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Das Tagebuch (88)

Stell einfach keine Fragen

»Die Sehnsucht treibt mich immer wieder zu ihm hin, um schließlich ausgelaugt, enttäuscht, müde und mit einem traurigen Ohnmachtsgefühl und großen Schmerzen heimzukehren. Schmerz beim Hingehen, Schmerz beim Nachhause gehen.« Bild Kehrli

Frau Kehrli kann ihrem Paul nicht helfen. Das ist eine schmerzhafte Erkenntnis. Es ist ihr nicht möglich, ihn zu erreichen, ihm sein Leiden zu lindern. Im Gegenteil, oft beschleicht sie das Gefühl, ihn aus seiner Welt herauszureissen, ihn zu verwirren, wenn sie ihn im Heim besucht.

Ich besuche Paul den fünften Tag in Folge. Ein Muss. Innerlich getrieben, aber auch neugierig, ob das mit dem Schlafen anhält. Seit einer Woche treffe ich ihn entweder sehr schläfrig oder schlafend an. Es belastet mich zusätzlich. Die Verantwortliche für Pauls Pflege arbeitet nur Teilzeit. Abzüglich der Ausbildungstage. Also eigentlich recht wenig, um den Überblick zu behalten und Pauls Vertrauen zu gewinnen.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Ich mag sie sehr. Sie findet auch den Umgang mit Paul gut, doch eben, bis er sich wieder an ihr liebes Gesicht gewöhnt hat, ist sie schon wieder weg. Dann gibt’s wieder Ferienabwesenheit.

Paul scheint zu leiden unter den vielen neuen Gesichtern, er wird »renitent« gegen Pflegende.

Das war früher nicht so. Frau G., verantwortliche Diplomierte am heutigen Tag, begrüßte mich lächelnd. »Ihr Mann ist in Zimmer 308 und schläft dort auf dem Bett.« Auf dem Bett – eine scheinbar belanglose Information, ist aber ein Highlight für mich. Meistens finde ich Paul zusammengekauert in unbequemer Stellung auf einem harten Stuhl oder auf einer Bank.

Kleine Freuden im Pflegeheim

Das Ferienzimmer hat zwei Betten. Da begann alles für Paul in diesem Heim. Zwei Monate war er dort, bevor er sein eigenes Zimmer bekam. Tatsächlich: Zusammengerollt auf dem zweiten Bett liegt Paul. Auf meine Begrüßung hin öffnet er die Augen, strahlt mich an: »Oh, mein Buseli, schön Du da.« Echte Freude. Er legt seinen Arm um mich und zieht mich fest an sich, strahlt mich lieb an, erwidert meinen Kuss innig. Ich setze mich auf die Bettkante, umarme ihn.

Er erzählt mir kummervoll, was ihn bewegt, traurig zwischendurch, ich verstehe kein Wort.

Vielleicht hat er was geträumt oder konnte seinen Frust über ein Alltagsereignis nicht loswerden. Ich suche nach passenden Zwischenbemerkungen.

Nach einer Weile schläft er wieder ein. Ich ziehe die Schuhe aus, steige aufs Bett über seine Füsse und kuschle mich an seine Seite. Meinen Arm lege ich über seinen Bauch, den Kopf schmiege ich an seine Schulter. Er brummt etwas vor sich hin, dann redet und redet er wieder und ich verstehe kein Wort. Aber es tönt zufrieden, der Tonfall ist freundlich. Ich sage »ja« und »schön« und kuschle mich wohlig an seinen Rücken.

Nähe erleben, Wärme spüren, seine Stimme hören. Ein Moment heiler Welt. Trotz des starken Körpergeruchs, milde gesagt. Mühe mit der Körperpflege, Paul weigert sich immer wieder unter die Dusche zu gehen … Ich drehe den Kopf etwas weg. Wir zwei auf einem fremden Bett im Zimmer eines Feriengastes. Mir egal. Die Türe ist bloß angelehnt, ist mir auch egal.

Herr R. kommt in sein Zimmer, ich winke ihm zu, doch etwas verunsichert geht er wieder hinaus. Ich schließe die Augen und ertrage den Schmerz der Wirklichkeit. Einige Minuten heiler Welt müssen mir genügen. Momente der Erfüllung einer großen, ständigen Sehnsucht. Der Schmerz überwiegt. Nach einer halben Stunde steige ich sachte wieder über seine Füße. Paul schläft wieder tief.

Ich lege die Tagesdecke über ihn, verabschiede mich. Er erwidert den Abschiedskuss schläfrig. Es ist kalt draußen, ich versuche das kleine warme Flämmchen in mir nicht erlöschen zu lassen. Es ist so kostbar, schmerzlich kostbar, vielleicht war es ein letztes Mal die Nähe genießen … Mir wird warm – und das im Dezember!

Vom ausgiebigen Spaziergang bin ich etwas aufgeheizt. In einem tollen Tempo ging ich eineinhalb Stunden die Aare entlang. Die Sonne spiegelte sich auf dem ruhig dahinfließenden Fluss, angenehm wärmend. Ich lote meine Grenzen aus, der Ischias-Nerv lässt wieder mal grüßen, dennoch: bewegen, bewegen. Tröstet, stärkt, bringt mich auf andere Gedanken.

Carpe diem! Überwinden lohnt sich

Mittwoch: Schon wieder? Erst am Montag war ich unterwegs, spontan reiste ich nach Saanenmöser. Zu Fuß von Schönried nach Gstaad über tief verschneite Felder, der Weg ist gut präpariert. Wie oft bin ich früher diese Strecke gewandert! Das vertraute Knirschen unter den Schuhen, der kühle Wind um die Ohren. Blick auf Berge die ich mal »bezwungen« habe, Wildhorn, Arpeli, Wildstrubel.

Nach zwei Stunden unterwegs, Zug zurück nach Bern. Einmal mehr hat sich das Überwinden gelohnt! Und nun, heute Mittwoch schon wieder? Carpe diem! Nutze den Tag. Bald schlägt das Wetter wieder um! Ziel: Kandersteg. Wandern der Kander entlang, es ist gar warm genug fürs Mittagessen auf einer Bank. Ich lerne, allein unterwegs zu sein, lerne Fahrpläne studieren, was auch neu für mich ist.

Wo tanke ich Kraft für den Demenzalltag?

Die Psychologin regt an zu überlegen, was ich eigentlich möchte an Weihnachten? Was tut mir gut? Was nährt meine Seele, füllt wieder auf, was die Besuche bei Paul und das Alleinsein an Kraft verzehren? Ja, ich liebe Besinnlichkeit, Ruhe, das Singen mit Gleichgesinnten. Das bedeutet für mich Auffüllen der Seele. Das formelle Zusammensein, verkrampft nach Stimmung suchend, das Verspotten der Weihnachtslieder mit Grölen und Herunterleiern machte mich traurig.

Ich muss nun einmal überlegen, was ich brauche, um weiterhin den Druck in meiner Lebenssituation auszuhalten. Mit Andy und der Familie zusammen zu sein erfreut mich immer. Doch die letzte Weihnachtsfeier machte mich eben auch traurig. Doch vermute ich, die Ursache war wohl eher die Abwesenheit von Paul.

Paul riecht übel und schlägt um sich

Du hörst seit vier Wochen nichts von mir. Nein, ich mochte nicht darüber sprechen. Auch nicht zu Menschen, die mir in den vergangenen Festtage begegnet sind. Ich bin ausgewichen, habe Feste, Zusammenkünfte, Apéros, Weihnachtsessen, Partys gemieden.

Lieber setzte ich mich in den Zug, ging wandern, um den Kopf freizubekommen oder Neues zu entdecken. Zudem bin ich erneut am Umstellen der Wohnung. Ich habe den alten, über 30-jährigen Teppich echt satt in meinem Schlafzimmer. Parkett zum Verlegen ist vorhanden, Andy und Simon helfen, nun muss ich ran.

Frag nicht, wie es Paul geht. Ich mag nicht erinnert werden an die Trostlosigkeit seines Befindens, an die Mühseligkeit der Besuche bei ihm.

Ihn so zu sehen und vom penetranten Geruch von Urin und Unsauberkeit reden, von seinem unrasierten Gesicht, von den fettigen struppigen Haaren, die unter der Mütze hervorschauen. Es liegt nicht an den Pflegenden. Er will nicht duschen, basta. Er will sich die Hose nicht wechseln lassen. Er sträubt sich gegen die Pantys, er wird aggressiv beinahe gegen alle, auch gegen mich.

Neulich schlug er den Stock mit voller Wucht auf den Tisch, es hätte mich treffen können, ich war schockiert. Urin läuft über seine Beine, über die bandagierten Beine in die Schuhe. Den Uringeruch wird man nicht mehr los in seinem Zimmer. Es ist ein Jammer.

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Er nimmt mich wohl wahr, lässt zu, dass ich ihm einen Begrüßungskuss gebe, dann aber wendet er sich ab von mir, beschäftigt sich weiter mit seinen Nüssen und Papiertüchern, blättert in Zeitschriften, nimmt jedes Stäubchen mit dem Finger auf. Hat es neue Nüsse zum Öffnen, freut er sich, ordnet sie generalstabsmäßig in Reihen, füllt sie wieder auf mit Joghurt und Nusssplittern. Wehe, wenn du daran rüttelst, dann ballt er die Faust und schleudert wütende Worte gegen dich.

Es gibt auch angenehme Momente. Sein Strahlen, wenn er mich erblickt, schön, dass du da bist. Doch wann war das? Ich erinnere ich mich kaum mehr daran. Als Andy und Fränzi Paul besuchten, redete er unaufhörlich vor sich hin, nach der Begrüßung nahm er kaum mehr Notiz von ihnen.

Paul schlägt um sich

Neu ist diese Geschwätzigkeit, die keiner versteht und einfach alle nervt. Sogar mich, die ich bloß zwei Stunden zuhöre. Er wird zum Außenseiter. Er ist nicht mehr beliebt wie früher. Er kann sich nicht ausdrücken, wird wütend, dass man ihn nicht versteht, beschimpft die Leute, die ihm im Weg stehen.

Er kann auch zuschlagen. Mich hat er auch erwischt. Dann möchte ich zurückschlagen. Den ganzen Frust über diese Krankheit, die Wut, die Verzweiflung und Ohnmacht loswerden, auf ihn eindreschen.

Als ob man eine Versteinerung aufschlagen müsste, um darin den Menschen wieder zu finden, den man verloren hat. Jedes Mal, wenn ich zu ihm gehe, erhoffe ich eine Spur dieses geliebten Partners zu finden. Sein Körper ist da, ich streichle seine Hände, irgendwo, irgendwie finde ich bestimmt wieder eine Spur von Paul.

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Die Sehnsucht treibt mich immer wieder zu ihm hin, um schließlich ausgelaugt, enttäuscht, müde und mit einem traurigen Ohnmachtsgefühl und großen Schmerzen heimzukehren. Schmerz beim Hingehen, Schmerz beim Nachhause gehen.

Deshalb fragt mich nicht, wie es Paul geht. Was soll ich euch sagen? Die einzige Möglichkeit, diesen Zustand zu ertragen, ist, mich abzuschotten, nicht an ihn zu denken und mir ein neues Leben, allein, aufzubauen. Mich neu orientieren für meine letzte Wegstrecke, zu Hause Ballast wegräumen, loslassen, frei werden.

Ich kann ihm nicht helfen. Das ist eine schmerzhafte Erkenntnis. Es ist mir nicht möglich, ihn zu erreichen, ihm sein Leiden zu lindern. Im Gegenteil, oft habe ich das Gefühl, ihn aus seiner Welt herauszureissen, ihn zu verwirren, wenn ich auftauche. Er erwartet Hilfe von mir, ich kann ihn nicht verstehen, er wendet sich enttäuscht und oft aggressiv von mir ab.

Er leidet, wenn er mich sieht. Nicht immer, aber meistens. Ich weiss nie, wie ich ihn antreffe, es kann auch sein, dass ich ihm Hilfe und Trost bin. Deshalb mache ich mich regelmässig auf und gehe dennoch zu ihm. Auch wenn die Besuche für mich eine grosse Herausforderung und Belastung sind. Aus Liebe gehe ich dennoch.

Fragen und Alleinsein in der Kirche

Sonntag, und ich gehe nicht zur Kirche? Ich bin morgens fast eine Stunde mit dem Lesen der Bibel, beten, sinnieren, aufschreiben der Anliegen und Erkenntnisse beschäftigt. Sonntags klopfte Paul jeweils gegen neun Uhr an die Tür: »Gehen wir zur Predigt?« Klar, wenn er es auf dem Herzen hat. Und er hatte es lange Zeit auf dem Herzen. Seit er nicht mehr da ist, meide ich die Kirche. Ich ging anfangs nur noch, wenn ich Musikdienst hatte. Aber den habe ich letztes Jahr aufgegeben.

Warum ich nicht mehr gehe? Weihnachten 2012. Allein anstehen für das Abendmahl, kein Paul hinter mir. Da geschah es: Mich überkam das Elend, ich sauste in ein Loch, Schluchzen schüttelte mich, Tränen flossen unaufhörlich. Konnte sie nicht mehr stoppen.

Am Ende des Gottesdienstes, nichts wie raus! Da war nur ein Wunsch: Nach Hause fliehen, sonst schreie ich mein ganzes Elend hinaus. Da war keiner, der mich auffangen konnte. Seither habe ich Angst vor einem solchem Zusammenbruch.

Die Kirche war der Ort, wo mir Paul besonders nah war. Wir beide dort. Nirgends wird mir heute das Alleinsein so bewusst wie in der Kirche.

Und dann diese Fragen. Ich setze ich mich in die Kirchenbank – und wie geht es Paul? Oder im Coop, zwischen Früchten und Gemüse, hallo, wie geht’s Dir und wie geht’s Paul? – und ich bin erneut im Tief. Da raffe ich mich zuhause auf, mit viel Disziplin und Selbstbeherrschung, um nicht im Selbstmitleid zu versinken, will auf andere Gedanken kommen, wieder den normalen Alltag leben lernen. Doch ich werde ständig mit dem Elend meines Mannes konfrontiert, das auch mein Elend ist.

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Einsamkeit

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Bitte, wenn du mich siehst, sprich mich an! Deine Freundlichkeit und Zuwendung tun so gut. Ich liebe es, Gedanken auszutauschen. Doch bitte frag zuerst, wie es mir geht, was ich so mache. Rühme meinen schönen neuen Garten, sag etwas Nettes. Aber frage mich nicht als erstes, wie es Paul geht.

Meide dieses traurige Thema, bis ich selbst davon berichte.

Es ist ja mein Alltag. Ich werde gelegentlich gern darüber sprechen, mein Herz erleichtern. Aber nicht so schnell, so hastig im Vorübergehen …

Endlich sind Weihnachten und Neujahr vorbei. Schon dreimal Weihnachten ohne Paul. Langsam gewöhne ich mich an den Schmerz und die Trauer, meine beiden anhänglichen Begleiter. Sie lassen sich nicht abwimmeln, ich lerne sie an meiner Seite zu dulden. Sie sind ein Teil von mir geworden. (Fortsetzung folgt …)