25. September 2013 – Erdulden
Ein neuer Tag. Am liebsten würde ich alle Lasten abwerfen. Endlich mein eigenes Leben leben. Selbst bestimmen. Auswählen können, was ich selbst möchte. Fremdbestimmt sein, das Los meines Lebens, wie mir scheint. Mürrisch blicke ich dem neuen Tag entgegen, obwohl wolkenlos, klare Sicht, ein Herbsttag – schöner geht’s nicht. Es locken die Berge, es lockt ein Wandertag, es lockt eine Schifffahrt. Aber heute kann mich alles ärgern, fühle mich ausgelaugt, benutzt, möchte Ruhe finden, sehne mich nach Ferien.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Dann das: Als ich gestern das Pflegeheim verliess, weinte Paul beinahe. Wütend auf mich beim Abschied, resignierte er zuletzt, als mir eine Pflegende zu Hilfe kam und versuchte ihn abzulenken. Dankbar huschte ich in den Lift, schweren Herzens, die Trauer an meiner Seite, die Ohnmacht kam dazu, die Hilflosigkeit, dann setzten sich auch die Schuldgefühle zu mir ins Auto, als ich endlich losfuhr.
Bedrückt, geknickt lenkte mich der Besuch im Bauhaus ab, dann noch den Haarschneider kaufen – Paul lässt sich nicht zum Friseur bewegen. Seit Wochen nicht. Ich muss es mal selbst versuchen.
Müde und ausgelaugt setzte ich mich für die Abendnachrichten vor den Fernseher, erfahre die scheusslichen Ereignisse des Tages, mein eigener Kummer verblasst angesichts all der Not in der Welt. Flüchtlingsdramen, Geiselnahme und Tote und Verletzte im Kaufhaus in Nairobi, Drohungen von der radikal-muslimischen Seite.
Meine Freude ist schon wieder abhanden gekommen. Das Hoch am Donnerstag mit dem Musik-Team weicht einer Baisse, es ist Zeit, über die Bücher zu gehen. Zu viel Drehen um mich selbst, schlechtes Denken über böse Mitmenschen, ich brauche Reinigung.
Wo ist das Leck in meinem Wassertank? Was verstopft die Leitung der Freude, die mich überschütten möchte? Was klebt an mir und behindert meine Kraft?
Stille. Nachdenken. Beten, fromm gesprochen. Ich denke an Paulus. Er hat sich selbst verleugnet, das heisst er hat sich vergessen und hat seine eigene Bequemlichkeit, seine Pläne durchkreuzen lassen, um das zu tun, was seinen Mitmenschen dient.
Der Gedanke, auch heute wieder Paul zu besuchen, erquickt mein Herz. Ich spüre seine Qual, dort leben zu müssen – er vermisst mich. Obwohl ich zuletzt versucht habe mein Leben leben zu lernen, indem ich wöchentlich drei Tage für mich und vier Besuche bei Paul einplante, will ich mein Herz sprechen lassen.
Sehnsucht erfüllt mich und ich weiss, ich kann ihm helfen. Freude kommt auf: Mein Ego zu vergessen und ihm zu helfen, das ist das Geheimnis eines glücklichen Lebens. Weg von sich auf andere hin. Daraus erwächst die nötige Kraft, jemanden glücklich zu machen.