«Wir wollen Mut machen» - demenzjournal.com

Das Leben meistern

«Wir wollen Mut machen»

Peter Wißmann und Christina Pletzer

Haben viele Jahre Erfahrung in der Begleitung von Menschen mit Demenz: Peter Wißmann und Christina Pletzer PD

Scham, Bevormundung, Angst, Ungeduld: Die meisten Probleme, die im Zusammenhang mit einer Demenz auftauchen, haben mit der Krankheit selber wenig zu tun. Peter Wißmann und Christina Pletzer zeigen in ihrem Ratgeber auf, wie ein Leben mit Demenz gelingen kann.

alzheimer.ch: Im Titel Ihres Buches setzen Sie den Begriff «Demenz» in Anführungs- und Schlusszeichen und erweitern ihn durch «& Co.» Warum haben Sie das Feld erweitert?

Peter Wißmann: Wir wollen wegkommen von der Fixierung auf die Diagnose. Es gibt viele Menschen, die keine Diagnose haben und vielleicht nie eine haben werden, die aber trotzdem Symptome haben. Weil die Problematik auch bei ihnen da ist, wollen wir den Kreis ausweiten. 

Christina Pletzer: In unserer Praxis haben wir erfahren, dass die Problematik oft wenig mit der Diagnose Demenz oder mit Gedächtnisproblemen zu tun hat, sondern dass sie mehr auf der Beziehungsebene stattfindet. Zum Beispiel kann ein Angehöriger ungeduldig sein. Die Demenz verstärkt in der Beziehung etwas, was schon vorher da gewesen ist, und da sind beide Partner gefordert. Zu solchen Fragen und Problemen haben wir viele praktische Beispiele herausgepickt.


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Auch auf alzheimer.ch arbeiten wir gerne mit Fallbeispielen, weil sie anschaulich sind. Und sie verbinden die sachliche mit der emotionalen Ebene …

Christina Pletzer: Es sind alles reale Geschichten, nichts ist erfunden. Das macht das Buch lebendig, weil es aus dem Leben gegriffen ist. Wir greifen auf unsere persönlichen Erfahrungen der letzten 15 Jahre zurück. Manche Probleme der Betroffenen und Angehörigen sind in meiner psychologischen Praxis zentrale Themen.

In Ihrer langjährigen Praxis hatten Sie mit sehr vielen Menschen, Fragen und Problemen zu tun. Wie sind Sie bei der Auswahl der Fallbeispiele vorgegangen?

Peter Wißmann: Wir wollen nicht nur die strahlenden Helden zeigen, die in einer bestimmten Situation gut reagieren und Probleme lösen können. Es gibt auch Beispiele, wo die Kommunikation nicht funktioniert und die Sache keinen guten Weg nimmt. Das wichtigste Kriterium war schlichtweg, dass es charakteristische Beispiele sind, die wir in unserer Praxis mindestens zehn Mal oder mehr erlebt haben.

Welche Themen kommen in der Praxis immer wieder?

Christina Pletzer: Gestern in der Angehörigengruppe war es einmal mehr das Thema «Scham». Alle hatten Situationen erlebt, in denen sie sich geschämt haben.

Ein sehr zentrales Thema, das viel nach sich zieht. Die Betroffenen und ihre Angehörigen ziehen sich aus Scham vor Fehlleistungen zurück. Dann fehlen die sozialen Kontakte, es wird keine Hilfe angenommen, die Krankheit schreitet schneller voran und die Überforderung wächst …

Christina Pletzer: Trotzdem sollte ich als Psychologin die Betroffenen nicht zu Veränderungen drängen und auf keinen Fall Zwang ausüben. Aber ich weise sie immer wieder auf die Vorteile eines offenen Umgangs hin. Wir setzen Impulse, indem wir zum Beispiel über die positive Wirkung von Hobbys, Spielen oder Gesprächen reden. So versuchen wir die Schwelle nach draussen zu vermindern. 

Peter Wißmann: Ich war vorletzte Woche mit Beni Steinauer und Rolf Könemann unterwegs. Ihr offener Umgang mit der Krankheit beeindruckt sehr viele Betroffene, Angehörige und Experten. Beni stellt sich hin, schämt sich für nichts und erzählt drauf los. Das hat nicht immer den sofort überspringenden Effekt. Aber es bewirkt ganz oft, dass die Leute nachdenken. Was, was würde denn passieren, wenn?

Wovor hast du Angst, wenn du jemanden triffst und seinen Namen nicht mehr weisst? Was ist daran so tragisch? Ich denke, es besteht die Chance, dass sich da etwas relativiert. Ob es das aber wirklich tut, ist nicht gesagt. Es gibt keine Rezepte.

Zu den Personen

Peter Wißmann ist Sozialpädagoge, Leiter von Team Wachstum ab der Lebensmitte (Team WaL), Buchautor und ehemaliger Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter von Demenz Support Stuttgart.
Christina Pletzer ist Klinische und Gesundheitspsychologin, Leiterin von Team WaL, Beraterin, psychologische Begleiterin und Gedächtnistrainerin.

Gibt es weitere Themen, die immer wieder kommen?

Peter Wißmann: Die schleichende Veränderung in der Binnen-Beziehung – da kann es um Überfürsorge, Ängstlichkeit oder Bevormundung gehen. Vieles davon läuft unbewusst, niemand tut es aus bösem Willen. Das ist, so glaube ich, ein sehr wichtiger Punkt: Ich will meine Mama schützen, meinen Bruder oder meine Partnerin.

Aber diese Haltung kann die Lebensqualität einschränken: Der Mensch kann nicht mehr die Dinge tun, die er tun will, und verzweifelt. Es löst eine Abwärtsspirale mit schlimmen Gefühlen aus. In unserem Buch sensibilisieren wir auf solche Vorgänge. Nicht dass wir sagen: «Hey, lieber Angehöriger, jetzt guck nicht mehr nach deinem Betroffenen!» Wir sagen: «Ihr habt beide berechtigte Interessen.» Der Betroffene will sich weiter bewegen und unter Anerkennung seiner Defizite viele schöne Dinge tun.

Und der Angehörige will keine Angst davor haben, dass dem Betroffenen etwas zustösst. Beides sind berechtigte Interessen, die ein Stück weit gegensätzlich sind. Da hilft nur, dass man sich gegenseitig klar macht, was dies für einen bedeutet und wie man Kompromisse schliessen kann.

Christina Pletzer: Es geht in unserem Buch mehr um die Auseinandersetzung mit der Thematik als um die Diagnose. Wenn der Betroffene seine Gedächtnis-Probleme benennt, kann man damit arbeiten und aktiv an Lösungen herangehen. In diesem Fall beginnt der gemeinsame Prozess der Auseinandersetzung früher, als wenn es lange nur um die Diagnose geht.

Peter Wißmann: Wir sagen nicht, so oder so ist es richtig. Wir sagen: «Du musst das entscheiden, wäge bitte deine Argumente, deine Bedürfnisse, dein Pro und Contra ab. Wenn du das willst, ist das für dich korrekt. Du musst deinen passenden Weg finden und der kann A, B oder C heissen. Wir geben da nichts vor.

Die allermeisten Experten empfehlen eindringlich eine Abklärung und Diagnose nach dem Auftreten der ersten Symptome. Jetzt kommen Sie und sagen: «Die Diagnose ist nicht so wichtig.» Weshalb?

Christina Pletzer: Das ist etwas überspitzt formuliert. Ich habe ein Jahr lang in der Gedächtnisambulanz gearbeitet. Deswegen traue ich mich zu sagen: Die Behandlung beginnt beim Neurologen, aber die Frage ist, welche Behandlung gibt es dort konkret?

Wenn man es herunterbricht bekommt man nach der Diagnose eventuell Medikamente, vielleicht noch ein paar Info-Broschüren.

Das ist kein Vorwurf an die Gedächtnis Ambulanzen, weil dort die Zeit fehlt. Die eigentliche Behandlung ist aber die Auseinandersetzung mit den Problemen im Alltag. Die Faktoren Bewegung, Gedächtnisprobleme im Alltag, sinnerfülltes Leben, Beziehung, Essen usw. werden zwar beim Arzt angesprochen, aber es fehlt die Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Warum nehmen wir so wenige Frühbetroffene wahr? Weil die meisten von ihnen sagen: «Mit der Demenz will ich nichts zu tun haben.»

Interview

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An Ihrem Buch haben viele Betroffene mitgewirkt… 

Peter Wißmann: Wir haben diesen Ratgeber mit erheblicher Expert:innen-Power von Betroffenen und Angehörigen entwickelt. Er ist aus vielen Diskussionen, Gesprächen und Statements entstanden. Christina und ich sind seit vielen Jahren in der direkten Kooperation mit Betroffenen. Das hat uns Welten eröffnet. Ich erlebte, dass Bilder korrigiert werden müssen.

Betroffene und Angehörige sagten uns, sie würden Ratgeber lesen, die ihre Fragen nicht beantworten oder grosse Verwirrung hinterlassen. Diese Erkenntnisse wollten wir in dieses Buch bringen. Es heisst immer: «Geh zum Profi, geh zum Profi!» Wir wissen von den Betroffenen, dass ihnen vor allem der Kontakt zu anderen Betroffenen geholfen hat.

Die jüngere Geschichte der Demenz-Bewegung kann man in drei Etappen unterteilen: Zuerst interessierte sich niemand für Demenz, es gab praktisch keine Fachleute, keine Literatur und keine Organisationen. Die zweite Phase begann in den 1980er-Jahren: Damals nahmen sich Organisationen, Wissenschaftler und Experten dem Thema an. Die waren dann oben, und die Angehörigen und Betroffenen hatten ihnen ehrfürchtig zuzuhören. Als dritte Phase etablierte sich im letzten Jahrzehnt ein Austausch auf Augenhöhe zwischen Experten, Betroffenen und Angehörigen. Sie helfen jetzt mit, die vierte Phase einzuläuten: Betroffene und Angehörige sagen, was es braucht und was es nicht braucht. Wie können wir diese positive Entwicklung weiter fördern?

Christina Pletzer: Den wichtigsten Punkt sehe ich in den Selbsthilfegruppen für betroffene Menschen. Aus diesen Gruppen heraus wächst die Empowerment-Bewegung. Dann gibt es nicht mehr nur eine Handvoll Demenz-Aktivisten, die gut reden können und auf der Bühne stehen, sondern viele Gruppen.

Diese setzen sich mit verschiedenen Themen auseinander und trauen sich, politisch aktiv zu werden. Wir versuchen im deutschsprachigen Raum, diese Gruppen zu unterstützen und zusammenzuhalten. Wir unterstützen Betroffene dabei, selber solche Gruppen zu initiieren. 

demenzwiki

Selbsthilfe

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Peter Wißmann: Ich schlage eine Art Guerilla-Strategie vor. Wir sind uns ja einig, was wir brauchen. Wenn Betroffene aktiv an Veranstaltungen dabei sind, verändert dies immer die Stimmung, das Verhalten und die Aufmerksamkeit. In unserem Buch kommt auch Silke Reiß-Naumann zu Wort. Sie machte etwas ganz Tolles: Sie besuchte einen Kurs für Alltagsbegleiter:innen, wo die Leute geschult werden, wie sie mit den sogenannten Demenzkranken umgehen sollen.

Nach einigen Lektionen stand sie auf und sagte: «Sagt mal, was ist denn hier Tango? Ich lebe seit fast 20 Jahren mit der Diagnose Frontotemporale Demenz. Welches Bild vermittelt ihr hier? Ihr tut ja so, als ob wir alle nackt auf der Strasse herumlaufen und Leute belästigen würden.»

Danach war die Dozentin verunsichert. Nach dem ersten Schock sagte sie: «Okay, wir machen das so: Ich erzähle das, was ich weiss, und du ergänzt es aus deiner Perspektive.» Ich finde, alle Profis sollten sich Gedanken machen zur Partizipation von Betroffenen – ob sie eine Veranstaltung, ein Seminar oder eine Publikation planen.

Wir müssen auch wegkommen von den grossen Veranstaltungen. Wir müssen es runterbrechen auf die kleinere Ebene und eine Art Schneeballsystem zum Laufen bringen. Wir wollen den Leuten Mut machen. 

Christina Pletzer: Ältere Menschen haben oft grossen Respekt vor Ärzten oder Neurologen und würden ihnen niemals widersprechen. Aber es ist wichtig, die Betroffenen zum Widerspruch zu ermutigen. Wenn ihnen ein Arzt nicht weiterhilft, sollen sie zu einem anderen gehen. Und wenn die Beratung bei der Beratungsstelle XY schlecht ist, sollen sie weitersuchen, bis sie jemanden haben, der ihnen auf Augenhöhe begegnet.  

Peter Wißmann: Die Profis werden ja dafür bezahlt, Betroffene zu unterstützen. Die Betroffenen können sie im positiven Sinn zu Verbündeten machen. Die Profis wollen ja Gutes tun, wissen aber vielleicht nicht, was es braucht. Wir sollten die Betroffenen ein bisschen dazu anstacheln, mündig zu sein und etwas zu fordern – ob beim Arzt, bei der Sozialarbeiterin oder auf den Beratungsstellen. 

Das Leben meistern mit Vergesslichkeit, «Demenz» & Co.

Der Ratgeber von Peter Wißmann und Christina Pletzer richtet sich an an Menschen mit Vergesslichkeit & Co. oder mit einer «Demenzdiagnose» (Frühbetroffene) und an zugehörige Personen. Er informiert, regt vor allem aber zur Selbstreflexion und zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit der gegebenen Situation an. Denn nur als Team kann es gelingen, sie positiv zu gestalten. Er stärkt das Selbstbewusstsein und die Selbsthilfekräfte der betroffenen Menschen und ihrer Zugehörigen. 

Der Ratgeber bietet zudem eine digitale Wissensschatzkammer mit vertiefenden Informationstexten und hilfreichen Arbeitsblättern sowie die Möglichkeit, an Videotreffen teilnehmen, um sich mit anderen (betroffenen) Menschen auszutauschen und sein Wissen zu erweitern. Er bietet zudem Profis ein praxistaugliches Instrument für die Beratungs- und Unterstützungsarbeit.

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