Stimmungskiller des Jahres - demenzjournal.com

Papa hat Demenz (5)

Stimmungskiller des Jahres

Eine Demenz-Bemerkung kann schnell mal die Stimmung in einer Gruppe verhageln, weiss Young Carer Lena. Symbolbild Daniel Kellenberger

Lenas Vater ist stark pflegebedürftig. Meistens passt ihre Mutter auf ihn auf. Doch Lena macht sich Sorgen: Was, wenn ihr alles zu viel wird?

Von Lena Stühlinger

Wenn niemand von den Spitex-Mitarbeiterinnen da ist, die sich um Papa kümmern, passt Mama meistens auf ihn auf. Wenn Mama nicht da ist, bin ich häufig in der Schule, deshalb passt mein Bruder auf. In den Ferien oder an den Wochenenden passe ich manchmal mit meinem Bruder zusammen auf Papa auf, aber eher selten.

Mama passt also eigentlich in 99 Prozent ihrer Freizeit auf Papa auf. Das ist sehr oft und auf Papa aufzupassen ist sehr anstrengend. Mama hat eigentlich nie Zeit, um mal etwas mit ihren Freundinnen zu unternehmen oder einfach mal zu entspannen. Wenn Papa im Bett ist, muss sie noch arbeiten für die Schule.  Sie ist Primarlehrerin. Dieser Beruf wird oft unterschätzt, finde ich.

Angehörig, aussenstehend, mittendrin

Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Wenn Papa ins Heim kommt (was Mama so lange wie möglich verhindern will, weil sonst der letzte Kontakt, den wir noch zu ihm haben, verloren gehen würde) oder wenn wir alle ausgezogen sind, dann ist sie ganz allein.

Erlebnisbericht

Als Lena 15 war, zeigte ihr Vater erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz. Was das bedeutet, hat sie in ihrem sehr persönlichen Erlebnisbericht festgehalten. Wer sich mit Lena austauschen möchte, darf sie per Mail kontaktieren.

Was, wenn ihr alles zu viel wird? Auf Papa aufpassen, arbeiten, den Haushalt schmeissen, sich um uns kümmern. Bei einigen Dingen können wir Kinder ihr gut unter die Arme greifen, aber längst nicht bei allem.

Es tut mir auch so leid für sie, das mit Papa. Ich kann mich noch an ein paar Momente mit meinem gesunden Papa erinnern. Aber oft merke ich, dass ich mich überhaupt nicht mehr richtig an sein ganzes Wesen erinnern kann. Meinen Brüdern geht es, glaube ich, ähnlich. Aber Mama nicht. Sie kann sich erinnern. Mama hat fast ihr ganzes Leben mit ihm verbracht.

Sie war 17 Jahre alt, als die beiden ein Paar wurden. Und gekannt haben sie sich schon lange vorher. Sie muss unzählige Erinnerungen an ihn haben. Wie schlimm das für Mama sein muss, kann und will ich mir gar nicht vorstellen. Nach so vielen Jahren hat sie ihren Lebensgefährten einfach – zack – verloren. Nur den Körper hat sie noch. Dass sie noch uns Kinder hat, hilft Mama bestimmt. Aber wir können Papa auch nicht vollständig ersetzen.

Und dann kommt noch der Stress dazu. Die Arbeit, die gemacht werden muss, und für Papa zu sorgen, was auch wieder administrative Arbeiten mit sich bringt.

Mama meistert das alles bewundernswert und macht auch nicht den Eindruck, dass sie gleich zusammenbricht. Trotzdem mache ich mir Sorgen. Und das ist fast so belastend wie die Krankheit von Papa. Ich glaube, Papa bekommt nicht mehr viel mit. Für ihn ist es wohl angenehmer als für uns. Deshalb ist es fast schwerer daran zu denken, wie es Mama wohl damit geht, als an Papa zu denken.

Okay, das war jetzt mal ein bisschen ein traurigeres Kapitel. Aber ich finde, es musste hier hin, weil das macht die FTD und auch andere Demenzarten erst so richtig dumm.

Durch das Verlieren der Person und das Erhaltenbleiben des Körpers wird es umso schwerer für die Angehörigen. Das macht für mich die Krankheit aus.

Oft fühle ich mich auch hilflos, weil ich Mama nicht richtig helfen kann. Als Kind ist man angehörig und voll drin in der Krankheit des Elternteils. Aber wenn es um den Verlust für den anderen Elternteil geht, bin ich eine Aussenstehende. Ich kann für Mama da sein, aber etwas dagegen tun kann ich nicht.

Wie geht’s meinen Brüdern damit?

Mein jüngerer älterer Bruder wohnt zu Hause und macht gerade ein Jahr lang Zivildienst. Er macht Breakdance und trainiert sehr oft. Ihm geht es mehr oder weniger gut mit der Situation. Er hat sich an die Krankheit von Papa gewöhnt. Wenn er allerdings nach Hause kommt und ihm einfällt, dass Papa ja auch noch da ist, nervt ihn das manchmal. Das kann ich gut verstehen, mir geht es genauso.

Für ihn war es am anstrengendsten, als Papa aufgehört hat, Auto zu fahren, und man immer aufpassen musste, dass er nicht ausbüxte. Oder wenn man ihn irgendwo angetroffen hat und mit nach Hause nehmen musste. Mein Bruder muss ab und zu auf Papa aufpassen. Unter der Woche, wenn Mama weg ist. Das stört ihn nicht. Es ist auch okay für ihn, wenn er Papa die Windeln wechseln oder ihm den Po abwischen muss. Das ist etwas, das ich nicht kann. Es ekelt mich einfach zu sehr.

Mit Freunden redet mein Bruder selten über Papa. Zum einen, weil es seinen Freunden unangenehm ist, und zum anderen, weil es ihm reicht, mit der Familie darüber zu reden. Mit uns darüber zu reden ist ihm wichtig.

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Im Alltag denkt er nicht oft an unseren gesunden Papa. Eigentlich nur, wenn wir mal darüber reden, wie Papa war. Da bin ich anders. Ich erinnere mich oft an Papa. Auch wenn da nicht mehr viel ist.

Meinem älteren Bruder, der in Zürich wohnt und an der ETH studiert, geht es erstaunlich gut mit der Situation. Er muss aber auch selten auf Papa aufpassen. Einerseits, weil er nicht mehr zu Hause wohnt, und andererseits, weil Mama uns den Rücken so toll freihält, was Papa angeht. Darüber ist er sehr froh.

Wenn er dann wieder nach Hause kommt, hat er keine Schwierigkeiten, sich an Papa zu gewöhnen. Es fallen ihm auch keine grösseren Veränderungen auf. Das ist wahrscheinlich, weil Papas Zustand schon ziemlich lange stabil ist. Früher durchlief er eine Phase nach der anderen, wurde immer wieder anders. Das ist jetzt nicht mehr so.

Schwierig war, als Papa noch mitbekommen hat, wenn man ihn als Sohn oder Tochter bevormundet hat.

Das war nötig, aber sehr unangenehm. Wenn Papa zum Beispiel um 20 Uhr glaubte, er müsse seine jugendlichen Kinder jetzt ins Bett schicken. Wir blieben natürlich auf, fühlten uns aber doof, weil wir ihm nicht gehorchten.

Über Papa zu reden ist für meinen ältesten Bruder nicht so wichtig. Er hat nicht das Bedürfnis dazu, vor allem nicht bei seinen Freunden. Ihm kommt es oft so vor, als ob seine Freunde die Situation für viel belastender hielten als er selbst.

Wenn er Papa beobachtet, denkt mein Bruder selten daran, wie er früher war. Eigentlich denkt er nur daran, wenn er aktiv versucht, sich zu erinnern. Er findet, er kann sich an nicht mehr so vieles erinnern. Ihm fallen einige Momente mit Papa ein, aber trotzdem weiss er nicht mehr so wirklich, wie Papa als gesunder Mensch war.

Lenas Brüder erinnern sich kaum noch daran, wie ihr Vater als gesunder Mensch war.privat

Mir geht es ähnlich wie meinen Brüdern. Aber ich rede öfter mit meinen Freunden über Papa. Meistens mit viel Humor. Auch ich finde es nicht so belastend, wie man denken würde, vor allem im Alltag. Es ist so, wie es ist. Weil ich nichts dagegen tun kann, habe ich mich damit abgefunden.

Ab und zu nervt es mich, dass man Papa nicht alleinlassen kann und wir deswegen eingeschränkt sind. Und manchmal bin ich traurig und sehne mich nach meinem alten Papa, auch wenn ich mich auch nicht mehr wirklich an ihn erinnern kann.

Stimmungskiller des Jahres

Ich habe selten das Bedürfnis, ernsthaft über die Krankheit meines Vaters zu reden. Das kommt daher, dass es für mich eine abgeschlossene Sache ist. Ich muss es akzeptieren und das tue ich, so gut es geht. Nur manchmal erzähle ich.

Ich weiss nicht, was ich davon habe, wenn ich Ahnungslosen von meinem Papa erzähle und sie es nicht richtig verstehen. Aber es tut zwischendurch einfach gut, so einmal im Monat. Ob es mir dabei um Mitleid, Aufmerksamkeit oder Bewunderung geht, kann ich nicht sagen, es könnte alles sein.

Meine Kindergartenfreundin treffe ich immer noch sehr regelmässig. Wir kennen uns schon lange und sind so eng befreundet, dass es überhaupt kein Ding für sie ist, mit mir über Papa zu reden. Wenn wir uns sehen, sind wir meistens nur zu zweit. In diesem Rahmen ist es sehr leicht und angenehm, über ernstere Dinge zu sprechen.

Meine engsten Freundinnen an meiner Schule, fünf wunderbare Mädchen, kennen mich mittlerweile sehr gut und wissen alles über mich. Mit ihnen kann ich auch gut reden. Wir sind aber eigentlich immer in einer Gruppe unterwegs.

Wenn man in einer Gruppe unterwegs ist, kann man mit einer Demenz-Bemerkung schnell mal die Stimmung killen.

Anfangs wurden meine Freundinnen verlegen, wenn ich einen Kommentar bezüglich meines Vaters machte. Sie nahmen es mir nie übel oder so, aber sie wussten nicht, was sie sagen sollen. Das verstehe ich auch, das würde mir genauso gehen.

Mit der Zeit wurden sie aber entspannter und gewöhnten sich an meine Kommentare. Sie merkten, dass man Witze machen darf und dass ich auch selbst viele Witze darüber mache. Jetzt killen meine Kommentare eigentlich fast nie mehr die Stimmung. Alle lachen nur und sagen ironisch, ich solle aufhören, Witze zu reissen, weil sie sich schlecht fühlten, wenn sie lachen müssten.

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Ich mache die Erfahrung, dass viele Menschen nicht nachvollziehen können, wie es ist, wenn ein Elternteil eine Frontotemporale Demenz hat. Wie sollten sie auch?

Sowas muss man erlebt haben, um es zu verstehen.

Ich habe aber die Möglichkeit, mit meinen Brüdern darüber zu reden, und die wissen dann, wovon ich spreche. Für Jugendliche, die diese Möglichkeit nicht haben, stelle ich es mir hart vor, wenn man niemanden im selben Alter hat, der einen versteht.

Falls euch das so geht: 1. Schön, dass ihr diesen Text meiner Wenigkeit gelesen habt! Ich hoffe, er hilft euch, und 2. Ihr wisst ja, wie ihr mich erreichen könnt: lss.lena03[at]gmail.com

(Fortsetzung folgt.)

Lesen Sie hier Teil 4

Papa hat Demenz (4)

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Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.