Gefühlte Ungerechtigkeit - demenzjournal.com

Papa hat Demenz (6)

Gefühlte Ungerechtigkeit

Wenn Lena darüber nachdenkt, was mit ihrem Vater passiert ist, kommt unausweichlich die Frage nach dem «Warum». privat

Zwischen Humor und Trauer bewegt sich Schülerin Lena, wenn sie von ihrem Vater erzählt. Diesmal verrät sie ihre dunkelsten Gedanken und kommt zum Schluss: Es ist okay, überfordert zu sein.

Von Lena Stühlinger

Witze zu machen über meine momentane Situation mit meinem Papa ist für mich schon fast zur Sucht geworden. Wenn meine Freundinnen über ihre Väter, übers Vergessen, über Krankheiten, über Kochen, übers Anziehen oder Duschen reden, fällt mir fast immer ein dummer Kommentar über die Demenz meines Vaters ein. Oder eine lustige Geschichte, wie zum Beispiel das Ei-Mysterium.

Das Ei-Mysterium

Das Ei-Mysterium ist eine Geschichte aus der Weihnachtszeit. Meine Familie und ich backten gerade Weihnachtsplätzchen und alle waren abgelenkt. Als wir wieder konzentriert bei der Arbeit waren, fiel uns auf, dass in der Küche ein Ei fehlte.

Erlebnisbericht

Als Lena 15 war, zeigte ihr Vater erste Anzeichen einer Frontotemporalen Demenz. Was das bedeutet, hat sie in ihrem sehr persönlichen Erlebnisbericht festgehalten. Wer sich mit Lena austauschen möchte, darf sie per Mail kontaktieren.

Es waren keine Katzen da und niemand von uns hatte das Ei genommen. Wir alle vermuteten natürlich sofort, dass es Papa war.

Er nimmt oft Dinge aus der Küche. Die nimmt er dann entweder einfach mit auf Wanderschaft, isst sie respektive steckt sie zumindest mal in den Mund oder legt sie an seltsame Orte. Besteck im Badezimmer, ein Joghurtbecher in der Toilette und so weiter.

Doch Papa hatte das Ei nicht im Mund, nicht in der Hand, auch keine Spuren von Ei auf den Kleidern. Wir suchten das ganze Haus ab. Nur vor der Treppe lag ein bisschen Eigelb, aber keine Schale.

Hätte Papa in das Ei gebissen, hätte er Ei an den Kleidern oder Fingern gehabt. Wenn eine Katze das Ei geklaut hätte, wäre das Ei schon in der Küche kaputt gegangen. Was hätte sonst noch passieren können? Bis heute ist das Ei nicht gefunden worden.

Seht ihr? Ich lasse keine Gelegenheit aus, eine lustige Geschichte über Papa zu erzählen. Naja, ich nehme an, ich darf das. Es ist eine Art Therapie.

Unsere Katze, der potenzielle Ei-Diebprivat

Schock meines Lebens

Um Papas heutigen Zustand zu verdeutlichen und weil es einfach eine krasse Geschichte ist, erzähle ich euch, was an einem ruhigen Abend im Januar passiert ist.

Mama, Papa und ich waren im Wohnzimmer. Es war etwa 19 Uhr. Mama und ich bereiteten das Abendessen zu und gaben Papa eine Schüssel mit Fruchtstückchen, damit er beschäftigt war, solange wir in der Küche werkelten.

Er sass also mit seiner Schüssel am Tisch und Mama und ich waren in der Küche. Als Mama kurz zu Papa an den Tisch ging, um die Wasserflasche abzustellen, bemerkte sie, dass Papas Mund übervoll mit Früchten war. Er hatte schon länger die Angewohnheit, einfach Essen in den Mund zu stopfen, aber diesmal hatte er wirklich übertrieben. Sein Mund war randvoll, er konnte ihn nicht mal mehr zu machen.

Mama holte mit dem Finger ein paar Apfelstücken und zerkaute Mandarinen aus seinem Mund. Es kamen immer mehr nach und es sah immer ekliger aus. Ich lachte und drehte mich um, weil dieser fruchtige Schleim einfach zu eklig war.

Erst als Papa anfing, komische Geräusche zu machen, bemerkten Mama und ich, wie schlimm es wirklich war.

Immer und immer wieder schnappte Papa nach Luft und Mama holte immer mehr aus seinem Mund heraus. Als so gut wie alles draussen war, japste Papa immer noch. Langsam wurde er bleich. Mama versuchte nach hinten zu greifen, in Papas Mund, um alles herauszubekommen. Sie hatte ihre ganze Hand in seinem Mund. Da war aber nichts mehr und trotzdem wurde er immer bleicher und japste.

Ich erinnerte mich aus dem Nothelferkurs an den Heimlich-Griff. Ich stellte mich hinter Papa, legte meine Arme um seinen Bauch, hielt meine Faust mit meiner anderen Hand fest und zog sie nach hinten. Mehrmals machte ich das, doch nichts passierte. Papa japste immer noch. Mama versuchte ihn zum Erbrechen zu bringen, indem sie ihre Hand nochmals in seinen Hals drückte – nichts.

Ich versuchte es auch noch einmal, meine ganze Faust steckte in seinem Hals – nichts. Papa würgte nicht einmal. Er japste nur immer weiter. Als er schon ganz weiss war, und seine Haut um die Lippen blau wurde, stellten wir ihn auf, klopften ihm auf den Rücken, versuchten nochmal den Heimlich-Griff und ihn zum Erbrechen zu bringen – nichts.

In diesem Moment war ich davon überzeugt, dass Papa hier und jetzt vor unseren Augen ersticken würde.

Wir wurden immer verzweifelter, versuchten alles, doch nichts half. Aus Papas Mund kam schon Blut, weil wir mit unseren Fingernägeln so tief in seinem Hals waren und ihn gekratzt haben. Ich ging zum Telefon, um den Krankenwagen zu rufen. Obwohl ich wusste, dass der Krankenwagen viel zu spät kommen würde und Papa schon vorher erstickt wäre, griff ich zum Telefon.

Gerade als ich die Nummer eingeben wollte, lief Papa los. Und endlich – nach so vielen schrecklichen Minuten – hörten wir, wie er einatmete. Ich war so erleichtert, genau wie Mama. Mamas Hände, Papas Hände, meine Hände und Knie zitterten im Einklang. Es war kurz still, bis Mama sagte, dass alles gut sei, «er atmet».

In diesem Moment war ich einfach nur froh. Aber nach ein paar Minuten wurde mir klar, dass ich mich kurz zuvor hier an diesem Küchentisch schon innerlich von meinem Papa verabschiedet hatte, weil ich wirklich dachte, dass er stirbt. So etwas Krasses habe ich noch nie erlebt. Ich will es definitiv nie mehr erleben.

Gefühlte Ungerechtigkeit

Was mich momentan am meisten belastet, ist, dass immer jemand bei Papa sein muss. Dadurch wird es ganz schön kompliziert, wenn jemand irgendwohin muss und der andere aber auch und wir niemanden haben, der sich um Papa kümmert. Da kann es schon mal dazu kommen, dass jemand eine Verabredung absagen muss.

Wenn ich etwas absagen muss oder es einfach kompliziert ist, nervt mich das. Warum haben wir diese Last? Andere Familien haben dieses Problem nicht, können es sich nicht einmal vorstellen, es zu haben. Wenn wir als Familie dann darüber diskutieren, wie wir es machen, damit es für alle fair ist, werde ich oft wütend. Es fällt mir schwer, mir dann vor Augen zu führen, dass die anderen auch nichts dafürkönnen.

Meine dunkelsten Gedanken

Zum Schluss erzähle ich euch noch, damit ihr euch besser fühlt, falls ihr das auch schon mal gedacht habt, von meinen düstersten Gedanken.

Kurz bevor sich die ersten Anzeichen von Papas Demenz zeigten, hatte er einen kleinen Herzinfarkt. Das war damals nicht weiter schlimm, man machte sich nur Sorgen. Vor allem Papa selbst hatte Angst.

Heute frage ich mich manchmal, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn Papa bei diesem Herzinfarkt einfach gestorben wäre.

Krasser Gedanke, ich weiss. Aber wäre es so gewesen, hätte ich meinen Papa noch genauso und nur so, wie er immer war, in Erinnerung. Ich hätte mich nur an den richtigen Papa erinnern können und nicht an den Papa, zu dem er jetzt geworden ist.

All die Tage, an denen ich Papa nicht leiden konnte und ich ihn angeschrien habe, wären mir und ihm erspart geblieben. Unsere Familie hätte einfach trauern können und hätte sich nicht mit der jetzigen Situation herumschlagen müssen. Es wäre einfacher gewesen.

Wie mit Schuldgefühlen umgehen?

Begleitung

«Im Prozess der Verarbeitung sind Schuldgefühle zentral»

Esther Ludwig und Hansruedi Moor begleiten Angehörige von Menschen mit Demenz auf dem Weg des Abschiednehmens. Im Gespräch berichten sie über Schuldgefühle, Sinnhaftigkeit, … weiterlesen

Als ich mich für diese Arbeit über die Krankheit informiert habe, las ich, dass FTD-Betroffene eine Lebenserwartung von 10 bis 15 Jahren haben. Es kann aber auch gut 20 Jahre dauern. Als ich das las, rechnete ich sofort nach. Seit etwa fünf Jahren kennen wir die Diagnose. Dann hätte er im Normalfall noch etwa 10 Jahre. Noch so viele, noch so viele. Das dachte ich mir. Was, wenn bei ihm aber die 20 Jahre eintreffen? Dann wäre es noch viel länger!

Es macht mir Angst, dass Papa vielleicht noch so lange leben könnte. Und bereitet mir Schuldgefühle, dass ich Angst davor habe.

Ich fühle mich schlecht dabei es aufzuschreiben, aber ich wünsche mir, dass Papa in ein paar Jahren abtreten darf. Noch bevor er von Maschinen ernährt und beatmet werden muss. Er soll in Ruhe sterben dürfen, nach allem was er schon durchmachen musste.

Es ist in Ordnung, überfordert zu sein

Wenn Papa einmal sterben wird, bin ich mir sicher, dass ich wissen werde, dass ich es gut gemacht habe. Ich habe Papa meine Zuneigung gezeigt, auch als er nicht mehr Papa war. Habe weitergelebt und einen Weg gefunden, wie es für mich funktioniert und wie ich damit umgehen kann. Ich konnte akzeptieren, dass es meinen früheren Papa nicht mehr gibt und dass diese Person jetzt mein Papa ist.

Auch dass ich ihn angeschrien habe, dass ich Gedanken wie die vorher geschilderten hatte, dass er mir peinlich war in der Öffentlichkeit – das werde ich mir verzeihen können, denn es ist normal, dass man nicht von Anfang an mit der Situation umgehen kann. Es ist in Ordnung, dass man mal überfordert ist und Dinge tut, die nicht nett sind. Es ist auch gleichgültig, was andere über einen denken, solange man sich wohl und gut fühlt im Umgang mit der betroffenen Person.

Mir ist es, wie ihr vielleicht schon gemerkt habt, wichtig klarzumachen, dass man andere nicht bewerten kann, was den Umgang mit erkrankten Menschen angeht. Die Arten, wie man damit umgehen kann, sind unendlich und es gibt fast immer für fast jede Handlung im Umgang mit den Erkrankten einen Grund. Schlagen bleibt natürlich tabu. Aber abgesehen davon: Solange es sich für einen gut anfühlt, macht man alles «richtig».


Hinweis der Redaktion: Am 31.12.2021 ist Lenas Vater nach einem Krankenhausaufenthalt verstorben.