Demenz muss nicht immer schlimm sein - demenzjournal.com

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Demenz muss nicht immer schlimm sein

Der Alltag mit Demenz bringt viele Herausforderungen mit sich. Trotzdem muss es mit der Lebensqualität nicht abwärtsgehen, findet Demenzexperte Michael Schmieder. Bild Martin Mühlegg

Eine Demenzdiagnose zu akzeptieren ist schwer. Oft genug hören wir schreckliche Geschichten von aggressivem Verhalten, Persönlichkeitsveränderungen und unterbesetzten Pflegeheimen. Doch Demenzexperte Michael Schmieder kennt genug Beispiele, die von guter Lebensqualität auch mit Demenz zeugen.

Zuweilen scheint es mir, dass Frauen besser mit der bösen Botschaft Demenz umgehen können als wir Männer. Vielleicht schon deshalb, weil uns beigebracht wurde, keine Schwächen zu zeigen, und wir fürchten, statt Beschützer nur noch Schützling zu sein. Besonders schmerzlich trifft es offensichtlich Männer wie Martin, die sich beruflich und familiär gern in einer Führungsrolle sehen (s. Teil 2). Denkbar auch, dass das Drama, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, durch eine Reihe biografischer Erzählungen verstärkt wird, in denen vorwiegend Männer als traurige Helden auftreten.

Schon der Protagonist eines der ersten Bücher zum Thema Demenz ist ein Mann. Anfang der 1980er-Jahre unter dem Titel «Hirngespinste» erschienen, wurde es ein Bestseller, verfilmt und in 16 Sprachen übersetzt, inzwischen sogar in die Lehrbibliothek für angehende Pflegekräfte aufgenommen.

Dement, aber nicht vergessen

In seinem Ratgeber «Dement, aber nicht vergessen» gibt der Demenzexperte Michael Schmieder neun Empfehlungen, was Betroffenen und Angehörigen guttut. Dazu nutzt er seinen Erfahrungsschatz als Gründer des Heims Sonnweid in Wetzikon und als Angehöriger. alzheimer.ch veröffentlicht das erste Kapitel des Buchs in drei Teilen.

Das Besondere und gleichzeitig Beängstigende dieser Studie liegt in seiner Innensicht. Der holländische Autor J. Bernlef versetzt sich in die Gefühlswelt seines Protagonisten Maarten und lässt den ehemaligen Manager bis zum bitteren Ende aus seiner Sicht erzählen, wie Erinnerungen und Bindungen schwinden.

Auch eines der bekanntesten und besten literarischen Zeugnisse solcher Tragödien signalisiert schon im Titel die Verlustängste eines Mannes: «Der alte König in seinem Exil» heisst der einfühlsam geschriebene Abgesang Arno Geigers auf seinen Vater und ist schon deshalb lesenswert, weil er in jeder Phase seines Buchs die Würde des demenzkranken Mannes. wahrt. Auch bei ihm beherrscht Leiden als Grundmotiv die Handlung, wie fast alle literarischen Zeugnisse der Demenz.

Eine der wenigen Ausnahmen bildet das Theaterstück von Peter Turrini mit dem vielsagenden Titel «Gemeinsam ist Alzheimer schöner». Im szenischen Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit zeigt es, wie sich ein altes, seit Jahrzehnten zerstrittenes Paar neu und innig verliebt, weil beide den gegenseitigen Überdruss und Hass früherer Jahre vergessen haben.

Dichtung und Wahrheit müssen sich nicht ausschliessen, häufig sind sie miteinander verwoben. Immer wieder gibt mir die Realität Grund zur Freude, wenn ich Paare wie die Bergers beobachte, die Arm in Arm durch den Sonnweidgarten spazieren. Oft hat Herr Berger noch die Staude in der Hand, die er samt Wurzel aus dem Beet gerissen hat. Denn dass er seiner Frau Regina, die ihn fast jeden Tag besucht, zur Begrüssung eine Blume überreichen will, weiss er noch, hat es aber schon vergessen, nachdem er sie umarmt und geküsst hat.

Küssen könne er noch wie früher, gesteht sie lächelnd. Auch wenn sich das Happy End der beiden erst nach dem langen Leidensweg seiner Erkrankung eingestellt hat, kommt mir bei ihnen der bekannte Satz in den Sinn: «… und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.»

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Ich höre und erlebe sie gar nicht mal so selten, diese Geschichten, die zeigen, dass Demenz eine lebenslang harmonische Beziehung nicht zerstören muss, sondern sogar bereichern kann. Wenn sich der Kopf weigert, das eigene Geburtsdatum preiszugeben, auch nicht mehr erinnert, wer gerade Deutschland regiert und wie der Ort heisst, wo man wohnt, das Herz vergisst nicht. Deshalb geht mir die Geschichte, die mir eine gute Freundin erzählte, nicht mehr aus dem Sinn.

Sie beginnt im vergangenen Herbst in ihrem Garten unter dem Apfelbaum, der Schatten für Mutter und Tochter und Früchte für ihren Kuchen zum Kaffee spendet. Ein Ritual, das Paula mit der Mutter seit Jahren so gut wie jede Woche samstags begeht und bei dem sich beide über Ereignisse in der Familie austauschen.

Meist geht es darum, dass eines der vier Geschwister und mindestens einer der acht Enkel irgendetwas feiert, sei es Geburtstag, Konfirmation oder Schulabschluss. Nicht zu vergessen die zahlreichen Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und anderen Anlässe der Geselligkeit innerhalb der Gemeinde, von denen man weiss. Denn die Webers gehören zu den Honoratioren der Kleinstadt. Vater Heiner Weber führte in zweiter Generation ein Schuhgeschäft, das er nach dem Zweiten Weltkrieg aus einer Schusterwerkstatt zu einem mittleren Unternehmen aufgebaut hatte.

Hier gehts zu Teil 1

Michael Schmieder liest in seinem Ratgeber zum Umgang mit Demenz

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Immer an seiner Seite: Mutter Heike, eine zierliche Person, fast zerbrechlich wirkend, wenn sie neben ihrem grossen, breitschultrigen Mann steht. Trotz aller Unterschiede bilden sie seit mehr als einem halben Jahrhundert eine Einheit. Unerschütterlich, sich gegenseitig ergänzend und umsorgend, eine feste Grösse für Kinder und Enkel, Freunde und Nachbarn.

Doch jetzt sitzt Heike neben ihrer Ältesten unterm Apfelbaum, rührt den Kuchen nicht an, setzt die Kaffeetasse ab und weint.

«Mama, was ist passiert?», fragt die Tochter.
«Mit mir stimmt was nicht», antwortet die Mutter.
«Aber was ist denn? Ich merk nichts. Du bist doch wie immer.»

Ja, wenn es doch so wäre! Leider ist aber nichts so wie immer. Stockend erzählt Heike von Aussetzern, dass auf einmal Worte fehlen. Wie neulich, als ihre Freundin Christel etwas fragte und sie keine Antwort fand. Oder wie die Kinder lachten, weil sie wohl Unsinn erzählt hatte oder dasselbe gleich noch mal und noch mal. Bei manchen Besuchen fühle sie sich fremd und unerwünscht, weil keiner mehr mit ihr rede. «Zum Beispiel bei den Leonards», sagt sie. «Da geh ich nicht mehr hin.»

Die Menschen ziehen sich zurück, wenn sie überfordert sind. Dies allein ist schon schlimm genug, aber noch schlimmer ist, dass sie sich in ihrer Not alleingelassen fühlt. Der Papa schüttle nur den Kopf, wenn sie ihr Problem anspreche, und sage lächelnd: «So ist es halt, wenn man so alt wird wie wir.»

«Auf demenzjournal.com finden sich die Informationen, die ich gebraucht hätte, als ich in meiner Familie bei diesem Thema am Anfang stand.»

Arno Geiger, Schriftsteller (Der alte König in seinem Exil)

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Auch neulich, als sie nicht mehr wusste, wie der Nachbarort hiess, durch den sie fuhren. Natürlich zuckte er zusammen, als sie gestand, dass sie fast ertrunken sei, neulich im Schwimmbad. Auch Paula wird blass vor Schreck, als die Mutter erzählt, wie sie die Leiter runter ins Wasser geklettert ist und dachte, da käme noch eine Stufe.

«Kam aber keine», sagt sie. «Ich ging unter und wusste auf einmal nicht mehr, wie ’s Schwimmen geht, fuchtelte und strampelte, bis ich im letzten Moment wieder eine Sprosse zu fassen bekam.» Paula nimmt die Mutter in den Arm.

Beziehung und unmittelbare Nähe helfen. Zu sagen, «Ist nicht so schlimm!», hilft dagegen nicht, denn es ist ja schlimm.

Weil sie selbst es als Mutter von drei Kindern und Unternehmerin gewohnt ist, wichtige Dinge nicht auf sich beruhen zu lassen, vereinbarte Paula einen Arzttermin. Doktor Fromal, Neurologe und Psychologe in der Nachbarstadt, schien die beste und naheliegendste Wahl zu sein.

Der Eindruck bestätigte sich, als sie in der Woche darauf mit der Mutter die grossräumige Praxis betrat. Eine freundliche Arzthelferin führte sie in einen Nebenraum, legte der Mutter einen Fragebogen vor und bat, ihn auszufüllen. Diesen Fragebogen kenne ich gut, er wird inzwischen in vielen Arztpraxen genutzt und firmiert unter dem Kürzel MMST. Die Abkürzung steht für Mini-Mental-Status-Test. Die Fragen dienen der Früherkennung von Demenz.

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Diagnose

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Es kam, wie es kommen musste: Mit jeder Frage, zu der die Mutter keine Antwort wusste, wuchs ihre Verwirrung, Unsicherheit und Angst. Wie viel ist hundert minus sieben? Das hätte doch ihr jüngster Enkel beantworten können! War sie jetzt dümmer als ein Zehnjähriger? War sie überhaupt noch zu etwas gut, wenn sie nicht mehr wusste, wohin die Ziffern einer Uhr gehören? Was taugt ein Mensch, der drei einfache Wörter nicht länger als eine Minute behalten kann? Oder keine Ahnung hat, wer Bundeskanzler ist?

Danach fragte später der nette Herr Doktor, während er die Fragebögen durchblätterte, und als die Mutter noch nach einer Antwort suchte, gab er lächelnd zu, dass das eine gemeine Frage sei. Wir hätten ja gerade eine Bundeskanzlerin, Betonung auf «in», nicht wahr? Beschämt nickte die alte Dame und wurde auf dem schicken weissen Patientenstuhl vor seinem Schreibtisch immer kleiner, als sie auch Wochentag, Monat und Jahr nicht nennen konnte. Kein Zweifel, die Vermutung bestätigte sich, dass Heike Weber deutliche Symptome einer Alzheimer-Erkrankung zeigt.

Auf die Frage, was dagegen helfen könne, folgte ein Achselzucken.

«Leider nicht viel. Ich geb Ihnen Tabletten mit. Vielleicht sollten Sie eine Selbsthilfegruppe für Ihre Mutter suchen. Kann aber sein, dass es dazu noch zu früh ist.» Mehr wollte oder konnte der Arzt offensichtlich nicht über den Verlauf der Krankheit sagen. Danach standen beide draussen vor der schicken weissen Praxis, ratlos, die Mutter den Tränen nahe und die Tochter auch.

Immerhin, ein Gutes konnten Mutter und Tochter vom Besuch bei Herrn Doktor Fromal mitnehmen: Vater Weber akzeptierte fortan, dass es nicht nur altersbedingte Aussetzer waren, die seine Frau bekümmerten. Er gestand ein, dass er es längst hätte merken müssen, weil sein alter Freund Andreas ähnliche Symptome gezeigt habe.

Zum Beispiel, als sie beide die Hecke vor Andreas’ Haus hatten schneiden wollen. Der Freund sei reingegangen, um die elektrische Heckenschere anzuschliessen, erzählte der Vater, blieb ewig im Haus. Und als er rauskam, hatte er den Gartenschlauch in der Hand. So etwas sei öfter passiert, der Freundschaft habe es nicht geschadet. Als jetzt Heike seine Hilfe und Nachsicht brauchte, zeigte sich, dass die Bindung zwischen beiden sogar stärker und enger wurde. Es lag sicher auch daran, dass beide von Jugend an unzertrennlich waren und sie so lieb und ehrlich blieb, wie man sie seit eh und je kannte und mochte.

Nichts anderes hatten Kinder und Enkel erwartet, dennoch war Tochter Paula überrascht und gerührt, als ihr Vater eines Tages mit Zettel und Stift in der Hand vor ihr stand und bat, das Rezept für Kartoffelsalat zu verraten. Ob Kochen und Waschen, Bettenbeziehen und Einkaufen: Alles, was Jahrzehnte ihre Sache gewesen war, übernahm jetzt er. Bei allem, was er tat, stand sie neben ihm, ging Hand in Hand mit ihm zu den Kindern, zum Bäcker und Apotheker, durch Weinberge und Streuobstwiesen. Und zu Bett.
«Das war ein schöner Tag heut!», sagte sie dann jeden Abend vorm Einschlafen.

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Dieser Beitrag ist Teil des ersten Kapitels aus Michael Schmieders Buch «Dement, aber nicht vergessen». Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung.