27. Februar 2011 – Zermürbendes Trauern
Mitten in der Nacht hat sich Paul wieder einmal angekleidet. Als ich um sieben Uhr aufstehe, kriecht er fertig angezogen aus dem Bett. Gestern schon war er ziemlich durcheinander.
Die Wetterlage hat auch einen Einfluss. Es wird wohl wieder eine winterliche Störung sein, die unser Land durchzieht. Zudem waren wir gestern in Laupen bei Hedi, ein solcher Ausflug bringt ihn stets durcheinander.
Schon in der Früh, beim Einsatz der Spitex, war er wirr und aggressiv. Rasieren war unmöglich. Ich hatte Mühe, ihn bei Laune zu halten. Er war wütend auf «ihn», den anderen, der ihm das Puzzle durcheinander gebracht hat. Was natürlich nicht so war.
Abends, als ich ihn frage, ob er zum Lobpreisabend wolle, ich aber nicht spielen würde, meinte er «ja gerne». Beim Verlassen des Hauses schaut er mich unter der Türe verwundert an: «Wo hast du….?» (er zeigte mit der Hand auf meinen Rücken, vermisste mein Cello).
«So ä Seich» (so ein Quatsch), sein Kommentar, als er verstand, dass ich nicht spielen würde. Ohne ihn wäre ich überhaupt nicht hingegangen. Ich war zu müde, raffte mich aber auf. Es lohnte sich. Die Seele fand Ruhe, Trost. Mit Wellness könnte man es fast vergleichen.
Doch immer wieder musste ich das Gähnen verkneifen, jedes Mal wenn ich mitsingen wollte, musste ich gähnen.
Mittagessen heute: Hühnersuppe mit viel Freude und Liebe zubereitet. Und mit viel Gemüse und Gerste. Sie schmeckte herrlich. Paul sass da, mit finsterem Gesicht. Irgend etwas passte ihm nicht. Keine Reaktion, vergrämt löffelte er die Suppe.
Manchmal habe ich das alles so satt. Und nachts die Angst, dass er wieder wegläuft. Diese Anspannung. Mit wieviel Liebe und Hingabe ich alles tue, um ihm den Alltag zu erleichtern, ich suche nach Abwechslung und Beschäftigung.
Mein Tagebuch
Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt, offen und authentisch. Mit der Veröffentlichung im Internet gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines dementen Partners. Mögen diese Tagebucheinträge Menschen in ähnlicher Situation helfen.(uek)
Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.
Dauernd bin ich für ihn da, und dann diese saure Miene am Tisch. Am liebsten würde ich ihn «wach» schütteln. Doch es nützt ja nichts. Er versteht es nicht.
Langsam verstehe ich die Angehörigen, die ihre Kranken schlagen. Diese aufgestaute Wut auf alle und alles! Diese aufreibende Anspannung, täglich, rund um die Uhr, diese Einsamkeit. Dieses Aushalten und alles gut machen wollen; aus Liebe, die sich dauernd verschenkt und nicht nachgefüllt wird.
Diese nagende, zermürbende Trauer über das langsame Verbleichen von allem, was einem vertraut und lieb war. Und die zusätzliche Last, stets für beide zu denken, zu planen, zu handeln. Und ich bin alt geworden und sehr müde. Ich möchte endlich Ruhe, meinen Lebensabend geniessen.
Diese Zeilen werde ich lesen müssen, wenn ich mich in meinen Ferien um Paul sorge: Wie es ihm wohl ergeht? Es gibt Momente, in denen ich schreien und um mich schlagen möchte, um irgendwie dieses klebrige, an mir haftende, diese Schwere loszuwerden.
Doch ihn schlagen? Welch schreckliche Vorstellung! Als ob man ein schreiendes Baby schüttelte, wo es doch keine Schuld hat. Oh Gott, bewahre mich, mein Denken, meine Gefühle und meine Hände. Nein, nie und nimmer möchte ich meinen Paul schlagen!!
3. März 2011 – Aber subito!
Frag’ mich nicht, wie es mir geht. Sonst erinnere ich mich an all das, was ich zu vergessen, zu verdrängen suche. Dennoch bohrst du nach?
Dienstagmittags, ein Uhr, Paul will plötzlich subito zum Coiffeur. Ich habe mich für eine halbe Stunde hingelegt, nach einem anstrengenden Vormittag. Warte, ich fahre dich dann hin. Kein Gehör. Er will jetzt gehen. Erregt zieht er sich an und macht sich auf den Weg. Ich kann ihn nicht zurückhalten. Diskussion zwecklos.
Um vier Uhr kommt er zurück. Mit kurzen Haaren und erschöpft. Durcheinander. Doch er hat wieder nach Hause gefunden, ein Erfolg. Nach und nach erfahre ich in Bruchstücken, was geschehen ist.