Von Lena Stühlinger
Wenn niemand von den Spitex-Mitarbeiterinnen da ist, die sich um Papa kümmern, passt Mama meistens auf ihn auf. Wenn Mama nicht da ist, bin ich häufig in der Schule, deshalb passt mein Bruder auf. In den Ferien oder an den Wochenenden passe ich manchmal mit meinem Bruder zusammen auf Papa auf, aber eher selten.
Mama passt also eigentlich in 99 Prozent ihrer Freizeit auf Papa auf. Das ist sehr oft und auf Papa aufzupassen ist sehr anstrengend. Mama hat eigentlich nie Zeit, um mal etwas mit ihren Freundinnen zu unternehmen oder einfach mal zu entspannen. Wenn Papa im Bett ist, muss sie noch arbeiten für die Schule. Sie ist Primarlehrerin. Dieser Beruf wird oft unterschätzt, finde ich.
Angehörig, aussenstehend, mittendrin
Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Wenn Papa ins Heim kommt (was Mama so lange wie möglich verhindern will, weil sonst der letzte Kontakt, den wir noch zu ihm haben, verloren gehen würde) oder wenn wir alle ausgezogen sind, dann ist sie ganz allein.
Erlebnisbericht
Als Lena 15 war, zeigte ihr Vater erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz. Was das bedeutet, hat sie in ihrem sehr persönlichen Erlebnisbericht festgehalten. Wer sich mit Lena austauschen möchte, darf sie per Mail kontaktieren.
Was, wenn ihr alles zu viel wird? Auf Papa aufpassen, arbeiten, den Haushalt schmeissen, sich um uns kümmern. Bei einigen Dingen können wir Kinder ihr gut unter die Arme greifen, aber längst nicht bei allem.
Es tut mir auch so leid für sie, das mit Papa. Ich kann mich noch an ein paar Momente mit meinem gesunden Papa erinnern. Aber oft merke ich, dass ich mich überhaupt nicht mehr richtig an sein ganzes Wesen erinnern kann. Meinen Brüdern geht es, glaube ich, ähnlich. Aber Mama nicht. Sie kann sich erinnern. Mama hat fast ihr ganzes Leben mit ihm verbracht.
Sie war 17 Jahre alt, als die beiden ein Paar wurden. Und gekannt haben sie sich schon lange vorher. Sie muss unzählige Erinnerungen an ihn haben. Wie schlimm das für Mama sein muss, kann und will ich mir gar nicht vorstellen. Nach so vielen Jahren hat sie ihren Lebensgefährten einfach – zack – verloren. Nur den Körper hat sie noch. Dass sie noch uns Kinder hat, hilft Mama bestimmt. Aber wir können Papa auch nicht vollständig ersetzen.
Und dann kommt noch der Stress dazu. Die Arbeit, die gemacht werden muss, und für Papa zu sorgen, was auch wieder administrative Arbeiten mit sich bringt.
Mama meistert das alles bewundernswert und macht auch nicht den Eindruck, dass sie gleich zusammenbricht. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Und das ist fast so belastend wie die Krankheit von Papa. Ich glaube, Papa bekommt nicht mehr viel mit. Für ihn ist es wohl angenehmer als für uns. Deshalb ist es fast schwerer daran zu denken, wie es Mama wohl damit geht, als an Papa zu denken.
Okay, das war jetzt mal ein bisschen ein traurigeres Kapitel. Aber ich finde, es musste hier hin, weil das macht die FTD und auch andere Demenzarten erst so richtig dumm.
Durch das Verlieren der Person und das Erhaltenbleiben des Körpers wird es umso schwerer für die Angehörigen. Das macht für mich die Krankheit aus.
Oft fühle ich mich auch hilflos, weil ich Mama nicht richtig helfen kann. Als Kind ist man angehörig und voll drin in der Krankheit des Elternteils. Aber wenn es um den Verlust für den anderen Elternteil geht, bin ich eine Aussenstehende. Ich kann für Mama da sein, aber etwas dagegen tun kann ich nicht.
Wie geht’s meinen Brüdern damit?
Mein jüngerer älterer Bruder wohnt zu Hause und macht gerade ein Jahr lang Zivildienst. Er macht Breakdance und trainiert sehr oft. Ihm geht es mehr oder weniger gut mit der Situation. Er hat sich an die Krankheit von Papa gewöhnt. Wenn er allerdings nach Hause kommt und ihm einfällt, dass Papa ja auch noch da ist, nervt ihn das manchmal. Das kann ich gut verstehen, mir geht es genauso.
Für ihn war es am anstrengendsten, als Papa aufgehört hat, Auto zu fahren, und man immer aufpassen musste, dass er nicht ausbüxte. Oder wenn man ihn irgendwo angetroffen hat und mit nach Hause nehmen musste. Mein Bruder muss ab und zu auf Papa aufpassen. Unter der Woche, wenn Mama weg ist. Das stört ihn nicht. Es ist auch okay für ihn, wenn er Papa die Windeln wechseln oder ihm den Po abwischen muss. Das ist etwas, das ich nicht kann. Es ekelt mich einfach zu sehr.
Mit Freunden redet mein Bruder selten über Papa. Zum einen, weil es seinen Freunden unangenehm ist, und zum anderen, weil es ihm reicht, mit der Familie darüber zu reden. Mit uns darüber zu reden ist ihm wichtig.