27. April 2013 – Ich erforsche die Gründe
Seit sechs Uhr bin ich wach. Wozu mich im Bett herumwälzen und den Sorgengeistern zuhören? Nach dem Frühstück will ich lieber meinen Klubsessel geniessen, meine stille Zeit. «Kindlein, habt Ihr nichts zu essen?» Meine Bibellese heute. Im griechischen Urtext wird das Kinder in der Niedlichkeitsform geschrieben.
Mein Hunger ist vielfältig. Muss erst wieder meine Tränen abfliessen lassen. Ich schreibe nieder, was mich bedrückt, es will mich in den letzten Tagen schier zerreissen. Es ist nicht zum Aushalten, ich weiss mir nicht mehr zu helfen.
DAS TAGEBUCH
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Acht Uhr. Überwinden. Einkaufen. Mit dem Auto, habe keine Kraft fürs Lasten schleppen. Wie gerädert bin ich heute aufgestanden – war es die eine Stunde Gartenarbeit gestern? Blühenden Löwenzahn der Mauer entlang ausstechen. Mag er noch so schön sein, wenn er sich überall im Garten ausbreitet, ist es eine Qual, ihn wieder loszuwerden.
Zur Post. Geld holen, Andy und Simon kommen, trotz Regen. Das Tor und die Stellwand sollen heute aufgerichtet werden. Ein Problem weniger für mich, endlich können auch die restlichen Sträucher eingepflanzt werden. Die Wand und das Tor geben mir ein Sicherheitsgefühl, einen gewissen Schutz, nicht nur gegen Lärm und Blicke. Ich fühle mich geborgen.
Ich lese meine Notizen im Gebetstagebuch: Trauern (Definition) Tiefstes Leid im Herzen, schmerzend, zerreissend.
Ich erforsche die Gründe meiner Trauer:
Weil ich Paul vor zwei Jahren «abgeben» musste, einsperrte, wegsperrte, ihm seine Freiheit raubte.
Weil er seither sein Zuhause, seinen Garten nie mehr gesehen hat und mein Versuch letzten Mittwoch fehlgeschlagen war, ihn hierher zum Essen einzuladen.
Etwas im Heim hatte ihn verärgert (wohl der Versuch, seine Beine einzubinden. Er trug ja Shorts!) – und dann wollte er plötzlich nicht mehr mit mir kommen. Er sagte noch: Nein, danach muss ich ja wieder … Hat er die Zusammenhänge wirklich verstanden? Hat er erfasst, dass es bloss ein Besuch gewesen wäre und er dann wieder hätte zurück müssen? Wollte er deshalb lieber gleich im Heim bleiben?
Weil ich noch immer Pauls verzweifelten Schrei Ursulaaaa!! höre, als ihn der Rausschmeisser-Typ im Pflegeheim L. mit Gewalt überwand und in einem Ringkampf aufs Bett warf, um ihn anschliessend ruhigzustellen. Ich ging damals hilflos, verzweifelt, weinend weg, durch die Ruhelosigkeit von Paul war ich selbst am Ende.
Weil Paul dort an den Rollstuhl angebunden wurde bis zur totalen Teilnahmslosigkeit und abgemagert, in nassen Windeln sitzend, fiebrig krank war. Weil ich dies nicht verhindern konnte. Als hätte ich Schuld, ihm dies angetan zu haben – mit der falschen Wahl des Pflegeheims.
Weil ich beim Abschiednehmen im Pflegeheim höre, wie er mit der Faust verzweifelt an die Aufzugstür poltert und nach mir schreit. Und ich dennoch weggehen muss.
Weil ich jedes Mal nach dem Besuchen im Heim sagen muss: Paul, du bleibst da. Ich komme wieder. Mit diesem elenden Gefühl fahre ich nach Hause.
Weil er mir fast jedes Mal Vorwürfe macht, wir gehören doch zusammen. Das tut weh.
Weil ich mit meiner Unterschrift über sein Schicksal verfügte: «Lebenslänglich eingesperrt». Waldau nennt er diesen Ort. Wo es Menschen mit Beeinträchtigungen gibt, wo es Rollstühle und Rollatoren hat, «Spinner». Genau an einem solchen Ort, den er stets gemieden hat, ist er nun. Mit Behinderten konnte er nie umgehen.