Die Angst vor der Demenz - demenzjournal.com

Erste Anzeichen (1)

Die Angst vor der Demenz

Michael Schmieder liest in seinem Ratgeber zum Umgang mit Demenz

Nach einer Demenzdiagnose steht die Welt erstmal kopf. In seinem Ratgeber schildert Michael Schmieder anhand vieler Beispiele, wie man mit der Krankheit umgehen kann. Martin Mühlegg

Schlüssel verlegt? Name vergessen? Den meisten Menschen macht die Vorstellung Angst, an Demenz zu erkranken. Doch weil es noch kein Medikament gegen die Krankheit gibt, müssen wir lernen, mit ihr umzugehen, sagt Demenzpionier Michael Schmieder.

Ich war noch ein junger Mann mit schulterlanger Mähne, als ich zum ersten Mal mit demenzkranken Menschen zu tun hatte. Jahrzehnte ist das her, das Wort «Demenz» war nahezu unbekannt, aber die Erinnerung daran hat sich eingenistet und wahrscheinlich mein Berufsleben mitgeprägt.

Wie viele junge Männer, die damals den Wehrdienst verweigerten, war ich im Ersatzdienst als Rettungssanitäter unterwegs. Ein Job, der mich ohne Vorwarnung mit der Endlichkeit des Lebens konfrontierte. Ich lernte in meinem Berufsalltag, in dem der Notfall der Normalfall war, dass es nicht allein darum ging, gebrochene Glieder zu schienen und Spritzen zu setzen, Wunden zu verbinden und Herzmassagen durchzuführen, sondern auch Vertrauen zu gewinnen und damit Verletzten das Gefühl zu vermitteln, in sicheren Händen zu sein.

«Dement, aber nicht vergessen»

In seinem Ratgeber «Dement, aber nicht vergessen» gibt der Demenzexperte Michael Schmieder neun Empfehlungen, was Betroffenen und Angehörigen guttut. Dazu nutzt er seinen Erfahrungsschatz als Gründer des Heims Sonnweid in Wetzikon und als Angehöriger. alzheimer.ch veröffentlicht das erste Kapitel des Buchs in drei Teilen.

Trotz allem Leid und Schrecken, denen ich täglich begegnete, spürte ich bald, dass ich in diesem Beruf zu Hause war. Menschen zu helfen, ist eine Aufgabe, die auch einem selbst hilft, weil man etwas Sinnvolles macht und seinen Platz in der Gesellschaft findet. Vorausgesetzt, man bringt eine Haltung mit, die Menschen in Not nicht nur körperlich, sondern auch seelisch stützt.

Nicht, dass man im Angesicht des Leids in Tränen ausbrechen muss. Im Gegenteil: Entscheidend ist ein beherzter Beistand, der signalisiert, dass da jemand zur Stelle ist, der sich einfühlt und weiss, was zu tun und zu lassen ist. Ich bilde mir ein, dass mir diese Art der Zuwendung nach und nach immer besser gelang – bis auf Fälle, die mich und selbst meine erfahrenen Kollegen vor unlösbare Probleme stellten.

Sie traten ein, wenn uns verzweifelte Menschen riefen, die daheim einen demenzkranken Angehörigen betreuten und mit ihrem Dienst am Nächsten überfordert waren. Es half ein wenig, wenn sie sich über dessen Unarten ausweinen konnten, über das Chaos, das er anrichtete, über Launen, Schmutz und Schamlosigkeit.

Ich selbst war als junger Mann radikal aufmüpfig. Und nun traf ich auf Menschen mit Demenz, die lebten, was ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Es hat Angehörige oft schon beruhigt, dass ein Sanitäter wie ich zuhörte und versuchte, die Situation zu erfassen.

Ich sah in übermüdete Gesichter, weil die Unrast des Erkrankten für Angehörige die Nacht zum Tag gemacht hatte, entdeckte auch Zeichen von Panik, wenn die Situation eskaliert war und Gewalt drohte.

Jahrelang sei es friedlich zugegangen, jetzt häuften sich Wutanfälle, meist aus nichtigem Anlass, zuweilen auch in Form gespenstischer Szenen. Zum Beispiel, wenn der Kranke sich nicht mehr im Spiegel erkannt hatte und den fremden Eindringling anbrüllte, der da plötzlich vor ihm aufgetaucht war.

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Zu allem Unglück bot sich kaum eine Möglichkeit, den Angehörigen zu helfen. Es gab keinen Ort für einen Demenzkranken, schon gar nicht im Stadium einer Aggression, die sich gegen seine Nächsten, zuweilen auch gegen ihn selbst richtete. Weder Krankenhaus noch Altenheim fühlten sich zuständig, letztlich nicht einmal Psychiatrien, wo man in solchen Fällen den allzu einfachen Weg ging, indem man den Aufsässigen mit der Medikamentenkeule dauerhaft ruhigstellte.

Solche Tragödien, die ich als junger Sanitäter erleben musste, spielen sich immer noch ab, denn die Zahl der Demenzkranken ist seitdem dramatisch gestiegen, und wir wissen, dass sie weiter steigen wird, weil die Menschen immer älter werden. Verständlich, dass die Sorge wächst, Eltern oder Grosseltern könnten demenzkrank werden oder gar man selbst, wenn mal wieder Brille oder Autoschlüssel verschwunden sind oder der Name des Nachbarn auf der Zunge liegt, aber nicht herauswill. Zum Glück alles nur Stolpersteinchen des Alltags, meist dem Stress geschuldet und harmlos, speziell bei Menschen, die Mühe haben, an mehr als zwei Dinge zugleich zu denken, erfahrungsgemäss also Männer.

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Ob Frau oder Mann, ein gewisses Mass an Argwohn ist berechtigt, denn mit zunehmendem Alter laufen wir Gefahr, dass sich diese Krankheit nahezu unmerklich einschleicht. In den allermeisten Fällen tritt sie in der unheilbaren Form als Alzheimer auf, die von Jahr zu Jahr mehr Menschen betrifft. 1,6 Millionen Männer und Frauen leiden in Deutschland bereits an Demenz, 900 kommen jeden Tag dazu, das bedeutet Jahr für Jahr mehr als 300’000 Neuerkrankungen, Tendenz steigend.

Damit richtet die Demenz Schlimmeres an als jede Pandemie. Gegen eine Seuche wie Covid 19 kann man sich schützen, indem man sich impfen lässt. Das gilt nicht für die Demenz. Zwar wird so gut wie jedes Jahr von irgendeinem Pharmakonzern versprochen, ein Medikament zu entwickeln, das vorbeugen oder zumindest helfen soll, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen.

Doch das geht so, seitdem Alois Alzheimer im Jahr 1907 im geschrumpften und von Eiweissklümpchen durchsetzten Hirn der Magd Auguste Deter sogenannte Plaques als Todesursache identifiziert hat. Bisher haben sich alle Ankündigungen eines Heilmittels als leere Versprechen erwiesen.

Weil wir wissen, dass uns die Demenz noch lange begleiten wird, müssen wir versuchen, mit ihr auszukommen.

Im Vergleich zu Pandemien ist sie wenigstens nicht ansteckend – ein schwacher Trost, denn die Angst vor ihr steckt sehr wohl an. Eine verständliche Reaktion, zwecklos, sie zu leugnen.

Diese Angst springt jede und jeden von uns an, wenn sich wieder ein Fall in der Familie, bei Freunden oder im Kollegium herumspricht. Angst vor dem Kontrollverlust über unser Denken, Handeln und über unseren Körper. Deshalb geht es vor allem darum, zu zeigen, wie wir mit dieser Angst leben können, ehe sie die Seele frisst. «Jage die Ängste fort und die Angst vor den Ängsten», diese Zeile aus dem Gedicht «Rezept» von Mascha Kaléko kommt mir immer wieder in den Sinn.

Viele Situationen, von denen ich berichten werde, spielen sich im familiären Rahmen ab, also dort, wo 80 Prozent aller Menschen mit Demenz leben und von Angehörigen betreut werden. Immer unter grossem Einsatz, oft unter schmerzhaften Opfern und zuweilen unter dem Joch unerträglicher Lasten. Immer versuche ich zu zeigen, was nötig und möglich ist, auch, wo die Grenzen der Belastbarkeit liegen und ständig überschritten werden.

Nächstenliebe kann ins Gegenteil umschlagen, wenn sie den Helfenden krank macht.

Oft ist es lebenswichtig zu erkennen, wann professioneller Beistand notwendig ist und an die Stelle von familiärer Fürsorge treten muss. In diesen Situationen konzentriert sich alles auf den Kranken, und seine familiäre Umgebung wird vergessen.

Schon deshalb ist es wichtig zu wissen, was ein Pflegedienst leisten kann und was nicht. Ebenso, ob das Heim, dem man schliesslich den demenzkranken Menschen anvertraut, auch wirklich hält, was es verspricht. Es hat sich herumgesprochen, dass in den rund 12’000 deutschen Altersheimen vieles im Argen liegt. Ein Ratgeber tut not, der auch hilft, einen menschenfreundlichen Ort zu finden.

Wie solch ein Heim aussehen soll und kann, habe ich 2015 in meinem Buch «Dement, aber nicht bescheuert» am Beispiel des Demenzheims Sonnweid gezeigt, das ich nahe des Zürichsees in Wetzikon in der Schweiz aufgebaut und geleitet habe. Die Hoffnung, dass es als Modell für andere Heime dienen würde, hat sich nur in Ansätzen erfüllt. Grund genug, mit einem Ratgeber nachzufassen, der sich an Fällen aus meiner jahrzehntelangen Erfahrung orientiert.

(Fortsetzung folgt)

→ Hier können Sie das Buch «Dement, aber nicht vergessen» bestellen.


Dieser Beitrag ist Teil des ersten Kapitels aus Michael Schmieders Buch «Dement, aber nicht vergessen». Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung.