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Demenz mit 28

Abschied vom eigenen Kind

Bianca mit Bruder Dennis und Hund Lucky

Bianca mit Bruder Dennis und Hund Lucky: Trotz schwierigem Schicksal lässt sich das Dreamteam nicht unterkriegen. privat

Bianca kam schwerkrank zur Welt. Trotz vielen Einschränkungen ist sie zu einem lebensfrohen Kind herangewachsen, das jedoch auf Pflege angewiesen ist. Mitte Zwanzig erkrankte sie an Alzheimer und FTD. Was bedeutet es, wenn nicht ein Elternteil, sondern das Kind Demenz hat?

«Du verschwendest dein Leben», wurde Susanne Schmidt* gesagt. Und eine damals enge Freundin riet ihr, ihre schwerkranke Tochter in eine Einrichtung zu geben, wenn sie die Freundschaft retten wolle. Susanne entschied sich ohne Zögern für ihre Tochter.

Tochter Bianca, heute 28 Jahre alt, braucht intensive Pflege und Betreuung. Sie ist mit einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen, hatte bei ihrer Geburt Niereninsuffizienz und eine Lungenentzündung. Mehrere Gendefekte schränken sie geistig ein. Im jungen Erwachsenenalter kamen unter anderem Psychosen, Sozialphobie und Demenzsymptome hinzu.

Das prägt den Alltag der Familie Schmidt. Ihr Leben dreht sich um Bianca. Urlaube sind nicht möglich, alles muss gut organisiert sein. Doch der Schicksalsschlag hat die Patchwork-Familie noch enger zusammengeschweisst. Susanne und Sohn Dennis (31) sind als Pfleger:innen eingetragen und teilen sich die Aufgaben. Susannes zweiter Ehemann Klaus unterstützt, wo er kann. Obwohl er nicht der leibliche Vater ist – für Bianca und Dennis ist er der «Papa», der sie so liebt wie seine eigenen Kinder, ohne Unterschied.

Aggressivität, Halluzinationen, Vergesslichkeit

An jenen Tag vor vier Jahren, der ihr Leben auf den Kopf stellte, erinnert sich Susanne gut. Sie sei von der Arbeit nach Hause gekommen und habe Dennis mit einem blauen Auge in der Ecke kauernd gefunden. Bianca habe ihn geschlagen, erklärte er.

Dass Bianca phasenweise aggressiv war, hatte die Familie schon länger beobachtet. Doch nun ist es eskaliert.

Nur knapp kann Susanne ihre Tochter davon abhalten, auch gegen sie die Hand zu erheben. «Aber die Oma, die hat das doch gesagt!», rechtfertigt sich Bianca. Der Hausarzt vermutet eine Verstimmung und verschreibt ein Antidepressivum. Rätselhaft bleibt Biancas Erklärung für ihren Ausbruch. Denn die geliebte Oma, Susannes erste Schwiegermutter, ist seit Jahren tot.

Als die Aggressionen bleiben, empfiehlt der Hausarzt eine Abklärung in der neuropsychiatrischen Klinik Bedburg-Hau. Einen Tag vor dem Termin zeigt sich, dass der Besuch dringend nötig ist. Susanne hört Bianca in ihrem Zimmer Nintendo spielen und reden: «Ich habe dir doch gesagt, wie das geht, du musst da drücken!» Als sie ins Zimmer kommt und ihre Tochter fragt, mit wem sie spreche, deutet Bianca auf den leeren Sessel: «Guck doch mal, die Oma!» Susanne kriegt es mit der Angst zu tun. In Bedburg-Hau dann die Diagnose: Schizophrenie.

Vor vier Jahren änderte sich das Leben der Schmidts radikal.privat

Biancas aufkommende Vergesslichkeit führt Susanne zunächst auf die Antipsychotika zurück. Doch Tests bringen Klarheit: Bianca hat eine Mischform aus Alzheimer und Frontotemporaler Demenz.

Eine Demenz ist bei Menschen mit geistiger Behinderung nicht selten. Ihr Erkrankungsrisiko ist fünfmal höher. Menschen mit Down-Syndrom sind besonders häufig betroffen: Zwischen dem 60. und 69. Lebensjahr erkrankt jeder Zweite an Alzheimer. Herkömmliche Diagnosewerkzeuge wie der MMS-Test («Uhrentest») sind oft ungeeignet. Stattdessen werden andere neuropsychiatrische Tests durchgeführt und das Verhalten im Alltag beobachtet.

Was Hilfsangebote und Pflegeeinrichtungen anbelangt, fallen demenzkranke Menschen mit Behinderung oft zwischen Stühle und Bänke.

Sie benötigen die Pflege, die eine Demenz mit sich bringt, erleben in Pflegeheimen aber nicht die Teilhabe, wie sie Einrichtungen für geistig behinderte Menschen fördern. Ausserdem sind sie meist jünger als ‹typische› Alzheimerpatient:innen.

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Symptome

Eine Demenz vermindert Hirnleistungen wie erinnern, sprechen, rechnen, erkennen, bewegen und beurteilen. Die Erkrankung kann auch Verhalten und Gemüt verändern. weiterlesen

Eine Entscheidung fürs Leben

Ein Kind mit Demenz zu haben, das ist schlimmer, als ein Elternteil an diese Krankheit zu verlieren. «Bei deinem Vater rechnest du damit, dass er irgendwann stirbt. Aber Bianca hätte noch 50 Jahre vor sich.» Susanne Schmidt, die selbst in einem Altenheim arbeitet, wusste nach der Diagnose, was auf sie zukommen würde. Dennoch oder gerade deshalb entschied sie sich, Bianca zuhause zu betreuen und jeden einzelnen Moment mit ihr zu geniessen.

Nach der Diagnose haderte Susanne mit «dem da oben». Beim Gassigehen mit Hund Lucky stellte sie sich auf einen Acker und schrie. Fragte Ihn, was der ganze Mist eigentlich sollte. Und dann, Wochen später, akzeptierte sie die neuerliche Wendung.

«Jammern bringt nichts. Probleme sind da, um gelöst zu werden.» Das ist Susannes Mantra.

Seither umsorgt sie Bianca, will ihr nichts abschlagen. «Sie hat kleine Wünsche.» Eine neue CD von Benjamin Blümchen oder Bettwäsche von Bibi Blocksberg. Alles erfüllbar. Auch Dennis, der seine Schwester von Herzen liebt, kann nicht Nein sagen.

Er war am Anfang der Abgeklärte. Zweieinhalb Jahre später fiel er in ein tiefes Loch. Depression mit einer Angst- und Panikstörung. «Der Psychiater vermutet, dass Dennis erst dann bewusst geworden ist, dass seine kleine Schwester sterben wird», erzählt Susanne. Jetzt ist Dennis medikamentös gut eingestellt und geht offen mit seiner Depression um. Um möglichst viel Zeit mit seiner Schwester zu verbringen, kümmert er sich um die Körperpflege, geht mit ihr spazieren und ist für sie da. Mit ihrer Schwester, die in Berlin wohnt und immer wieder zu Besuch kommt, macht Bianca vor allem Mädelssachen: shoppen oder gemeinsam schwimmen gehen.

Der leibliche Vater hat die Familie vor vielen Jahren verlassen. Schon damals leugnete er Biancas Behinderung. Inzwischen besteht kein Kontakt mehr. Umso glücklicher ist Susanne, dass sie in ihrem jetzigen Mann einen wahren Partner gefunden hat. «Jeder andere wäre davongelaufen», vermutet Susanne. Nicht so Klaus. Zwei Wochen nach dem ersten Kennenlernen machte ihm Susanne einen Antrag. Acht Monate später heirateten sie.

«Nirgends anderswo wird so viel Wert auf differenzierte und anspruchsvolle Berichterstattung gelegt, als auf demenzjournal.com. Das Niveau ist stets hoch, dabei aber nicht abgehoben.»

Raphael Schönborn, Geschäftsführer Promenz, Wien

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Das ist jetzt neun Jahre her. Klaus liebt ihre Kinder wie seine eigenen – mit denen sich Dennis und Bianca übrigens grossartig verstehen. Vor Biancas Sozialphobie gingen die vier oft gemeinsam tanzen.

Jetzt geht es ruhiger zu und her. Wenn nur wenige Autos auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt stehen, begleitet Bianca ihre Mutter beim Einkaufen. Ausflüge oder gar Ferien sind nicht möglich. Eine geplante Reise an die Nordsee musste Susanne wieder absagen, weil Bianca eine Panikattacke hatte. Aber es gibt ja auch in der Nähe schöne Ziele. Die Hinsbecker Höhen zum Beispiel, wo man stundenlang durch Auen wandern kann. Flexibilität und Ressourcenorientierung lautet die Zauberformel.

«Bei uns gibt es kein Muss», sagt Susanne. «Wenn Bianca mir im Haushalt oder beim Kochen helfen will, darf sie das, sie muss aber nicht.» Auch die Reihenfolge von Essen, Körperpflege, TV und im Garten spielen ist flexibel. «Wenn wir uns nach Biancas Bedürfnissen richten, ist es für alle einfacher.»

Bei ihrem grossen Bruder geht es ihr gut: Bianca hilft Dennis beim Grillaufbauen.privat

Möglichst stressfrei soll es sein. Deshalb kommt die Friseurin zu Bianca nach Hause. Susanne nutzt die Zeit zum Ausspannen, plaudert mit einer Freundin oder entspannt in der Pediküre. Braucht sie eine Pause, ist Dennis da – und umgekehrt. Sind beide verhindert, springt Klaus ein. Nachbarn und Susannes Arbeitergeber haben grosses Verständnis für ihre Situation. Gibt es einen Notfall, darf Susanne bei der Arbeit auch mal alles stehen und liegen lassen. Oder sie bringt Bianca mit ins Altenheim.

Auch Hund Lucky hilft mit. «Er ist kein Therapiehund, aber er benimmt sich so.» Der achtjährige Australian Shepherd passt auf Bianca auf. Er schläft vor ihrem Bett, bellt, wenn sie nachts das Haus verlassen will, und setzt sich ihr dann demonstrativ in den Weg. Obwohl Bianca wegen ihrer Gaumensegelschwäche undeutlich spricht, versteht er sie.

Bäume anschreien hilft

Immer wieder hat Susanne versucht, Bianca für Therapien zu motivieren. Ohne Erfolg. Nur die jährlichen CT-Untersuchungen müssen halt sein, um ihren Hirntumor zu überwachen; mit Dennis an ihrer Seite klappt das ganz gut. Angebote für Menschen mit Demenz aber würden Bianca nichts nützen, «da würde sie nicht hingehen». Susanne selbst wünscht sich vor allem Austausch. Bislang hat sie niemanden gefunden, der in einer vergleichbaren Situation steckt.

Austauschen kann sie sich zumindest mit ihrer besten Freundin Enzina, die ebenfalls eine behinderte Tochter in Biancas Alter hat. Täglich skypet Susanne mit ihrer zweiten Tochter, die mit ihrer Familie in Berlin lebt. Auch die Gespräche mit ihrem Psychologen helfen. Und wenn es unerträglich wird: «Geh in den Wald einen Baum anschreien – es hilft!»

Dennis vertraut sich seinen Freunden an. Sie wohnen in anderen Städten, sind aber täglich für ihn da, wenn sie gemeinsam gamen.

Manchen fällt es schwer zu verstehen, warum Dennis seine Schwester pflegt.

Dass er es aus Liebe tut, ist einigen nicht Grund genug. «Ich könnte das nicht», kommt dann.

Susanne, die bereits ihren Vater und Schwiegervater gepflegt hat, ärgert sich über solche Sätze. «Als mir jemand sagte, ich würde mein Leben wegwerfen, dachte ich mir: Du hast keine Ahnung von Leben.» Genauso wenig wünscht sie sich Bewunderung dafür, dass sie ihre Tochter pflegt. «Akzeptiert es einfach, dass ich das mache.»

Dass Bianca immer schon ein besonderes Kind war, hilft dabei, auch diese Besonderheit zu akzeptieren. Trotzdem kommt es immer wieder zu Situationen, die schwer zu verkraften sind. Zum Beispiel, als Bianca Enzina zunächst nicht erkennt. Oder als sie ihre Mutter fragt: «Was ist, wenn ich euch vergesse?» Susanne muss schlucken, nimmt ihr Kind in den Arm und antwortet: «Dann ist es so. Aber wir wissen, wer du bist!» – «Ich bin Bianca.» – «Genau!»

Probleme sind da, um gelöst zu werden, findet Susanne.privat

Die Zukunft anzunehmen, ohne sich von ihr lähmen zu lassen, das ist die Kunst. «Wir können es nicht ändern. Wir müssen uns damit abfinden und machen einfach das Beste draus!»

Das Beste draus machen, dazu gehören die alltäglichen Momente des Glücks. Wenn Bianca, die sehr gern kuschelt, ihre Mama trotz Teilautismus spontan in den Arm nimmt. Wenn sie sich selbständig ein Butterbrot schmiert. Oder wenn es ihr gelingt, Hund Lucky ein Kommando zu geben. «Man braucht keine Hunderttausende von Euro, um glücklich zu sein», sagt Susanne. «Wenn mein Kind lächelt, dann geht mein Herz auf.»


*Nachname von der Redaktion geändert.