«Wir müssen nicht jedes Wort verstehen, um in Beziehung zu treten» - demenzjournal.com

Validation

«Wir müssen nicht jedes Wort verstehen, um in Beziehung zu treten»

Aktiv zuhören und dem anderem Menschen zeigen, dass wir ganz bei ihm sind: Das ist der Schlüssel zu gelungener Verständigung. Daniel Kellenberger

Nicht korrigieren und erklären, sondern die Wahrheit des Menschen mit Demenz für gültig erklären. Das ist der Grundsatz der Validation. Wie einfühlende Kommunikation gelingt, verrät Andrea Mühlegg-Weibel.

Stellen Sie sich vor, Sie besuchen Ihre betagte Mutter im Pflegeheim. Ihr Leben ist schon sehr ausgefüllt mit Beruf, Kindern, Partner, Haus, Garten und Hund. Trotzdem nehmen Sie sich noch mindestens zweimal die Woche Zeit für einen kurzen Besuch.

Seit einiger Zeit beschwert sich Ihre Mutter immer öfter über unfreundliches Personal, gestohlene Zeitungen, Probleme mit dem Essen oder fehlende Aktivitäten. Bei Ihrem heutigen Besuch schimpft sie: «Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Nie kommt jemand! Da kannst du halb tot am Boden liegen, und niemand würde es merken.» Im ersten Moment sind Sie verärgert oder betroffen über die Anschuldigungen und versuchen sich zu verteidigen. Ihre Erklärungen verstören Ihre Mutter aber nur noch mehr.

In solchen Situationen kann einfühlende Kommunikation sehr entlastend sein. Naomi Feil, Begründerin dieser Kommunikationsmethode, sagt: «‹Validation› bedeutet ‹für gültig erklären›».

Wir respektieren die Realität unseres Gegenübers und reagieren mit Wertschätzung und Empathie.

Das heisst, wir versuchen uns in die Perspektive des andern Menschen zu versetzen, um zu verstehen, was er uns tatsächlich mitteilen will. Menschen mit kognitiven Einschränkungen drücken ihre Bedürfnisse und Ängste oft mit andern Worten aus. Deshalb hilft nachfragen, bestätigen, umformulieren, sich ganz einlassen auf die andere Person.

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Validation

Validation ist eine Haltung und Kommunikationsform im Umgang mit Menschen mit Demenz. Wer validiert, »geht in den Schuhen des anderen«, ist empathisch und … weiterlesen

Wir müssen nicht jedes Wort verstehen, um in Beziehung zu treten. Hilfreich ist das Lesen der nonverbalen Signale. Indem wir ganz präsent sind, Blickkontakt aufnehmen, vielleicht mit einer leichten Berührung die Aufmerksamkeit wecken. Wir hören aktiv zu und zeigen dem anderem Menschen mit unserer Mimik, Gestik und Körperhaltung, dass wir ganz bei ihm sind.

Wenn es gelingt, den Rhythmus unserer Gesprächspartner:innen aufzunehmen, werden Verständnis und Austausch von Emotionen leichter möglich.

Zurück zum Beispiel.
Sie antworten: «Ja, wenn man nicht schlafen kann, erscheint die Nacht endlos.» Validation ist verallgemeinern, bestätigen und umformulieren.
Sie sagt: «Ja, und nie kommt jemand.»
Validieren bedeutet auch, Erinnerungen zu wecken. «Es kann Angst machen, wenn man so alleine ist. Kennst du das von früher?»
«Ja, ich habe mich nie wohlgefühlt, wenn ich alleine im grossen Haus war. Deshalb bin ich froh, jetzt hier zu sein.»

Das Beispiel zeigt, wie das Respektieren und Einlassen auf die andere Realität für beide Seiten entlastend sein kann. Wir müssen uns und die Mitarbeiter:innen der Institution nicht erklären oder verteidigen. Wir bleiben ganz bei der Person – so kann sie ihre Gefühle ausdrücken.

«Information über Demenz bleibt zentral demenzjournal.com leistet einen wichtigen Beitrag dazu.»

Felix Gutzwiller, Sozial- und Präventivmedinziner, alt-Ständerat

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Indem wir die Aussagen des Betroffenen einordnen, verstehen wir, dass durch die Vergesslichkeit vermutlich oft eine Leere entsteht, die Tage und Nächte endlos erscheinen lässt. Dadurch entsteht das Gefühl von Langeweile, Angst und Einsamkeit. Diese Empfindungen können nicht mehr eigenständig verarbeitet werden – Menschen mit Demenz sind auf einfühlende Zuwendung angewiesen.

Ein anderer Grund für beschuldigendes Verhalten kann die Angst vor Kontrollverlust sein.

Auch in diesem Fall ist die einfühlende Kommunikation die Basis der Beziehungsgestaltung. Verlustängste und Stress können reduziert werden, und dies führt zu mehr Sicherheit und letztlich zu mehr Lebensqualität. Der Volksmund sagt: «Geteiltes Leid ist halbes Leid.»

Darauf baut die einfühlende Kommunikation auf. Betagte Menschen, die Heimweh haben, sich verloren oder einsam fühlen oder Angst haben vor dem Sterben, erwarten keine Lösungen oder Ratschläge von uns. Sie wünschen sich zugewandte Zuhörer:innen. Sie wünschen sich Mitmenschen, die da sind.

Trotz Einschränkungen möchten betagte Menschen nicht zur Last fallen und eine sinngebende Aufgabe haben. Manchmal frage ich eine:n Bewohner:in: «Wie schaffen Sie es, mit all den Veränderungen und Verlusten des Alters zurechtzukommen?» – «Man muss es eben so nehmen, wie es kommt!», lautet eine Antwort, die ich oft höre.

Diese Aussage berührt mich immer wieder. Darin steckt eine tiefe Weisheit und Gelassenheit: Das Leben annehmen, wie es kommt. Jüngere Menschen tun sich schwer damit. Und gerade deshalb macht es Sinn, wenn wir alte Menschen nach ihren Lebensweisheiten fragen und von ihnen lernen wollen. Gerne erzählen sie uns aus früheren Zeiten, die wir nicht erlebt haben.

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Im Pflegeheim mit fremden Menschen zusammenleben zu müssen, löst bei vielen Bewohnern eine Sehnsucht nach dem geschützten Dasein zu Hause aus. Besonders ausgeprägt … weiterlesen

Menschen mit Demenz können sich oft nicht erinnern, was sie heute gegessen haben oder wer gestern zu Besuch war. Aber sie haben Erfahrungen und Weisheiten, die sie gern mit uns teilen – dadurch erhält ihr Dasein einen Sinn. Für solche Geschenke bedanke ich mich: «Es ist sehr eindrücklich, wie Sie Ihr Leben meistern. Herzlichen Dank, dass Sie mir davon erzählt haben. Von Ihnen kann ich viel lernen.»

Diese Begegnungen sind die Sternstunden unserer Arbeit.

Wenn es uns gelingt, die Gefühlsebene anzusprechen und die emotionalen Bedürfnisse zu erkennen, stärken wir unser Gegenüber und vermitteln ihm Verständnis, Würde, Wertschätzung und Sicherheit. Dieser Boden macht es möglich, auch in schwierigen Momenten Zugang zu Menschen mit Demenz zu finden.


Dieser Beitrag stammt aus dem Sammelband «demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven», herausgegeben von Dr. Irene Bopp-Kistler und erschienen bei rüffer & rub. Wir danken dem Verlag für die Gelegenheit zur Veröffentlichung auf unserer Plattform.
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