Ich trauere, obwohl er noch lebt - demenzjournal.com

Das Tagebuch (75)

Ich trauere, obwohl er noch lebt

«Der Tränentank ist geleert. Doch ich spüre, dass ich dringend Hilfe brauche, um mit der Situation besser umgehen zu können. Gespräche mit einem Menschen, der sich auskennt mit Angehörigen von an Demenz erkrankten Menschen.» U.Kehrli

Es ist nicht Schuld, die Frau Kehrli bedrückt. Es ist dieser Schmerz der Hilflosigkeit, dieses Ohnmachtsgefühl. Es sind diese Qualen, dem Zerfall zuschauen zu müssen. Und ihr geliebter Paul mittendrin. Sie beschliesst, für sich selbst Hilfe zu holen.

27. April 2013 – Ich erforsche die Gründe

Seit sechs Uhr bin ich wach. Wozu mich im Bett herumwälzen und den Sorgengeistern zuhören? Nach dem Frühstück will ich lieber meinen Klubsessel geniessen, meine stille Zeit. «Kindlein, habt Ihr nichts zu essen?» Meine Bibellese heute. Im griechischen Urtext wird das Kinder in der Niedlichkeitsform geschrieben.

Mein Hunger ist vielfältig. Muss erst wieder meine Tränen abfliessen lassen. Ich schreibe nieder, was mich bedrückt, es will mich in den letzten Tagen schier zerreissen. Es ist nicht zum Aushalten, ich weiss mir nicht mehr zu helfen.

DAS TAGEBUCH

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Acht Uhr. Überwinden. Einkaufen. Mit dem Auto, habe keine Kraft fürs Lasten schleppen. Wie gerädert bin ich heute aufgestanden – war es die eine Stunde Gartenarbeit gestern? Blühenden Löwenzahn der Mauer entlang ausstechen. Mag er noch so schön sein, wenn er sich überall im Garten ausbreitet, ist es eine Qual, ihn wieder loszuwerden.

Zur Post. Geld holen, Andy und Simon kommen, trotz Regen. Das Tor und die Stellwand sollen heute aufgerichtet werden. Ein Problem weniger für mich, endlich können auch die restlichen Sträucher eingepflanzt werden. Die Wand und das Tor geben mir ein Sicherheitsgefühl, einen gewissen Schutz, nicht nur gegen Lärm und Blicke. Ich fühle mich geborgen.

Ich lese meine Notizen im Gebetstagebuch: Trauern (Definition) Tiefstes Leid im Herzen, schmerzend, zerreissend.

Ich erforsche die Gründe meiner Trauer:

Weil ich Paul vor zwei Jahren «abgeben» musste, einsperrte, wegsperrte, ihm seine Freiheit raubte.

Weil er seither sein Zuhause, seinen Garten nie mehr gesehen hat und mein Versuch letzten Mittwoch fehlgeschlagen war, ihn hierher zum Essen einzuladen.

Etwas im Heim hatte ihn verärgert (wohl der Versuch, seine Beine einzubinden. Er trug ja Shorts!) – und dann wollte er plötzlich nicht mehr mit mir kommen. Er sagte noch: Nein, danach muss ich ja wieder … Hat er die Zusammenhänge wirklich verstanden? Hat er erfasst, dass es bloss ein Besuch gewesen wäre und er dann wieder hätte zurück müssen? Wollte er deshalb lieber gleich im Heim bleiben?

Weil ich noch immer Pauls verzweifelten Schrei Ursulaaaa!! höre, als ihn der Rausschmeisser-Typ im Pflegeheim L. mit Gewalt überwand und in einem Ringkampf aufs Bett warf, um ihn anschliessend ruhigzustellen. Ich ging damals hilflos, verzweifelt, weinend weg, durch die Ruhelosigkeit von Paul war ich selbst am Ende.

Weil Paul dort an den Rollstuhl angebunden wurde bis zur totalen Teilnahmslosigkeit und abgemagert, in nassen Windeln sitzend, fiebrig krank war. Weil ich dies nicht verhindern konnte. Als hätte ich Schuld, ihm dies angetan zu haben – mit der falschen Wahl des Pflegeheims.

Weil ich beim Abschiednehmen im Pflegeheim höre, wie er mit der Faust verzweifelt an die Aufzugstür poltert und nach mir schreit. Und ich dennoch weggehen muss.

Weil ich jedes Mal nach dem Besuchen im Heim sagen muss: Paul, du bleibst da. Ich komme wieder. Mit diesem elenden Gefühl fahre ich nach Hause.

Weil er mir fast jedes Mal Vorwürfe macht, wir gehören doch zusammen. Das tut weh.

Weil ich mit meiner Unterschrift über sein Schicksal verfügte: «Lebenslänglich eingesperrt». Waldau nennt er diesen Ort. Wo es Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, wo es Rollstühle und Rollatoren hat, «Spinner». Genau an einem solchen Ort, den er stets gemieden hat, ist er nun. Mit Behinderten konnte er nie umgehen.

Interview mit Ursula Kehrli

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Weil ich nun allein bin, mit all den vielen Arbeiten, die ich als alte Frau nicht mehr bewältigen kann, beim besten Willen reichen meine Kräfte dazu nicht mehr aus.

Weil ich für all diese Arbeiten um Hilfe betteln muss, bitten, und dann auch dafür bezahle. Das Bezahlen ist nicht so schlimm, aber das Versprechen zu helfen, das Enttäuschtwerden, das immer wieder Nachsicht und Geduld üben Müssen. Und ich möchte doch endlich einfach Ruhe, möchte den Garten geniessen, statt auf Trümmerberge des Zerfalls blicken zu müssen.

Das Schlimmste: Weil ich grosse Sehnsucht nach Paul habe. Er fehlt mir immer mehr. Er ist da und doch nicht mehr da. Ich spreche zu ihm und er versteht mich nicht. Er schüttet mir sein Herz aus, klagt und jammert und ich verstehe ihn nicht.

Er schreibt mir Briefe, hofft, ich würde es begreifen, und ist wütend, dass ich es nicht entziffern kann. Als ob er Chinesisch spräche. Manchmal kann ich es übers Herz verstehen. Spurensuche.

Weil es viele Wechsel beim Pflegepersonal gab und die Lücken noch nicht gefüllt sind. Die vielen Neuen verstehen Paul nicht. Vielleicht noch nicht, hoffe ich wenigstens. Feingefühl ist gefragt, mit dem Herzen verstehen. Wie oft hat mir eine einfühlsame Pflegerin auf die Sprünge geholfen, was Paul gerade beschäftigt.

Wir waren ein Team. Heute fehlt diese Kommunikation. So wird das Verstehen schwieriger, Paul ist aggressiver. Oft packt er seine Sachen zusammen, gibt mir zu verstehen, dass er weg möchte. Und ich sage: Paul, du bleibst da.

Lichtblick und Aufsteller, ich telefoniere mit Monika, meiner Garten-Tochter, meinem Sonnenschein. Freue mich über ihre Kreativität, ihre Hilfe, aus meinem Unkraut einen Garten Eden zu gestalten.

Nun geht es mir besser, der Tränentank ist geleert. Doch ich spüre, dass ich dringend Hilfe brauche, um mit der Situation besser umgehen zu können. Gespräche mit einem Menschen, der sich auskennt mit Angehörigen von an Demenz erkrankten Menschen.

Nun habe ich auch wieder ein pflanzliches Mittel gegen Depressionen eingenommen. Zum Glück erkenne ich die ersten Anzeichen, bevor es zu spät ist. Aus Erfahrung weiss ich, dass es viel schwieriger ist, nach einem Zusammenbruch wieder aus dem Loch zu kriechen. Es hilft ja keiner dabei, man muss sich selbst aufrappeln. Also lieber nicht noch weiter hineinschlittern.

28. April 2013 – Merde alors!

Anni ruft an. Ihr Mann ist auch in Pauls Wohngruppe. Wir sehen uns regelmässig bei unseren Besuchen im Heim. Wir verstehen uns fast ohne Worte. Sie bemerkt, dass ich am Limit laufe. Sie ist besorgt um mich.

Wann warst du das letzte Mal in den Ferien? Sie bringt’s auf den Punkt. Wie immer. Du musst unbedingt mal wieder ausspannen.

Wie viel Zeit darf ich mir nehmen, muss ich mir nehmen? Letzte Woche habe sie sich zwei Tage nacheinander eine Auszeit gegönnt. Es gehe ihr dadurch wieder so viel besser. Und ihr Hans wisse bereits nach einer Stunde nicht mehr, dass sie bei ihm war. Das tut einerseits weh, befreit aber von «Ich sollte doch»-Besuchen.

Mit Paul ist es schwieriger. Er wartet sehnsüchtig auf meinen Besuch. Strahlt meistens, wenn er mich sieht: Oh, Buseli, schön …, oder ähnlich. Den Tränen nahe drückt er mich fest an sich. Und beim Abschied – das ist mein Hauptschmerz und purer Stress, die Frage: Warum gehst Du, wir gehören doch zusammen … und er kämpft mit den Tränen.

Manchmal mag er sich nicht mal verabschieden. Zu traurig und enttäuscht ist er, dass ich ihn verlasse. Anklage. Stumme Vorwürfe, ich bin die Einzige, die ihm helfen könnte, da raus zu kommen. Doch ich tu es nicht. Kann es ja nicht tun. Bin darüber selbst verzweifelt, er spricht genau meine eigene Not an, die Trennung verwünschend, die Krankheit, diese Mauer des Nichtverstehens.

Das Tagebuch (73)

Gedanken über die Liebe

Statt auszuspannen gehe ich heute zu Paul. An meinem sogenannten Frei-tag. Erbarmen nennt sich der Antrieb, Barmherzigkeit üben, Mit-leiden. Sehn-sucht. Ja, richtig. Sucht. … weiterlesen

Merde alors! hörte ich Philipp laut schreien, vor zwei Jahren. Wie treffend! Damals konnte er noch ein paar Schritte gehen, schlug manchmal vor Verzweiflung um sich, weil er nicht sprechen konnte.

Heute liegt er meistens im Bett, im Gang bei den andern, schaut mit grossen Augen allen Vorübergehenden nach. Er ist noch nicht 60. An Weihnachten hat er herzzerbrechend geweint, als seine Frau etwas von weisst du noch erwähnte. Er hat verstanden. Wer weint, hat verstanden.

Paul möchte stets arbeiten. Doch es fehlt ihm die Werkstatt, es fehlt Material. Etliches liegt zwar in der Schublade, aber das Holzkistchen mit Laubsäge, Bohrer, Feilen und Schraubzwingen ist verschwunden. Unübersichtlich, mit so vielen neuen Pflegenden.

Niemand weiss, wer was wohin gebracht hat. Nachfragen bringt auch nichts. Ab und zu kann Felice ihm weiterhelfen, eine Betreuerin mit viel Einfühlungsvermögen. Dann ist Paul zufrieden, dankbar, dass er werken kann.

Da liegt das Gartenheft, das er immer wieder durchblättert und das in ihm wohl Sehnsüchte wach ruft. Erinnerungen an seinen Garten, das Gemüse, die vielen Blumen, seine grosse Leidenschaft.

Mit Klebstreifen hat er Seite um Seite verklebt, er erklärt mir alles und ich verstehe nichts. Da liegt auch die Schachtel, von den Pflegerinnen als «Aktivierungs-Box» gedacht, die ihn immer wieder aufregt, und ich weiss nicht, was er möchte.

Von der Spitex-Frau habe ich die Adresse einer Psychologin erhalten. Ja, ich brauche die Hilfe einer Fachperson. Hätte dies schon längst nötig gehabt. Ich kann nicht immer die Tapfere spielen.

Dieser immense Druck auf meinem Herzen, diese Trauer, die muss ich einfach mal angehen. Nein, es nicht Schuld, die mich bedrückt. Es ist dieser Schmerz der Hilflosigkeit, dieses Ohnmachtsgefühl. Es sind diese Qualen, dem Zerfall zuschauen zu müssen. Und mein Paul mittendrin.

Diese Menschen sind nur noch ein Schatten ihrer selbst. Stundenlang in einer Fruchtschale herumstochernd, Zahlen wahllos ausrufend, mit einem Löffel auf den Tisch klappernd, Papierfetzen in den zahnlosen Mund stopfend.

Andere schlurfen vornübergebeugt im Gang herum. Wie mir doch vor diesem Ort graut, und ich muss Paul dort zurücklassen. Mein Paul, mein Mann, der fürsorgliche «Pappeli», wie er sich selbst gern bezeichnete, er gehört doch nicht hierher! Er ist doch nicht «so». Noch nicht so schlimm. Er verdiente doch eine andere Umgebung.

Dann verlieren sich meine Gedanken in einer heile-Welt-Wunschkiste. Sehe ihn tagsüber wieder hier zu Hause, höchstens die Nacht über «dort», nur zur Sicherheit. Damit ich schlafen kann. Es sollte doch etwas Schöneres, Besseres für ihn geben, etwas Würdigeres.

Ein gerechterer Umgang mit ihm, mehr Zuwendung, Hilfe, ihn werken lassen, sich mehr mit ihm beschäftigen. Er sollte es doch schön haben. Nicht «Waldau», wie er es oft bezeichnet. Das ist mein grosser Schmerz. Und es ist eben Utopia. Das Land der Unmöglichkeit, in das ich mich verirre. (Fortsetzung folgt …)