denken, dass er sich vielleicht irgendwo hingelegt hat oder darauf achten, wo er hätte hinunterstürzen können. Man müsse immer auch mit dem Schlimmsten rechnen, man wisse ja nie. Behutsam will der Beamte mich auf eine solche Situation vorbereiten. Nun wird mir doch mulmig zumute.

Nachdem ich das Gelände ums Heim abgesucht habe, auch die Schächte neben den Wegen, gehe ich zur Wohngruppe. Sonderbar, Paul ist nicht da! Die Leiterin des Heims sieht mich, kommt mir mit hochrotem Gesicht entgegen, die Situation ist ihr peinlich, klar, solche Situationen sind unbequem, auch schmerzlich – draussen lauern so viele Gefahren für Menschen mit Demenz.

Meine innere Ruhe ist erstaunlich. Auch wie wir noch alle Gänge im Untergeschoss aufsuchen, in alle offenen Räume hineingehen, sogar hinter den Duschvorhängen nachsehen – mich beschleicht keine Panik. Tiefe Ruhe, Frieden in mir.

Gegen neun Uhr verabschiede ich mich, gehe nach Hause. Fahre diesmal durch die Stadt – Egghölzli, Burgernziel, Kirchenfeld, umfahre das Haus, wo wir früher wohnten, wo Paul arbeitete. Er wird sich kaum mehr an diese Zeit erinnern. Dennoch, sicher ist sicher. Dann zum Bahnhof, ein Zug fährt ein, sehnsüchtig schaue ich übers Perron, nichts.

Vor der Haustüre liegt ein Glas Aprikosen-Konfitüre, Grüsschen einer Nachbarin, Wir denken an Dich. Ich gehe ins Haus. Telefon von Monika, meiner Gartentochter. Sie weiss noch nichts. Ihre Anteilnahme tut so gut. Ich bin weiterhin guter Dinge.

Zehn Uhr. Anruf ins Heim. Wissen Sie schon etwas, hat sich die Polizei gemeldet? Ich versuche eine Stimmung herauszuhören. Man hat Paul gefunden. Halleluja, entfährt es mir, grosses Aufatmen, nun kommen mir die Tränen der Erleichterung.

Im Egghölzli mitten auf der belebten Strasse: Einem Mann sei das Verhalten von Paul aufgefallen, er habe sich um ihn gekümmert und dann die Polizei benachrichtigt.

Paul weigere sich jedoch vehement, ins Streifenfahrzeug zu steigen. Die Verantwortliche der Wohngruppe fährt nun hin. Sollte Paul nicht mit ihr gehen, werde ich hinfahren. In einer Viertelstunde wäre ich dort. In mein Auto würde er schon einsteigen.

Ich kann schlafen gehen. Es ist kein Anruf mehr gekommen; wie abgemacht, falls alles rund läuft. Glücklich lege ich mich hin. Ein für Paul aufregendes Erlebnis ist glimpflich abgelaufen, dafür bin ich zutiefst dankbar. Dennoch bleibt mir ein Schmunzeln: Er hat es endlich einmal geschafft auszubrechen, sein lange gehegter Wunsch ist in Erfüllung gegangen.

Lernvideo zur Validation bei Demenz

Was ist zu tun, wenn er einfach nur nach Hause will? alzheimer.ch/Marcus May

17. August 2013 – 21:28 h

Liebe Ursula
Soeben habe ich deinen Tagebucheintrag gelesen, das war ja ein Tag für dich und auch für Paul! Sicher hat er dabei mit verschmitztem Lächeln sein »Ausbüxen« genossen und ist nun wieder in der vertrauten Umgebung. Irgendwie doch auch schön, dass er sich diese Freiheit genommen hat. Das passt doch zu ihm. Nun wünsche ich dir heute Abend eine tiefe, gute Nacht!
Herzlich Gaby

22. August 2013 – Staunen

Monika hat die Mähsteine verlegt. Bis auf den Roll-Rasen ist mein seitlicher Garten fertig! Viele, viele Stunden Fleiss und Schweiss hat es gekostet und zum Dessert gab’s noch einen Wespenstich auf Monikas Brust.

Früh in der Morgendämmerung stehe ich schon am Fenster, schaue in den Garten und mein Herz hüpft. Obwohl mein Körper wie zerschlagen ist, meine Arme schmerzen. 130 Steine verlegten wir gestern, jeder fast zwei Kilo schwer.

In Bündeln von vier trug ich sie zu Monika rüber. Und sie legte jeden einzeln hin, kontrollierte die Lage mit der Wasserwaage, ging ab und zu hoch und warf einen kritischen Blick aus dem ersten Stock, um den Überblick nicht zu verlieren. Elegante Kurven, schön ausgewogen sollten sie wirken.

Und nun ist er fertig, mein Garten, und er wirkt harmonisch. Und vornehm. Gekonnt. Und er strahlt Lieblichkeit aus. Das Ergebnis vieler, vieler Stunden: Überlegen, planen, suchen, auswählen – nun ist er da und strotzt vor Liebe. Ja, das war mein Herzenswunsch, hier auf diesem Flecklein Erde, das mir anvertraut wurde, etwas Schönes zu schaffen.

Wenn der Blick hinaus auf den Garten fällt, soll man etwas von der Herrlichkeit Gottes schmecken, sehen, erleben. Schönes, Erfrischendes, Harmonisches, ein Lobpreis der Schöpfung Gottes, und Lobpreis dem Schöpfer.

Heute Morgen weiss ich: Dies ist uns gelungen! Jeder Blick hinaus erquickt, erfreut mich. Geschafft! Was mir unmöglich schien, ist Wirklichkeit geworden. Was ich allein nie hätte vollbringen können, hat Monika an die Hand genommen, mit viel Herz. Und ich wuchs über mich hinaus durch ihre Gabe, Gärten zu planen und zu gestalten. Ungeahnte Kräfte wurden in mir mobilisiert, um das Gepflanzte zu pflegen.

So wurde ich zur »Gartenfrau«. Auch mit Siebenundsiebzig kann ich noch Neues lernen und mich neu orientieren, muss aber Gewohntes loslassen.

Ich habe mich für den Garten entschieden, selbst wenn ich dadurch enger ans Haus gebunden bin. Wenigstens an den heissen Tagen. Da sollte ich als altes Weiblein ohnehin nur beschränkt unterwegs sein. Die Hitze sei gefährlich, wird gewarnt. Vom harten Arbeiten im Garten sagen sie nichts. Bloss trinken muss man genug.

Derweil schaue ich wieder hinaus in meinen Garten. Überwältigt atme ich tief durch und bin voller Freude. Das war ja der Sinn dieses mutigen Unternehmens.

Vorher: Der Blick zum hölzernen Gartenzaun, der langsam zerfiel, ein paar Latten hingen schief. Paul fehlte auch da. Was hat er alles gearbeitet, geflickt, am Leben erhalten.

Nur wegen dem Garten standen wir auf Kriegsfuss. Ich machte ihm nichts gut genug, nach den ersten paar Versuchen gab ich auf. Überliess ihm das Planen, wir hatten nicht dieselben Vorstellungen. Er pflanzte, wie er es jahrelang gemacht hatte, säte Blumen aus, pikierte sie, es gab Gemüse im Überfluss.

Ich stand stundenlang in der Küche, um alles zu verwerten. Kaum mal gab es Momente, den Garten einfach zu geniessen. Für ihn war es Arbeit, harte Arbeit. Tulpen rein im Herbst, Tulpen raus nach der Blüte, Gesätes auspflanzen, und der ewige Kampf mit dem wuchernden Unkraut.

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Für mich konnte es nur die eine Lösung geben: Alles raus und neu gestalten! Nun ist es soweit. Ich stehe da und staune. Staune. Staune. Wohliges Glücksgefühl in mir. Geschafft! Sich überwinden, dem Körper die Grenzen ausloten, dranbleiben, die eigenen Grenzen erweitern.

Ich denke zurück an all die Gespräche mit Monika, an die fröhlichen Ausflüge in die Gartenzentren, die Stunden, die wir zusammen verbrachten. Dann umsetzen, einpflanzen, ich durfte handlangern, dabei sein, mitfiebern. Und habe viel gelernt dabei. Langsam werde ich eine echte »Gartenfrau«

Was ich mir gar nicht zugetraut hatte, ist langsam gewachsen. Mit jedem Tag mehr, erfasst von der Ehrfurcht vor der Schöpfung, wuchs auch meine Fürsorge für jede einzelne Pflanze in meinem Garten. Und das Staunen. Beobachten, Mitfühlen, Mitleiden.

Neues ist geworden. Schönes. Harmonisches. Gesundes. Anstatt zur unsensiblen Psychologin gehe ich frühmorgens lieber hinaus in den Garten, es gibt immer etwas zu giessen, Verwelktes abzuschneiden, zu jäten, zu hacken, aufzubinden, aber vor allem: zu staunen.

Dann erfüllen mich Dankbarkeit und Zufriedenheit, wesentlich für ein glückliches Leben. Und ich danke Gott für Monika, für ihre aussergewöhnliche Gabe, Ihren selbstlosen, eifrigen Einsatz und die ansteckende Begeisterung, mit der sie ans Werk ging. Oft musste sie Geduld haben mit meinen queren Vorstellungen, bis ich ihr endlich alles Planen überliess und nur noch staunen durfte. (Fortsetzung folgt … )