Ein unwürdiges Bild: Dement und verwahrlost

Das Tagebuch (79)

Ein unwürdiges Bild

Es braucht viel Geduld und Liebe, vor allem Echtheit – darauf spricht Paul an. Er fühlt, wer es aufrichtig mit ihm meint. U.Kehrli

Frau Kehrli muss mit ansehen, wie Paul im Heim verwahrlost herumläuft und streng riecht. Je nach Pflegeteam, das gerade anwesend ist, muss sie helfend eingreifen. Selbst sucht sie Hilfe bei einer Psychologin, was so richtig daneben geht.

20. Juni 2013 – Zuerst ein guter Nachmittag

Das kann ich heute sagen. Paul war wach, freundlich, sogar für ein Späßchen aufgelegt, der Abschied war auch freundlich, wenn seine Traurigkeit wegen der Trennung gleichwohl spürbar war. Wir beobachteten von seinem Zimmer aus zwei Bussarde, einen Turmfalken. Die Bussarde drehten Kreise, ab und zu stachen sie hinab in die frisch gemähte Wiese. Den Falken erkennt Paul jeweils am Rütteln, der hat seinen Stammplatz auf einer Profilstange am Horizont.

Nebenbei fülle ich ein Nono-Gramm aus, das lenkt mich ab von Paul, damit ich nicht Druck mache mit unnötigen Fragen und auf seine eigenen Impulse eingehen kann. Kreuzworträtsel lösen ist auch eine Abwechslung. Bin ich ganz auf Paul konzentriert, ist es für ihn zu anstrengend.

Mein Tagebuch

Diese Aufzeichnungen sind ehrlich, ungeschminkt und authentisch. Mit der Veröffentlichung gehe ich bewusst das Risiko des mich (zu sehr?) Öffnens ein – aber mit brennendem Herzen. Meine Notizen zeigen ein eigenes, persönliches und ungeschöntes Bild vom Begleiten meines demenzkranken Partners.  Hier finden Sie alle bisher veröffentlichten Tagebucheinträge.

Meine Fragen und Ideen sind zu verwirrend. Lasse ich ihn einfach in Ruhe, kann er seinen eigenen Gedanken nachhängen und er fängt an zu erzählen, was ihn bewegt oder was er gerade vom Lehnsessel aus beobachtet. Eine friedliche Zeit, selten genug verlaufen die Besuche bei ihm wohltuend.

Gestern war Stress. Seine Hose roch sehr streng, milde ausgedrückt, ich versuchte mit allen Tricks, dass er sie auszog.

Die Pflegenden versuchten es erfolglos seit zwei Tagen. Und seit Wochen lässt sich Paul nachts nicht mehr ausziehen. Schläft auf Stühlen, Bänken, Sofas, ab und zu auch – angekleidet – im Bett.

Nun, ich ließ nicht locker, mit Bestimmtheit befahl ich ihm, die Hose auszuziehen. Das wirkte. Meistens klappt es mit gutem Zureden, mit Geduld, mit Ablenkungen, mit viel Liebe. Da kann er nicht anders, wenn er liebevolle Zuwendung erhält. Aber eben nicht immer. So wie eben. Aufatmen und dankbare Anerkennung von den Pflegenden.

29. Juni 2013 – Es riecht streng

Paul kommt mir fröhlich den Gang entgegen. Unrasiert, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, seine viel zu langen ungewaschenen Haare erinnern mich an einen Penner. Er küsst mich liebevoll, freut sich sichtlich über meinen Besuch. Ich schrecke etwas zurück, er riecht sehr streng, ich bemühe mich, nicht stinken zu sagen. Heute spricht er Schriftdeutsch und ist sichtlich aufgeregt.

Er drängt mich sogleich in sein Zimmer. Auf dem Tisch steht noch das Tablett mit dem Mittagessen. Eine wässerige Tomatensoße über den Spaghetti, ein Glas Sirup daneben. Soll ich das Essen wärmen? Er winkt angewidert ab, regt sich über mein Vorhaben auf. Etwas stimmt nicht. Auf Frage bei einer Hilfspflegenden erfahre ich, dass er heute nichts gegessen hat. Auch kein Frühstück.

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Inkontinenz

Inkontinenz ist eine häufige Begleiterscheinung von Demenz. Sie sehr belastend sein und ist oft der Grund für den Eintritt in ein Heim. weiterlesen

Ich setze mich neben ihn, möchte herausfinden, wo ihn der Schuh drückt. Immer noch spricht er Hochdeutsch, manchmal siezt er mich.

Er will unbedingt etwas erklären, doch verstehe ich erst einmal nichts.

Dass er unglücklich ist, verraten mir schon die nassen Taschentücher, die zum Trocknen auf dem Radiator liegen, die geröteten Augen und ab und zu wischt er sich mit dem Taschentuch die Nase, trocknet die über die Wangen kullernden Tränen.

Weißt du …, beginnt er wieder. Die Cheibe … wollen, … sie haben …, berndeutsche Wörter, die schon viel aussagen. Die Bande, sagt er manchmal, wenn er sich überfahren oder nicht verstanden fühlt.

Sobald ich aus dem Lift die Wohngruppe betrete, nehme ich bereits die Stimmung wahr unter den Bewohnern. Wie Kinder drücken sie ihre Gefühle durch Körpersprache aus. Ich fühle mit ihnen. Sind Pflegende anwesend, die einen guten Draht zu den Bewohnern haben, fühlt man in der Wohngruppe Ruhe und Gelassenheit.

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Körperpflege

Die Körperpflege wird für Menschen mit Demenz schwieriger – oft auch unwichtiger. Bei der Unterstützung sind Empathie und Geschick gefragt. weiterlesen

Je nach Team, das Dienst hat, nimmt man Spannung, Beklommenheit, ein Verlorensein wahr. Das Herumirren wirkt dann noch unruhiger, die Zimmer sind nicht aufgeräumt. So lese ich auch heute auf dem Gesicht meines Mannes einen ganzen Katalog von Bedrückungen. Es hätte nicht mal Tränen gebraucht, um sein Elend zu erraten.

Jetzt, wo ich mich nahe zu ihm setze, rieche ich auch die schmutzige Unterwäsche. Dem Geruch nach nicht bloss von einem Tag. Gestern war ich nicht da. Und es roch bereits streng vor zwei Tagen!

Der Kragen des Poloshirts, das er unter dem Hemd und unter dem Mohair-Pullover trägt, ist am Hals übersät mit Körperschuppen. Die Haare sind fettig und riechen ebenfalls stark. Unwürdiges Bild. Auf Nachfrage bei einer Helferin vernehme ich, man versuche immer wieder, ihn zum Duschen zu bewegen – erfolglos.

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An- und Auskleiden

Für Menschen mit Demenz wird der Alltag schwieriger – auch das An- und Auskleiden. Auf Hilfe reagieren sie manchmal mit Unbehagen, vielleicht auch … weiterlesen

Das hat wahrscheinlich mit mangelndem Vertrauen zu tun. Noch immer scheint Paul die vertrauten Pflegenden zu vermissen. Beziehungen aufbauen kann man nicht innert weniger Tage. Es gibt einzelne Pflegende, die den Draht zu ihm haben: Patricia, Stefanie, wohl noch andere. Doch gibt es eben auch andere, wo einfach die Chemie nicht stimmt.

Es braucht viel Geduld und Liebe, vor allem Echtheit – darauf spricht Paul an.

Er fühlt, wer es aufrichtig mit ihm meint. Schulmeistern mochte er nie, oder eben diese kindischen Späße, das ins Lächerliche ziehen, das durchschaut er bald. Er will nicht wie ein Baby behandelt werden.

Er will halt nicht, diesen Spruch lasse ich ungern gelten bei ausgebildeten Pflegenden, mit Fachgebiet für Alzheimer-Patienten. Die vorherige Pflegegruppe kannte viele Tricks, um mit Paul umzugehen. Da fühlte er sich ernst genommen, geborgen, zuhause. Er hatte Vertrauen, winkte fröhlich den vertrauten Gesichtern zu, war zufrieden und man konnte ihn leiten.

Durch den Wechsel wurde er verunsichert. Ich bleibe nicht mehr hier, ist nicht gut. Immer wieder war er am Einpacken. Unzählige traurige, belastende Szenen gab es beim Abschied. Auch Tränen, Wut, Enttäuschung.

Ich besuche ihn nun öfter, um ihm Geborgenheit und Halt zu geben, was mich wiederum mehr belastet. Ich sollte auch meine Ruhepausen haben. An Ferien ist nicht zu denken, seine jetzige Unsicherheit und Not bedrückt mich sehr.

Pflegealltag

Kreativität und unkonventionelles Denken sind gefragt

Die Betreuung eines Menschen mit Demenz kann herausfordernd sein. Ein erfahrener Pfleger gibt Tipps, wie man schwierige Situationen kreativ und einfühlsam meistert. weiterlesen

18.Juli 2013 – Psycho(un)logisch

Endlich habe ich einen Termin bei einer Psychologin bekommen. Tagelang versuchte ich das Formular für die erste Sitzung nach bestem Wissen und Gewissen auszufüllen. Voll motiviert mein Problem anzugehen. Ehrlich sein zu mir selbst, mich zu Schwächen und Stärken bekennen, der Wahrheit ins Auge blicken, an mir arbeiten.

Aber vor allem brauche ich Schmerzbewältigung. Der Schmerz um Paul dominiert mich. Trauer, Mitleid, Verletzungen, Überforderung. Es gäbe viel aufzuschreiben. Kurzform aber ist gefragt. Ich bin dankbar für die Hilfe. Ein paar Daten wurden fixiert. Dienstags, über Mittag entgegenkommenderweise.

Dieses erste Gespräch fürs Kennenlernen war an einem Donnerstag. Das wäre der passende Tag für mich. Ich blieb wohl darauf fixiert. Kein Gedanke mehr an Dienstag.

Nach dem Mittagessen legte ich mich erschöpft hin. Sogleich schlief ich ein. Telefon: Hier ist S. vom therapeutischen Zentrum. Ich versuche mich aufzurichten, die Schnur zum Telefon ist zu kurz, der Apparat droht hinunterzufallen. Ich versuche aufmerksam zuzuhören, mich zu sammeln.

Ursula Kehrli

«Ich rede vielen Menschen aus dem Herzen»

Seit mehreren Jahren veröffentlichen wir regelmässig Folgen aus Ursula Kehrlis Tagebuch. Gerade ist Nummer 50 erschienen. Wie geht es ihr heute? Konnte sie endlich loslassen? … weiterlesen

Erst verstehe ich Bahnhof, verpasste Sitzung, wo sind Sie? Vergessen? Das muss man aber doch berechnen, verpasste Termine müssen verrechnet werden. Agenda nachprüfen, habe ich mich tatsächlich getäuscht?

Moment, mir ist schwindlig, wo ist meine Agenda? Da steht es, schwarz auf weiss: Dienstag, 12.30 Uhr. Tatsächlich. Bin wie erschlagen. Seit Samstag habe ich die Agenda nicht mehr geöffnet. Ferienzeit. Keine Musikproben, keine Lobpreisabende. Erst am Donnerstag, dachte ich, sei der Termin bei der Psychologin. Worauf ich mich eingestellt hatte.

Sie haben Recht, es ist Dienstag, tut mir sehr leid, ich versuche meine Entschuldigung anzubringen, noch nie hatte ich einen wichtigen Termin versäumt. Ich fühle mich noch elender. An die Wand gestellt, ausgestellt, und es geht weiter: Der Termin wird verrechnet. Man könnte zwar, falls jemand absagt, die Sitzung einschieben, dann müsste es nicht verrechnet werden. Sonst sehen wir uns am 30. Juli. Eigentlich ein schlechter Start.

Wie vom Schlauch abgespritzt lege ich den Hörer auf. Kein Wort der Anteilnahme, der Wärme, kein Gefühl, kein Nachfragen, wie das passieren kann, kein Einfühlen in meinen schwierigen Alltag.

Ob sie nicht mal bemerkt hat, dass ich voll aus dem Schlaf aufgeschreckt wurde? Hört man das nicht an der Stimme? Ich jedenfalls hörte aus ihrer Stimme bloß Strafendes, Richtendes, Bloßstellendes, Disziplinierendes. Ist es das, was ich zum Aufarbeiten meines Schmerzes brauche? Bin ich ein Teenager, den man erziehen muss? Sind Kälte, Disziplin, Strenge die richtige Therapie?

Nein, ich brauche Mitfühlen, Anteilnahme, Wärme. Mich braucht man nicht zu maßregeln für einen verschlampten Termin. Es ist mir schon peinlich genug, dass mir das passiert ist. Am nächsten Tag sage ich alle Termine ab. (Fortsetzung folgt …)