Demenz, das Schreckgespenst - demenzjournal.com

Das Tagebuch (80)

Demenz, das Schreckgespenst

Von den Pflegenden höre ich, es sei schwierig mit ihm. Er sei wenig kooperativ. Nett ausgedrückt. Ich sehe es ja selbst. Wann wurde er wohl zuletzt geduscht? U.Kehrli

Auch wenn ich keine körperliche Schmerzen erleide, tut es unsäglich weh. Weil ich hier allein leben muss, getrennt von ihm. Schmerz, wenn ich bei ihm bin, weil der Umgang mit ihm unsäglich schwierig ist. Und beim Weggehen – er klagt mich an und ich lasse ihn ohne Trost zurück.

27. Juli 2013 – So mühsam

Mehr als mühsam. Ärgerlich. So viel Bastelmaterial hatte ich Paul ins Heim gebracht, das meiste ist verschwunden, nicht mehr im Zimmer. Einzig Anita und Felice denken mit und bringen etwa Material zurück, das Herr D. bei seinen Schleichgängen auf der Suche nach Süssem mitlaufen lässt.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek) Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Auch Paul nimmt ab und zu sein Werk-Körbchen ins Wohnzimmer oder zügelt Möbel in andere Zimmer. Ich habe ihm wieder eine gute Schere gekauft, um Ärger und Frust zu vermeiden. Nun sucht er überall nach der Feile, ich finde Schleifpapier und den Schleifbock.

Wie früher handhabt er das und schleift die Kanten sauber. Wie gern würde er werken. So ist er immer am Improvisieren, ärgert sich jedoch und reagiert aggressiv, wenn die nötigen Werkzeuge oder das Material fehlen.

Von den Pflegenden höre ich, es sei schwierig mit ihm. Er sei wenig kooperativ. Nett ausgedrückt. Ich sehe es ja selbst. Wann wurde er wohl zuletzt geduscht? Die Haare ungewaschen, Coiffeur-Termin seit Wochen geplant und nicht zustande gekommen.

Oft ist er unrasiert, trägt Hemden oder gar mehrere Pullover übereinander. Bei dieser ungewöhnlichen Sommerhitze. Gestern waren es 36 Grad!

Er reagierte sehr unwirsch, als ich ihn daran hindern wollte, ein weiteres Hemd überzuziehen. So muss man ihn gewähren lassen, er schwitzt, kann es nicht einordnen. Hilflos steht man da, kann ihm nicht helfen. Zwei Stunden später gehe ich erleichtert nach Hause. Aber sehr traurig.

28. Juli 2013 – Gedanken zu Hiob

All mein Auflehnen und die Fragen nach dem Warum enden in ein beinahe resigniertes mich-ergeben-ins-Gottvertrauen. Ich habe keine andere Wahl. Beim Betrachten des Sternenhimmels, oder Staunen über die Winzigkeit eines Insekts hört mein Fragen auf.

Mein Verstand ist zu klein, um solche Wunder zu erfassen. Wie also sollte ich die Zusammenhänge von Leid und Sinn des Lebens begreifen können? Vertrauen in den Schöpfer ist die einzige Möglichkeit, zu innerem Frieden zu gelangen. Der Glaube an den Fleisch gewordenen Sohn Gottes, Jesus Christus, gibt uns diese innere Gewissheit, dass Er lebt. Ich kann nicht erst glauben, wenn ich weiss.

Dieses Gewiss-Wissen, dass Er lebt, kommt durch den Glauben. Wie ein Same erst aufgeht, wenn er in der Erde liegt. Erst mein JA zu Jesus Christus, durch den Bund, den ich mit Ihm schliesse, lässt in meinem Inneren etwas geschehen, das kaum mit Worten wieder gegeben werden kann.

Als Prüfung meines Glaubens sehe ich diese Zeit mit Pauls Krankheit. Es geht um Durchhalten, Aushalten, Ertragen, Erleiden. Der Boden ist mir unter den Füssen weggezogen worden.

Mauern, die schützend um mich waren, zerbröckelten. Einen gewissen Vergleich mit Hiob lasse ich zu. Auch wenn ich nicht direkt körperliche Schmerzen erleide, es tut unsäglich weh. Schmerz, weil ich hier allein leben muss, getrennt von ihm. Schmerz, wenn ich bei ihm bin, weil der Umgang mit ihm unsäglich schwierig ist. Schmerz beim Weggehen, er klagt mich an und ich lasse ihn ohne Trost zurück.

Schuldgefühle, versagt zu haben, Unwissenheit, wie umgehen mit ihm, Hilflosigkeit weil ich ihm nicht helfen kann. Ohnmachtsgefühle, oder etwa mal Wut auf die Krankheit und das Aufatmen, wenn ich endlich weg kann.

Doch kaum zu Hause, erfasst mich wieder diese Sehnsucht, bei ihm zu sein. Ein Wechselbad der Gefühle. Liebe, Wut. Gern, ungern. Sehnsucht, Fluchtgedanke. Abhauen, nach irgendwohin.

4. August 2013 – Fotoalben

Fünf Tage hintereinander war ich bei Paul. Mit jedem Tag ging es ihm besser, der Abschied war recht harmonisch, meine Rechnung schien aufzugehen. Dieses Verlassenheitsgefühl war gewichen, er schien recht ausgeglichen. Heute beim Eile mit Weile hatte er erstmals Mühe.

Was vorher vertraut war, ihn erfreute, bedrückte ihn heute. Ab und zu hielt er inne, ärgerte sich offensichtlich, dass er nicht mehr weiter wusste. War keine gute Idee, das spielen. Wie fast immer, es war ein Versuch wert, doch bei dieser Krankheit weiss man nie, was richtig, was falsch ist. Was gestern sein Herz erfreute, kann heute belasten.

Man kann nur Fehler machen, fast scheint mir dieser Ausspruch einer Fachperson zum Alltag zu werden. Und genau das nie-wissen-woran-man-ist zehrt an den Kräften, ermüdet, frustriert mich mit der Zeit. Fünf Tage hintereinander Paul besuchen ist zu viel. Muss es mir wieder einmal eingestehen.

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Unruhe

Innere Erregung und ein unstillbarer Bewegungsdrang können viele Gründe haben. Die gesteigerte Psychomotorik eines Menschen mit Demenz zu erleben, ist für Angehörige und … weiterlesen

Fotoalben ansehen. Gute Idee, dachte ich. Reisen nach Österreich anschauen, Paul freut sich über jedes Bild, wo er sich entdeckt. Fuschl See, Attersee, Wolfgangsee, Blick von oben übers Tal, Paul ist gut gelaunt. Noch eines? Er schüttelt den Kopf. Zvieri: ich habe ihm einen Cervelat mitgebracht, er freut sich.

Dann plötzlich, ohne ersichtlichen Grund – mittlerweile ist es nach vier Uhr – steht er auf, geht zum Kleiderschrank, nimmt Taschentücher heraus, erklärt mir etwas, hält sie mir hin, ich verstehe nicht, er ist wütend. Geht zum Lavabo, sucht nach irgendetwas, findet es nicht, schnauzt mich an. Stellt mir Fragen, ich verstehe nicht was er meint, ich zucke die Schultern, Auslöser für erneuten Unmut.

Ratlos schaue ich ihm zu, immer mehr steigert er sich in eine Wut hinein, geht zum Bett, rückt die Laken zurecht, sieht die Geh-Hose auf dem Bett, reisst den Gürtel heraus, ich helfe ihm mit Einziehen in die Shorts, nein, kann ich allein, stösst mich weg, klaubt das Portmonee aus der langen Hose heraus, öffnet es, zeigt mir die Zehnernote, herrscht mich wieder an, stammelt etwas, das ich wieder nicht verstehen kann, streckt sie mir entgegen, fordert mich auf sie zu nehmen, entreisst sie mir aber wieder, steckt sie ein, erklärt was, hält mir die Note wieder hin, ich zeige zwei Fünflieber, scheint zu klappen, wir tauschen. Er schüttelt den Kopf, ärgert sich über mich, nimmt sie doch, aufatmen, das Portmonee lässt er endlich in die Gesässtasche verschwinden, ist beschäftigt mit dem Knopf schliessen.

Nun darf ich nichts mehr sagen. Ich möchte mich verabschieden. An seiner Stimmung kann ich nichts ändern, er wird am ehesten zur Ruhe kommen, wenn er allein ist. Er hört nicht zu, redet, was keiner verstehen kann, für ihn ist klar, was er sagt, ich bin die Dumme, noch mehr Ärger. Nun versucht er die Hose über die Shorts anzuziehen, ich verabschiede mich.

Schrecklich, ihn so zurückzulassen, schrecklich, ihn allein zu wissen in seiner Not. Schrecklich, ihm nicht helfen zu können. Hilflosigkeit überfällt mich, Schmerz, die Trauer fährt mit nach Hause. Tränen trocknen aus, es ist sehr, sehr heiss im Auto. Klimaanlage sei Dank, es ist auszuhalten. Lege mich zuhause hin, möchte nur noch Ruhe, Ruhe, Ruhe. Gedanken ordnen, Wunden lecken.

«Es macht Menschen krank, wenn sie mit ihren Problemen allein gelassen werden. Deshalb ist es gut, dass es demenzjournal.com gibt.»

Gerald Hüther, Hirnforscher und Bestsellerautor

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Anruf von Carlo. Erst will ich nicht, mag ihm nicht zuhören, er hat seinen grossen Kummer. Drei Wochen Altersheim, Ferienbett, weil sein Sohn nach Amerika zur Hochzeit seines ältesten Sohnes geht. Carlo mit 92 kann nicht mehr solche Strapazen auf sich nehmen, allein zuhause sein auch nicht. Er leidet seit längerem an einer Demenz!

Der saure Apfel Altersheim ist zu sauer für ihn, er sieht nicht ein, dass er nun wirklich Hilfe braucht. Klagt mir sein Elend, ich höre zu, er ist froh, mit jemandem sprechen zu können. Es lenkt mich vom eigenen Schmerz ab, besser, als im Selbstmitleid zu suhlen. Er lockt mir die Zusage ab, ihn im Heim zu besuchen. Ein Trost für ihn, ich sage zu, Dienst am Nächsten, auch wenn ich im Moment genug habe von Heimbesuchen.

05.08.2013 – Aufregung um Emma

Kläry, die Nachbarin von Emma, orientiert mich. Die Spitex-Frau findet Emma heute Vormittag nicht. Die Eingangstüre ist nicht verschlossen, das Velo weg. Angst will sich einschleichen.

Emma hat eine Demenz, ich schätze eine mittelschwere, sie verwechselt Abend und Morgen, ruft nachts an und fragt, warum sie nicht abgeholt werde für die Sonntagspredigt.

Das Fahrradfahren ist auch gefährlich geworden, vor paar Wochen stürzte sie auf der Hauptstrasse, riss sich das Knie wund, es musste genäht werden. Da packte man die Gelegenheit, um ihr nun täglich die Spitex aufzuhalsen, beklagt sie sich. Aber der Doktor ist eine Respektsperson, kein Federlesen, basta, da muss man parieren.

Erster Gedanke: Ist Emma mit dem Zug unterwegs? Eine Kontrolle auf den Bahnstationen Thurnen und Burgistein würden Klarheit verschaffen. Dort stellt sie jeweils ihr Fahrrad ab. Muss ich hinfahren? Nein, es gibt noch andere mögliche Ziele: Alpkäse holen in Blumenstein, Einkaufen in Wattenwil, oder der längst geplante Besuch in Gümligen bei Paul.

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Ernährung

Eine gesunde Ernährung schützt uns vor Krankheiten. Im späten Stadium einer Demenz kommt aber der Genuss vor therapeutischen Diäten. weiterlesen

Kläry will von der schattigen Terrasse aus beobachten, ob, wann und wie Emma heimkommt. Nun muss ich warten. Aber noch besser: Auf die Knie, beten! Möge sie verschont sein davor, irgendwo auf der Strecke zu bleiben.

Bei dieser Hitze unterwegs zu sein ist für eine alte Frau besonders gefährlich. Und bestimmt hatte sie nichts zum Trinken mitgenommen. Ich trinke genug, versichert sie jeweils. Das war sicher früher so, ist jetzt aber keine Garantie mehr.

Beten hilft, wenigstens kommen wirre Gedanken zur Ruhe, meistens aber bekomme ich Anweisungen, die weiterhelfen. Auch jetzt. Ich soll die Gemeinderätin anrufen. Zufällig ist die grad ins Büro gegangen, eigentlich hat sie Ferien, das zufällig ist eben die Botschaft von oben, dass ich sie anrufen soll. Hilfsbereit anerbietet sie sich, die zwei Bahnhöfe nach dem Velo von Emma abzusuchen. Man kennt ja das Velo von Emma, das kostbare.

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Rituale

Rituale folgen einem immer gleichen Ablauf. Sie vermitteln Stabilität, Orientierung, Trost und glückliche Momente. Für Menschen mit Demenz und ihre Betreuenden können Rituale … weiterlesen

In den Augen von Emma ist alles kostbar. Sie hat auch stets Angst, es könnte gestohlen werden. Rostig, alt, ein Göppel halt. Wahrscheinlich noch ohne Übersetzungen, mit Rücktritt, das hat sich jahrelang bewährt. Früher.

Ja, wir machen uns Sorgen, überlegen, was zu tun wäre, wenn Emma nicht heimkommt. Ich bemühe mich, nicht zu überreagieren, nur zu reagieren. Damit ich dann wüsste, was zu unternehmen sei, falls sie vermisst bliebe.

Anruf von Kläry. Sie hat Emma gesichtet, mühsam stösst sie das Velo nebenher, vornübergebeugt, sichtlich erschöpft. Kläry wird zu ihr gehen, hören, wo sie war, fürsorglich Hilfe anbieten, wo nötig. Montag, Milch holen. Für die ganze Woche, nicht täglich frische Milch. Sie will doch den Rahm sammeln, das lohnt sich nicht bei täglicher Menge.

Emma ist ein Original. Ein echtes Dorforiginal. Mit ganz eigenen Ansichten und Mödeli, Altbewährtes aufrecht erhaltend, Neuem eher skeptisch gegenüber. Joghurtbecher sammelt sie als kostbares Aufbewahrungsgefäss, sie kann nichts wegwerfen. Papiertüten von Haferflocken, Zellophan-Säcke von Teigwaren, eines Tages ist man froh darüber.

Dennoch sieht ihr Haushalt nicht wie der einer Messie aus. Ihre Ernährung ist spartanisch. So sieht sie auch aus. Mager hört sie nicht gerne, genau recht sei sie. Schlank sei jedenfalls besser als zuviel Gewicht mit sich rumzutragen. Brot ist ihre Hauptspeise. Sie bäckt oft auch selber. Mit Vollkorn, klar. Da weiss man, was drin ist. Nahrhaftes, chüschtigs.

Emmas Nachbar Fred hatte vor ein paar Wochen eine Sitzung einberufen. Eine Nachbarin, eine Schulfreundin, die Gemeinderätin, dann die Betreuende der Seniorengruppe in Thun. Vroni, eine Schulfreundin. Wir fuhren gemeinsam hin. Sogar der Prediger kam mit. Eindrücklich.

Fred von nebenan – Emma wohnt auch nach der Pensionierung im Lehrerhaus – kümmert sich rührend um seine Nachbarin. Er kauft für sie oder mit ihr ein, bringt sie zum Arzt, und seitdem eine neue Waschmaschine im Hause ist, besorgt er auch das Knöpfe drücken.

Emma kann die neue Technik nicht mehr Hirnen. Elektronik ist ihr suspekt, man könnte ja die Feinwäsche mal verkochen.

Sicher ist sicher. Und Fred nimmt vom eigenen Waschpulver. Emma habe kein eigenes. Grosszügig ist er, der Fred. Wenn er Einkäufe hinstellt, ist kein Kassenzettel dabei. Emma fragt auch nicht, was das alles kostet.

Sie hat auch mich nicht gefragt, was sie mir schuldet, als ich ihr neue Staubsaugerbeutel und andere Einkäufe besorgte. Denkt nicht mal daran. Oder will sich dann mal erkenntlich zeigen mit Alpkäse. Man muss auch die Bergbauern unterstützen. Aber das vergisst Emma wieder.

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Hilfeleistungen

Menschen mit Demenz und Angehörige brauchen Unterstützung, Wissen und Vernetzung. Hier findest du die wichtigsten Anlaufstellen im deutschsprachigen Raum. weiterlesen

Also Fred ergriff zuerst das Wort, wir wollten doch Emma nicht vergewaltigen, indem wir sie gegen ihren Willen ins Altersheim verfrachteten. Zustimmung von allen. Die Sitzung hat nun zur Folge, dass ein Telefonnetz entstanden ist, man kennt sich, ist sogar per Du und man hat ein Auge auf Emma.

Es funktionierte gut: Die Spitex orientierte die Nachbarin, diese rief mich an und ich konnte die Gemeinderätin um Rat fragen. Funktionierte einwandfrei, wie ein Buschtelefon. Nur moderner, mit Handy, SMS und Mail.

Nachbarhilfe, für Fred eine Selbstverständlichkeit, mustergültig organisiert und in die Tat umgesetzt. Er kocht etwas mehr, präsentiert Emma auf dem Servierbrett die feinen Speisen. Aber was steht alles noch bevor? Demenz, das Schreckgespenst. Ich rede aus Erfahrung.