Mister Vorwurf höchstpersönlich - demenzjournal.com

Das Tagebuch (84)

Mister Vorwurf höchstpersönlich

»Mister Vorwurf ist mit ein Grund, weshalb ich früh aufstehe. Ich will ihm nicht zuhören, ich habe keine andere Möglichkeit, als die heutige Situation zu ertragen. Es gibt keine andere Lösung.« U. Kehrli

Frau Kehrli wird erneut von Selbstzweifel und Selbstvorwürfen geplagt, wie so oft in den letzten Jahren, seit Paul im Heim ist. Doch diesmal kommt drohend etwas hinzu: Ist das etwa der Anfang vom Ende? Wie schnell es plötzlich gehen kann, fürchtet sie.

25. September 2013 – Erdulden

Ein neuer Tag. Am liebsten würde ich alle Lasten abwerfen. Endlich mein eigenes Leben leben. Selbst bestimmen. Auswählen können, was ich selbst möchte. Fremdbestimmt sein, das Los meines Lebens, wie mir scheint. Mürrisch blicke ich dem neuen Tag entgegen, obwohl wolkenlos, klare Sicht, ein Herbsttag – schöner geht’s nicht. Es locken die Berge, es lockt ein Wandertag, es lockt eine Schifffahrt. Aber heute kann mich alles ärgern, fühle mich ausgelaugt, benutzt, möchte Ruhe finden, sehne mich nach Ferien.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Dann das: Als ich gestern das Pflegeheim verliess, weinte Paul beinahe. Wütend auf mich beim Abschied, resignierte er zuletzt, als mir eine Pflegende zu Hilfe kam und versuchte ihn abzulenken. Dankbar huschte ich in den Lift, schweren Herzens, die Trauer an meiner Seite, die Ohnmacht kam dazu, die Hilflosigkeit, dann setzten sich auch die Schuldgefühle zu mir ins Auto, als ich endlich losfuhr.

Bedrückt, geknickt lenkte mich der Besuch im Bauhaus ab, dann noch den Haarschneider kaufen – Paul lässt sich nicht zum Friseur bewegen. Seit Wochen nicht. Ich muss es mal selbst versuchen.

Müde und ausgelaugt setzte ich mich für die Abendnachrichten vor den Fernseher, erfahre die scheusslichen Ereignisse des Tages, mein eigener Kummer verblasst angesichts all der Not in der Welt. Flüchtlingsdramen, Geiselnahme und Tote und Verletzte im Kaufhaus in Nairobi, Drohungen von der radikal-muslimischen Seite.

Meine Freude ist schon wieder abhanden gekommen. Das Hoch am Donnerstag mit dem Musik-Team weicht einer Baisse, es ist Zeit, über die Bücher zu gehen. Zu viel Drehen um mich selbst, schlechtes Denken über böse Mitmenschen, ich brauche Reinigung.

Wo ist das Leck in meinem Wassertank? Was verstopft die Leitung der Freude, die mich überschütten möchte? Was klebt an mir und behindert meine Kraft?

Stille. Nachdenken. Beten, fromm gesprochen. Ich denke an Paulus. Er hat sich selbst verleugnet, das heisst er hat sich vergessen und hat seine eigene Bequemlichkeit, seine Pläne durchkreuzen lassen, um das zu tun, was seinen Mitmenschen dient.

Der Gedanke, auch heute wieder Paul zu besuchen, erquickt mein Herz. Ich spüre seine Qual, dort leben zu müssen – er vermisst mich. Obwohl ich zuletzt versucht habe mein Leben leben zu lernen, indem ich wöchentlich drei Tage für mich und vier Besuche bei Paul einplante, will ich mein Herz sprechen lassen.

Sehnsucht erfüllt mich und ich weiss, ich kann ihm helfen. Freude kommt auf: Mein Ego zu vergessen und ihm zu helfen, das ist das Geheimnis eines glücklichen Lebens. Weg von sich auf andere hin. Daraus erwächst die nötige Kraft, jemanden glücklich zu machen.

28. September 2013 – Nicht gerecht

Frühmorgens kommt noch einer ans Bett. Mister Vorwurf höchstpersönlich. Paul wird ungerecht behandelt, raunt er mir zu. Beim Tier würde man sagen, nicht artgerechte Haltung. Man schenkt ihm zu wenig Aufmerksamkeit, er ist zu oft allein. Er fühlt sich von dir verraten, verlassen, er hat sonst keinen, der sich für ihn verantwortlich fühlt wie du als Ehefrau, er hat ja keine Verwandten ausser dir.

Es gibt diese lichten Momente bei Paul, in denen er sich klar ausdrücken kann, deutlich ausspricht, dass er von mir enttäuscht ist. Er möchte doch, dass wir zusammen sind. Beim Abschied kämpft er mit den Tränen, ist wütend auf mich, hat schon die Faust erhoben und mich mit dem Stock bedroht.

Schlagen würde er mich nie. Das ist zutiefst in ihm verankert, dieser Respekt und die Achtung vor einer Frau. Doch oft fühlt er sich hilflos weil er seine Gefühle nicht ausdrücken kann. Verzweiflung übermannt ihn, wenn ich gehe. Wie schlimm, ihn so zurückzulassen!

Mister Vorwurf ist mit ein Grund, weshalb ich früh aufstehe. Ich will ihm nicht zuhören, ich habe keine andere Möglichkeit, als die heutige Situation zu ertragen. Es gibt keine andere Lösung.

Wenn ein Mensch 24/7-Überwachung braucht, nachts herumläuft, inkontinent ist, das schafft keiner auf Dauer allein.

Diese Tatsachen muss ich mir stets vor Augen halten, um die Trennung überhaupt auszuhalten. Um nicht vor Schmerz zusammenzubrechen, muss ich mir stets bewusst sein, dass eine solche Krankheit immer Opfer verlangt. Sie zerschlägt Hoffnungen und Pläne, sie vernichtet die Heile-Welt-Vorstellung.

Aus mit dem Lebenstraum vom Händchen halten im Alter, vor dem Haus sitzend die Abende gemeinsam geniessen. Kein Gedanke an eine Trennung, höchstens vage durch den Tod eines Partners. Aber auch das in weiter Ferne, nur schemenhaft.

Schlimm ist immer wieder der Abschied, wenn er seine Enttäuschung über mein Gehen ausdrückt. Vielleicht werden dann Erinnerungen an seine erste Frau wach, die ihn wegen eines anderen Mannes verlassen hatte, die ihn lange Zeit hinterging mit der neuen Verbindung. Ihn abgrundtief verletzte und enttäuschte.

Er versteht nicht, weshalb ich ihn zurücklasse, er möchte doch mit mir zusammen sein. Und ich muss gehen, ihn enttäuschen. Das tut unsäglich weh. Daran kann ich mich nicht gewöhnen, ich habe immer wieder darüber geschrieben in diesem Tagebuch.

Seine Traurigkeit gesellt sich zu meiner Hilflosigkeit, diese Ohnmacht begleitet mich zurück in meinen Alltag.

Zuhause wartet mein neuer Garten auf mich, wie gerne würde ich ihm dies alles zeigen. Die Freude mit ihm teilen. Wie viel hat Paul in dieses Haus, in den Gemüse- und Obstgarten investiert. Und kann es nun nicht geniessen! Auch ungerecht. Lebt im Heim, wohl in einem schönen Zimmer. Aber eben, eigentlich keine artgerechte Haltung. Das schmerzt, immer wieder, damit muss ich leben. Auch das ist hart.

29. September 2013 – Übervoll

Was für eine Woche! Paul litt sehr unter Heimweh. Ich ging öfter hin als sonst. Auch der Garten braucht Zuwendung. Dann am Freitag ein Notruf aus einem anderen Pflegeheim: Emma gehe es ganz schlecht, sie sei plötzlich sehr depressiv, total verwirrt und unglücklich, sie weine oft.

Mein erster Gedanke, ich lasse alles stehen und liegen, verzichte auf den Besuch bei Paul und fahre nach Wattenwil zu Emma. Doch telefonisch suche ich nach Hilfe in der Umgebung. Bei Kläry, Rosmarie, oder bei der Spitex-Verantwortlichen. Aufatmen, Frau S. nimmt sich Zeit für Emma.

Die Nüsse sind reif beim Pflegeheim in der Allee. Paul suchte am Freitag eifrig, sammelte sie, bückte sich mühsam, aber freute sich über jeden Fund. Schon sein dritter Herbst im Pflegeheim. Doch gestern war er zu keinem Schritt nach draussen zu bewegen.

demenzwiki

Bewegung

Viele Menschen mit Demenz sind oft und gerne in Bewegung. Wenn dies gefährlich oder störend wird, kann die Ressource zum Problem werden. weiterlesen

Als ich ankam, war Paul guter Dinge. Anita kauerte kniend vor ihm, salbte ihm Beine und Füsse nach einem Fussbad. So vergnügt sah ich ihn schon lange nicht mehr. Frisch rasiert war er auch. Es beglückte mich, dass er erneut Bezugspersonen gefunden hat, denen er vertraut.

Es schmerzt die Erkenntnis, dass sich zwischen uns eine Mauer erhebt, ich fühle seine Enttäuschung, seine Vorwürfe – oft auch klar ausgesprochen. Er lässt es mich spüren, indem er kaum von meiner Anwesenheit Notiz nimmt – wie gestern – und einfach die Augen schliesst, sich abschottet.

Auch der Abschied nach zwei Stunden war eher gleichgültig frostig, abweisend. Als ob er sich vor Gefühlen schützen müsste. Bilde ich mir das ein? Was kann er überhaupt noch wahrnehmen, was denkt er?

Einmal mehr: Traurig, hilflos und voller Kummer verlasse ich das Heim. Gehe noch einkaufen, um mich abzulenken. Ich verstehe zum ersten Mal, wie sich Menschen in ihrem Frust Pfunde anfressen. Heute Morgen staunte ich nicht schlecht, dass ich in den letzten Tagen ein ganzes Kilo zugelegt habe! Und vergass am Abend die Einladung bei Stubers, den Treff zusammen mit Wine und Monika, was mir doch eigentlich so viel bedeutet. Schaute dann am Fernsehen Messa da Requiem von Verdi, mit Karajan. Das passte so gut zu meiner Stimmung. Auch das:

Traube war ich, getreten bin ich, Wein werde ich.

Notker III. Labeo

1. Oktober 2013 – Geburtstag

Das Festessen zu Pauls Geburtstag, von der Heimleitung offeriert, musste ich gestern absagen. Wie ich am Samstag aus dem Lift trete, sehe ich Paul den Gang entlang mir entgegen kommen. Aufgeregt spricht er ein Wort, immer dasselbe, ein längeres, nicht zu verstehendes Wort. Ärgerlich begrüsst er mich, weil ich ihn nicht verstehe.

Es gelingt mir, ihn auf eine Couch zu ziehen, schmiege mich eng an ihn, halte seine Hände. Sie sind kalt. Aussergewöhnlich kalt. Paul hat sonst immer warme Hände. Er hält sie wie zum Gebet fest, wirkt verkrampft. Die Arme beginnen leicht zu zittern, auch der rechte Fuss bewegt sich rhythmisch. Augen geschlossen, leicht vornübergebeugt sitzt er stumm da.

Was ist los? Seine Schulter fühlt sich aussergewöhnlich warm an. Etwas stimmt nicht mit ihm. Anita bringt Kaffee und ein Tortenstück. Paul nimmt keine Notiz davon, auch nicht auf mein erneutes Mahnen hin, der Kaffee würde sonst kalt.

Plötzlich steht er aufgeregt auf, muss auf die Toilette. Frau G. hilft ihm um die Couch herum, er jammert, es ist zu spät, er hält seine Hand zwischen die Beine, endlich ist er in der Toilette. Ich warte. Längst müsste er zurück sein. Wo ist er?

demenzwiki

Inkontinenz

Inkontinenz ist eine häufige Begleiterscheinung von Demenz. Sie sehr belastend sein und ist oft der Grund für den Eintritt in ein Heim. weiterlesen

Die Pflegende deutet mir an, er sei im Zimmer von Frau S.. Tatsächlich, da sitzt er auf ihrem Bett, lässt sich nicht zum Aufstehen bewegen, weigert sich lauthals. Frau S. ärgert sich, protestiert, es sei gemein, dass er sich auf ihr Bett gesetzt habe, das sei abscheulich. Ich beschwichtige, entschuldige mich für Paul, er sei krank, tut mir leid.

Anita holt den Rollstuhl, wir hieven Paul vom Bett weg, schieben ihn hinaus in sein Zimmer. Kein Zureden hilft, also wir lassen ihn mal so. Anita holt den Fiebermesser, über 38 Grad, aha, also doch. Er antwortet auf keine Fragen, hat er Schmerzen? Er sollte trinken, er weigert sich, ich bin in Sorge.

Still setze ich mich neben ihn, halte seine Hände, inzwischen sind sie warm geworden. Eher zu warm. Schichtwechsel, Frau W. ist auch besorgt, sie will es nun versuchen, Paul ins Bett zu bringen. Ich verabschiede mich beruhigt, er ist in guten Händen. Sie hat einen besonderen Draht zu Paul und er zu ihr. Mein grosser Trost. Er brummelt etwas vor sich hin, gibt mir aber doch den Abschiedskuss.

Auf dem Heimweg beschleicht mich ein sonderbares Gefühl. Als ob ich Paul endgültig verloren hätte. Auch zuhause fühle ich mich allein – wie nie zuvor.

Ein Gedanke lässt mich nicht mehr los: Ist das der Anfang vom Ende? War es nicht auch bei Frau R. so am Anfang? Fieber, ein Infekt, zwei Wochen noch und sie glitt hinüber.

Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los, zwingt mich zu einer Bereitschaft, loszulassen. Bewusst werden, wie schnell eine Wendung zum Endgültigen geschehen kann. Noch nie habe ich mich so verlassen, so allein gefühlt. Auch wenn ich Paul oft sehr vermisse hier zuhause, diese Art von Alleinsein habe ich noch nie erlebt. Selbst als Paul vermisst und von der Polizei während vier Stunden gesucht wurde, hatte ich kein so beklemmendes Gefühl. Damals war Friede, Zuversicht in mir. Was soll wohl werden? (Fortsetzung folgt …)