Es gibt einen Satz, der mich schon als junger Sanitäter berührt hat und mich auch heute noch in die Pflicht nimmt. Kaum eine Woche vergeht, in der ich ihn nicht höre, geäussert von Jung und Alt, Frau und Mann, mit ratloser und oft verzweifelter Miene. Neulich sogar von meiner Kollegin Gisela Hoffmann, die ich seit 13 Jahren als Mitarbeiterin kenne und schätze.
Schon seit Längerem hatte ich gespürt, dass sie etwas bedrückt, ein Zustand, den ich bei ihr bisher nicht kannte. Denn so leicht lässt sich diese couragierte Frau nicht unterkriegen, sie ist Mutter von drei Kindern, darunter ein hyperaktiver Teenager. Aber jetzt hockt sie vor mir im Sessel, der seit jeher als Sorgenstuhl dient, sucht meinen Blick und sagt nach einer Weile mit trauriger Stimme: «Michael, ich habe Angst.»
Da ist er wieder, der Satz, der mich verfolgt und fordert. Ich ahne, was kommen wird, spüre aber, dass der Grund ihrer Angst nicht in ihr liegt. Wer wie ich seit fast 40 Jahren mit Menschen mit Demenz zu tun hat, erkennt die Symptome früh. Mir ist klar: Gisela, diese tatkräftige und umsichtige Frau, gut organisiert und voll engagiert im Hier und Jetzt, ist alles andere als demenzkrank.
Dement, aber nicht vergessen
In seinem Ratgeber «Dement, aber nicht vergessen» gibt Demenzexperte Michael Schmieder neun Tipps, was Betroffenen und Angehörigen guttut. Dazu nutzt er seine Erfahrung als Gründer des Heims Sonnweid und als Angehöriger. alzheimer.ch veröffentlicht das erste Kapitel des Buchs in drei Teilen.
«Geht es um Martin?», frage ich deshalb.
Sie nickt. Ja, es ist ihr Mann, um den sie sich Sorgen macht, mit dem sie seit gut 20 Jahren verheiratet ist. Glücklich verheiratet, das weiss ich, weil ich oft aus meinem Bürofenster beobachten konnte, wie er sie abgeholt und umarmt hat, wie sie Schulter an Schulter zum Auto gingen, lachend und redend.
Beide hatten je drei Kinder aus erster Ehe, sodass sie in den ersten Jahren eine sechsköpfige Schar Halbwüchsiger zu bändigen hatten. Es zeigte sich, dass sie sich gut ergänzten. Sie schätzte seine Ruhe und die bedachtsame Art, Probleme anzupacken, was sich wohltuend auf den quirligen Sohn auswirkte, der oft drohte, ausser Kontrolle zu geraten; sie lockte ihn aus der Reserve, wenn er ihr zu behäbig wurde, verführte ihn zum Tanzen und verwöhnte ihn mit gutem Essen.
«Unser Patchwork war mitunter trubelig, aber doch auch schön», sagt sie.
«Und jetzt nicht mehr?», frage ich.
Sie schüttelt den Kopf, und während ich spüre, wie sie mit den Tränen kämpft, wird mir auf einmal klar, dass ich sie beide lange nicht mehr so innig wie früher zusammen gesehen habe. Sehr lange sogar.
«Erzähl!», bitte ich sie. «Was ist los?»